Liebe am Nachmittag

Zum Tod des französischen Filmemachers Éric Rohmer

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

„Ich werde nicht alles sagen in dieser Geschichte, die übrigens keine Geschichte ist, sondern eine Reihe, eine Auswahl sehr unbedeutender Ereignisse, Zufälle und Zusammentreffen, wie sie im Leben mehr oder minder häufig sind und die keinen anderen Sinn haben als den, den es mir gefiel, ihnen zu geben. Dabei werde ich mich an eine bestimmte Reihenfolge, an eine bestimmte Art und Weise halten, in der die Dinge sich zutrugen, an einen bestimmten Ausdruck, durch den sie sich ankündigten. Meine Gefühle, meine Gedanken und Glaubensüberzeugungen stelle ich nicht in Rechnung, selbst wenn hier ausführlich von ihnen die Rede ist. Sie stehen für sich, sind weder zu teilen noch habe ich sie zu rechtfertigen.“

Diese Aussage des Ich-Erzählers zu Beginn von Éric Rohmers Erzählung „Meine Nacht bei Maud“, die er Mitte der 1950er-Jahre geschrieben und Ende der 1960er-Jahre verfilmt hat, könnte bei genauer Betrachtung auch für alle anderen Protagonisten beziehungsweise Werke des französischen Filmemachers gelten. Denn wodurch zeichnen sich die über 20 Spielfilme des im Frühjahr 1920 in Tulle oder Nancy als Jean-Marie Maurice Schérer geborenen Regisseurs, Essayisten und Kritikers aus? Auf den ersten Blick haben vor allem die Filme seiner drei Zyklen „Moralische Erzählungen“, „Komödien und Sprichwörter“ und die „Erzählungen der vier Jahreszeiten“ etwas Dokumentarisches an sich. Es scheint anfangs so, als hätte sich Rohmer tatsächlich „eine Reihe, eine Auswahl sehr unbedeutender Ereignisse, Zufälle und Zusammentreffen, wie sie im Leben mehr oder minder häufig sind“, zu eigen gemacht und verfilmt.

Dass dem nicht so ist, dass es sich bei seinen Filmen wie etwa „Die Sammlerin“ (1967), „Claires Knie“ (1970) und „Liebe am Nachmittag“ (1972), „Die Frau des Fliegers“ (1981), „Pauline am Strand“ (1983) und „Der Freund meiner Freundin“ (1987) nicht um „Zufallsprodukte“ handelt, sondern im Gegenteil um genau durchdachte und -komponierte Werke, die nur scheinbar Nebensächliches thematisieren, wird dem Zuschauer erst dann bewusst, wenn er sich ganz auf sie, auf Rohmer und seinen Kosmos, den er sich – ähnlich wie sein Kollege François Truffaut (1932-1984) – mit seinen Filmen schuf, einlässt.

Rohmers Filme umkreisen, mit Ausnahme etwa seines Debüts „Im Zeichen des Löwen“ (1959), das bei Kritik wie Publikum durchfiel, allesamt das Thema der Liebe mit ihren Irrungen und Wirrungen. Immer wieder variiert der Regisseur in seinen insgesamt handlungsarmen, dafür aber umso dialogreicheren Filmen die Gefühlslagen seiner Figuren, wobei in seinen späteren Jahren auffälligerweise eher Frauen die Protagonisten und auch die stärkeren Charaktere darstellen. Liebe und Leidenschaft, allgemein menschliche Emotionen und Beziehungen werden bei Rohmer zu einer Art intellektueller Herausforderung, vor die die Figuren gestellt werden und der sie sich stellen müssen. Jedoch wird am Ende kein Urteil über ihre Handlungsweise gefällt oder der eine dem anderen Charakter vorgezogen. Rohmers Filme erscheinen daher auf ihre Art „moralisch“, ohne zu moralisieren. Dem Zuschauer bleibt es selbst überlassen, über die Verhaltensweisen der Protagonisten zu urteilen.

Ähnlich wie bei Truffaut spielt bei der Entstehung und Entwicklung seiner Filme auch für Rohmer die Literatur eine entscheidende Rolle. Das ist vor allem biografisch bedingt. Nach dem Studium der klassischen Philologie arbeitet Schérer, wie er sich damals noch nennt, von 1944 bis 1955 als Lehrer in Paris und Vierzon. 1946 publiziert er unter dem Pseudonym Gilbert Cordier seinen einzigen Roman „La Maison d’Elisabeth“ (deutsch „Elisabeth“ 2003) und beginnt Ende der 1940er-Jahre, Filmkritiken zu schreiben – ab 1951 auch für die „Cahiers du Cinéma“, die damals einflussreichste Kinozeitschrift. Damals signiert er schon abwechselnd mit Schérer und Rohmer, um ab 1955 nur noch das Pseudonym zu verwenden. Im selben Jahr verfasst er zusammen mit Claude Chabrol (geboren 1930) das erste Buch über Alfred Hitchcock und übernimmt nach der kommissarischen Vertretung für den „Cahiers“-Gründer und Leiter André Bazin (1918-1958) ab 1959 mit Jacques Doniol-Valcroze (1920-1989) die Chefredaktion des renommierten Fachblattes.

Zusammen mit anderen Mitarbeitern der „Cahiers“ wie Truffaut und Chabrol, Jean-Luc Godard und Jacques Rivette gehört er Ende der 1950er-Jahre zu einer Gruppe meist junger Filmkritiker, die gegen die Erstarrung des französischen Kinos anschreibt und in Anlehnung an Regisseure wie Alfred Hitchcock und Roberto Rosselini, Ingmar Bergman und Jean Renoir für eine neue „Politik der Autoren“ wirbt. Unter der Bezeichnung „Nouvelle Vague“ werden sie, die den Beruf des Kritikers mit dem des Filmschaffenden wechseln, in den nächsten Jahren berühmt. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen dauert es bei Rohmer rund zehn Jahre länger, bis seine künstlerische Arbeit anerkannt wird. Erst die Verfilmung von „Meine Nacht bei Maud“ (1969) mit Jean-Louis Trintignant und Françoise Fabian, die ein großer Publikumserfolg in Frankreich ist und für den Oscar nominiert wird, ermöglicht es dem Regisseur, seine Projekte künftig ohne größere finanzielle Schwierigkeiten zu produzieren.

Verfilmt er in den 1950er- und 1960er-Jahren hauptsächlich eigene Stoffe und dreht dabei auch mehrere Kurzfilme für das französische Schulfernsehen, wendet er sich in den 1970er-Jahren verstärkt der Literatur zu. 1972 legt er mit „L’organisation de l’espace dans le Faust de Murnau„ (1977; deutsch „Murnaus Faustfilm“ 1980) sein Doktorexamen ab und erhält einen Lehrauftrag für Filmregie an der Universität Paris-Nanterre. 1975 verfilmt er – vielfach ausgezeichnet – Kleists „Marquise von O…“ mit Bruno Ganz und Edith Clever und drei Jahre später dann Chrétiens de Troyes „Perceval le Gallois“. Zu Beginn der 1980er-Jahre widmet er sich wieder eigenen Ideen und realisiert bis Ende der 1990er-Jahre die erwähnten Zyklen „Komödien und Sprichwörter“ und „Erzählungen der vier Jahreszeiten“, sowie weitere (Episoden- und Kurz-)Filme. Noch bis ins hohe Alter arbeitet er an neuen Drehbüchern, darunter auch wieder an Literaturadaptionen. So kommen in den letzten Jahren in größeren Abständen noch „Die Lady und der Herzog“ (2001), „Triple Agent“ (2004)“ und zuletzt „Les amours d’Astrée et de Céladon“ (2007) in die Kinos. Éric Rohmer starb am 11. Januar 2010 im Alter von 89 Jahren in Paris.