Jean Paul auf Lachgas

Dietmar Dath schreibt mit zwei neuen Romanen am eigenen Kosmos weiter

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Dietmar Dath vor einigen Jahren dem Leben als „FAZ“-Redakteur entsagte, scheint er von einer regelrechten Schreibwut gepackt: Jedes Jahr erscheint mindestens ein Roman, öfter zwei, die weniger durch ihre Seitenzahl als vielmehr durch die Kühnheit der entworfenen Welten beeindrucken. Manche sind gelungen, manche phänomenal, manche brechen unter der Überfülle der Ideen zusammen, die ihr Autor in sie hineinpacken wollte. Emphase und Reflexion, Science Fiction und antike Mythologie, höhere Mathematik und niederer Metal treffen zwanglos aufeinander. Das kann anstrengend oder genial oder beides zugleich sein, belanglos ist es nie.

Auch diesen Herbst gab es wieder einen doppelten Dath zu lesen. Zum einen das bei Suhrkamp veröffentlichte „Sämmtliche Gedichte“, das überall – und zwar mit gemischten Kritiken – rezensiert wurde. Unterhalb des Radars erschien jedoch noch ein zweiter Band, der „Filmroman“ „Sie schläft, veröffentlicht bei der kleinen Edition Phantasia, der bisher eher von kleinen Blogs und Fanzines wahrgenommen wird als vom großen Feuilleton. Dieses doppelte Spiel hat bei dem 1970 geborenen Dath Methode: Einerseits veröffentlicht er weiterhin beim Großverlag, dem er nicht zuletzt einen wesentlichen Teil der medialen Aufmerksamkeit verdankt. Diese Aufmerksamkeit nutzt er wiederum, indem er zugleich weiter bei den Kleinen publiziert, die ihn lange Jahre aufgebaut und unterstützt haben, und die er so für Käufer interessant macht, die vom Verbrecher Verlag oder eben der Edition Phantasia noch nie gehört haben. Auf diese Weise werden nicht nur (musikalisch gesprochen) Major- und Indie-Label bedient, sondern auch Major- und Indie-Publikum.

Dabei lohnt es sich, die Aufmerksamkeit gleichermaßen auf alle Texte Daths zu richten, ob Roman, Essay, Sachbuch, ob Groß- oder Kleinverlag oder sogar auf ergänzende Webseiten. Denn die Veröffentlichungen in den „kleinen“ Häusern sind weder „unwichtiger“ noch „schlechter“, nur die im Netz tragen sekundären Charakter, insofern sie sich auf bestimmte Romane beziehen. Vielmehr sind Daths Werke (und nicht nur die „Sämmtlichen“) zwar jedes für sich zu lesen, bilden zugleich aber ein zusammenhängendes Netz. Oder, im poststrukturalistischen Jargon: ein Rhizom. Wie William Faulkner mit seinem fiktiven Yoknapatawpha County, wie Uwe Johnsons Mecklenburg, wie Ingeborg Bachmann mit dem Wien ihrer späten Prosa in „Simultan“ und den „Todesarten“-Romanen verweisen Daths Texte beständig aufeinander, teilen sie sich Figuren, Handlungsverläufe und Motive. Dafür sind sie nicht so stark geografisch verwurzelt wie die Texte der genannten Autoren, auch wenn das südliche Baden und ganz besonders Freiburg häufiger auftauchen als die meisten anderen Orte.

Das thematische Zentrum der Texte machen vor allem zwei Komplexe aus: zum einen die Utopie eines besseren Zusammenlebens jenseits des heutigen Kapitalismus, die trotz Daths generellem Bekenntnis zu Marx nichts mit dem real existiert habenden Stalinismus gemein hat. Zum anderen ist es das emanzipatorische Potenzial der Künste, die wesentlich dazu beitragen, die Welt in diesen Zustand zu versetzen. Wohlgemerkt, der Künste überhaupt, nicht einer bestimmten, etwa einer braven, „authentischen“ Gutenberg-Galaxis gegen die „bösen“ Neuen Medien. Ob das nun Gedichte sind oder Gemälde, das Streichquartett eines Avantgarde-Komponisten oder eben Heavy Metal, ist dabei zweitrangig. Daths Romane behaupten dieses Potenzial jedoch nicht nur, sie führen es in ihrer Handlung vor. Darin erinnern sie an die Poetik der Frühromantik, speziell an Novalis’ Visionen einer Wiederverzauberung der Welt durch die Macht der Poesie. Das heißt aber nicht, dass dies in jedem Fall gelingt: während die Hauptfiguren der „Sämmtlichen Gedichte“, der Lyriker Adam Sladek und die Malerin Johanna Rauch, diesen absoluten Zustand zumindest für sich als Paar erreichen, scheitert der Filmkritiker Ramji Iwein, Protagonist von „Sie schläft“, auf der Hauptebene der erzählten Welt und zieht sich am Ende zu jener mythischen weiblichen Figur zurück, die in einer geheimen Kammer eines Filmmuseums schläft und jene erzählte Welt erst er-träumt. Damit ist sie aber nicht nur eine Dornröschenfigur, sondern ihre Existenz schlägt auch die Volte zurück zur Poetik der Frühromantik, in der Autoren wie Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck die Grenzen zwischen realer und erzählter Welt bewusst ins Verschwimmen bringen. Näher kann man sich an „Heinrich von Ofterdingen“ unter den heutigen Bedingungen nicht heranschreiben.

Zwar erzählen beide Romane separate Geschichten: In „Sämmtliche Gedichte“ erhält der Lyriker Adam Sladek den Auftrag, im geheimen Gästehaus eines Multimilliardärs zu leben und dort zu schreiben, denn der Mäzen plant eine Gesamtausgabe von dessen Gedichten. In Wirklichkeit geht es jedoch darum, mit Hilfe der Poesie magische Kräfte freizusetzen, die zu einer Veränderung der Welt im Sinne des Geldgebers führen sollen. Diesem geht es dabei um die Verwirklichung gesellschaftlicher Utopien, nicht um materiellen Gewinn. Als Sladek jedoch spürt, wie stark er manipuliert wird, flieht er aus dem paradis artificiel des Milliardärs zur Malerin Johanna Rauch und beginnt eine Liebesbeziehung mit ihr. Aber der Kampf ist keineswegs ausgestanden und führt am Ende des Romans zum großen, klassischen Showdown. „Sie schläft“ dagegen erzählt aus der Perspektive des indischstämmigen Ramji Iwein den Kampf des fiktiven Museums für filmische Avantgarde (MufA) um seine weitere Existenz in Zeiten der Drittmittelanträge. Je mehr Institutionen und Figuren dabei ins Spiel kommen, desto mehr gewinnt der Niedergang des Museums und des Helden an Fahrt. Parallel dazu entwickelt sich eine tiefe Liebe zwischen Iwein und der Filmkritikerin Irene Fellchen, die jedoch nie zur vollständigen Erfüllung kommt. Am Ende stehen ein Mord und die erwähnte Flucht in die Welt der träumenden, nie näher bestimmten Titelfigur, die zugleich ein Doppel der Geliebten ist.

Der Clou und die wichtigste Verbindung zwischen beiden Büchern sind jedoch der reiche Sammler Colin Kreuzer, der als Figur selbst kaum in Erscheinung tritt, und sein sinistrer Mittelsmann: ein knapp vierzigjähriger, unsympathischer Schriftsteller namens Dath. Der Kunstgriff ist zwar nicht neu: schon in Christian Dietrich Grabbes Lustspiel „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ (1822) versuchen die anderen Dramenfiguren die Autorfigur Grabbe am Betreten der Bühne zu hindern, um nicht ihren Punsch mit dem berüchtigten Säufer teilen zu müssen. In Daths Romanen dient die Selbststilisierung des Autors aber nicht nur der satirischen Verzerrung und damit Ironisierung des Verfassers in Form seines fiktionalen Doppels. Sondern unter der Verzerrung lauert auch schon seine Apotheose. Zum einen geschieht dies als eine Art literarische Himmelfahrt, insofern der Autor Dath als Figur einen der beiden Romane nicht überlebt und so im Text verschwindet. Zum anderen, weil selbst unter dem befremdeten Blick der Protagonisten – die wie so oft bei Dath zugleich alter-ego-Figuren des Autors sind – deutlich die Bewunderung zu spüren ist: „Wenn das nicht Quatsch ist, sinnloser Silbenzauber,“ denkt der (reale) Dath-Bücher lesende Sladek, „dann ist es günstigstenfalls Jean Paul unter Lachgas; das Kreischende, vermählt dem Gewundenen. […] Die Poetik, falls es eine gibt, lebt von nichts als vom sogenannten Erfindungsreichtum, bei dem Adam […] Zahnfleischziehen kriegt: Physiker, die durch die Zeit ihren Parallelweltzwillingen Warnungen des Tatsächlichen zufunken, fliegende Untertassen, sprechende Tiere, Maschinen, welche die Kommunikation zwischen Gott und den Menschen stören, also lauter kindische Requisiten, Endkämpfe zwischen Gut und Böse, japanischer Animequaster, atemlos runtererzählt, dann wieder mit Reflexionsschüben überfrachtet.“ Selbst wenn eine solche Passage übliche Vorwürfe der Literaturkritik gegen Dath bündelt, nennt sie ihn zugleich im Atemzug mit einem größten Autoren der Zeit (schon wieder) um 1800. Und obwohl man vom Autor eingeführten Vergleichen misstrauen sollte, ist dieser nicht unpassend: Auch die großen Romane Jean Paul Friedrich Richters (1763-1825) leben ja von und leiden unter ihrem überbordenden Ideenreichtum, der Mischung aus ätzendem Witz, tiefem Humanismus und äußerster Sentimentalität, der Mixtur aus Bewunderung für die Revolution und idyllisierten Liebesbeziehungen, auch wenn letztere bei Dath häufig genug jenseits der heterosexuellen Matrix stattfinden. Nur dass die heterogene Mischung bei Dath wohl doch sperriger scheint als bei seinem Vorgänger, der für die Verhältnisse seiner Zeit zu den Bestsellerautoren gezählt werden darf. Ob Daths Kühnheit ihm dereinst literarische Unsterblichkeit eintragen wird, kann man getrost abwarten. Auf jeden Fall trauen wenige Gegenwartsautoren sich und den Lesern künstlerisch mehr zu als er.

Verbunden sind „Sie schläft“ und „Sämmtliche Gedichte“ aber nicht nur miteinander, sondern – wie schon angedeutet – mit dem gesamten Oeuvre Daths. Schon der Titel des ersteren weist es als Pendant zu „Sie ist wach“ (2003) aus, dem buchlangen Essay zu Joss Whedons TV-Serie „Buffy the Vampire Slayer“; die Künstlerin Johanna Rauch taucht bereits in „Die salzweißen Augen“ (2005) und „Dirac“ (2006) auf; der Nachname Sladek ist beinahe ein Anagramm von Dalek, des Protagonisten in „Dirac“, wobei Dath den Namen David Daleks wiederum als Pseudonym für seinen Roman „Das versteckte Sternbild“ (2007) nutzte; vom Milliardär Colin Kreuzer schließlich wird mehrfach angedeutet, dass er später wohl zur Urform des Löwen Cyrus Golden wird, der in der „Abschaffung der Arten“ (2008) als Herrscher der tierartigen Gente fungieren wird, die die Welt nach dem Niedergang des Menschen dominieren. Eine solche Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Dennoch funktioniert jeder Text ebenso einzeln für sich.

Aber wie gut sind die beiden Bücher überhaupt? Sind sie lesenswert? Und wenn ja, welches der beiden ist das gelungenere? In diesem Fall fällt der Vergleich eindeutig zu Ungunsten von „Sie schläft“ aus. Dath geht zwar mit der gewohnten sprachlichen Virtuosität zu Werke – vor allem die Konferenzen der Museumsleute mit den unfähigen Webdesignern vom „Bureau Saint Fun“ gehören zum Komischsten und Ätzendsten, was er je geschrieben hat. Andererseits trägt der Handlungsbogen leider nicht über die gesamte Distanz von 250 Seiten; eher wirkt er zuweilen als Gerüst, in dem der Autor medientheoretische Reflexionen und filmhistorische Kenntnisse ausbreiten kann. (Vielleicht kann der Rezensent als Nicht-Cineast aber auch einfach nicht mitreden?) Weitaus überzeugender ist „Sämmtliche Gedichte“, das seinen Plot nicht nur spannender, stringenter (und konventioneller?) erzählt, sondern seinen Reiz vor allem aus der eingeschobenen Lyrik Sladeks zieht. Nicht alle Gedichte sind Meisterwerke, aber viele davon erreichen eine ungeheure Schönheit, gerade weil sie Emphase und Übernahmen aus der lyrischen Tradition mit der Virtuosität und Reflektiertheit der literarischen Moderne verbinden. Vor allem die zwanzigseitige Eloge auf die Flugpionierin Amelia Earhart kurz vor Ende des Buches ist von einer beeindruckenden Intensität. Dass in Dath ein veritabler Lyriker schlummert, hätte man tatsächlich nicht erwartet. Das Ergebnis ist der vielleicht beste Buch Daths seit „Dirac“ – und von denen gibt es immerhin einige. Diesmal gilt also, gegen das Klischee: Major schlägt Indie. Wie gut, dass das Duell nächstes Jahr wieder ganz anders ausgehen kann.

Titelbild

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
284 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518421109

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dietmar Dath: Sie schläft.
Edition Phantasia, Bellheim 2009.
253 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783937897363

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