Stimmen mit Gewicht

Richard Yates erzählt in „Elf Arten der Einsamkeit“ vom Zerfall persönlicher Erfahrung

Von Alexander WeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Weil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Richard Yates Stellung in der US-amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen fehlender öffentlicher Wahrnehmung und Wertschätzung seitens Schriftstellerkollegen und Kritikern. Sein Roman-Debut „Revolutionary Road“, im Jahre 1961 erschienen, war neben Joseph Hellers „Catch-22“ und Salingers „Franny and Zooey“ Finalist im Wettbewerb um den National Book Award – Walker Percy gewann ihn mit „The Moviegoer“ –, fand aber, wie seine nachfolgenden sechs Romane und zwei Kurzgeschichtensammlungen zu Lebzeiten des Autors kein größeres Publikum. Nicht zuletzt aufgrund eines Artikels, den Stewart O´Nan 1999 im „Boston Review“ veröffentlichte, trat die Bedeutung des acht Jahre zuvor verstorbenen Yates allmählich ins Bewusstsein breiterer Leserschichten. Seit 2006 liegt in einer von Anette Grube und Hans Wolf besorgten Übersetzung die Erzählsammlung „Elf Arten der Einsamkeit“ („Eleven Kinds of Loneliness“) bei der Deutschen Verlags-Anstalt vor.

Die frühesten Erzählungen dieser Sammlung dürften Mitte der 1950er-Jahre entstanden sein. Sämtliche verströmen sie eine 1950er-, 1960er-Jahre-Aura: es gibt auffällig viele Hüte-tragende Männer, es wird viel geraucht, Zeitungen heißen „Arbeiterführer“, eine junge Frau verdient mehr als ihr Mann, „weil sie siebenundachtzig Wörter in der Minute tippen konnte, ohne auch nur einen einzigen Takt beim Kauen ihres Kaugummis auszulassen“, doch sind solche Hinweise rar gesät und über weite Strecken fehlen sie völlig. Mit der Erzählung „Der B.A.R.-Mann“ ist konkret die McCarthy-Ära der frühen 1950er-Jahre gemeint, aber auch diese Geschichte könnte sich genauso heute ereignen. Yates Stil ist letzten Einflüssen eines Kriegs-und Nachkriegsrealismus geschuldet, aber anders als etwa bei Hemingway gibt es in „Elf Arten der Einsamkeit“ keine harten, direkten Auseinandersetzungen von besonderem Gewicht, wirkliche Gangster kommen nicht vor, es gibt keinen bedeutenden sozialen Auf-oder Abstieg, und Yates enthält sich jedes anklagenden Naturalismus, wie man ihn etwa bei Upton Sinclair oder Theodor Dreiser findet. Der leichteste Anflug von Melodramatik wird sofort im Keim erstickt, konkrete Hinweise auf persönliche Traumata fehlen; allenfalls die Stärke der Abwehr gegen ihre Schilderung ruft sie einem als Möglichkeit ins Bewusstsein.

Es heißt, amerikanische Künstler seien zuallererst Soziologen, das wiederum trifft auch auf Yates zu. Bei aller Klarheit und Sorgfalt, mit der er seine Figuren in „Elf Arten der Einsamkeit“ als real existierende Personen schildert, sieht man sich immer wieder vor die Frage gestellt, was sie zu gesellschaftlichen Wesen macht, sie als Gesellschaft miteinander verbindet.

Vierzig Jahre später wird ein anderes Buch diese Frage aus der Sicht des Soziologen stellen (eines Soziologen, der Literat ist). Richard Sennetts Fallgeschichten in „Der flexible Mensch“ („The Corrosion of Character“) erzählen von Menschen, die in den 1990er-Jahren ziellos durch die Gesellschaft driften, ihrer Ziellosigkeit aber keine grosse Bedeutung beimessen, keinen Grund darin sehen, deshalb besonders schwermütig zu sein. Stattdessen entwickeln sie in einer auf kurzfristige Bindungen begründeten Ökonomie jede Menge Tatendrang. „Wie“, fragt Sennett, „kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“

Die Drastik, mit der Yates Mitte des letzten Jahrhunderts vom Zerfall persönlicher Erfahrung erzählt, von einer Entwicklung, die tsunamiartig um den Erdball rollt, erklärt, warum er in den letzten Jahren auch außerhalb der USA immer größere Beachtung findet. Doch erklärt es nicht die Wucht, mit der er sie als vielleicht einziger US-amerikanischer Schriftsteller seiner Generation empfand.

Wenige Jahre vor „Elf Arten der Einsamkeit“ waren Allen Ginsbergs „Howl“ und Kerouacs „On The Road“ erschienen, mit ihrer vom Jazz und der Aufbruchstimmung einer Nachkriegsgeneration beflügelten improvisatorischen Verve. Truman Capote schreibt sich virtuos, Buch um Buch, aus der zauberhaft metaphorischen Landschaft seiner Südstaaten-Heimat in die der New Yorker Interieurs und lauscht den Stimmen ihrer exzentrischen Bewohner mit der selben Aufmerksamkeit, wie dem Froschgequake der Sümpfe seiner Kindertage. Norman Mailer knöpft sich mit dem ihm eigenen wilden Patriotismus die Neurosen seines Landes vor.

Währenddessen erzählt Yates von Charakteren, die nicht einmal Außenseiter sind, sondern durch und durch normal. Er lässt sie aus einer Sphäre ohne vorstellbare Ordnung auftauchen und wieder spurlos darin verschwinden. In dieser einen Hinsicht sind sie alle gleich. Das gibt ihnen den Charakter eines Chors und eine Stimme von Gewicht.

„Miss Price wusste von dem neuen Jungen bloß, daß er sein Leben größtenteils in einem Waisenhaus verbracht hatte und daß ,Tante und Onkel‘, die grauhaarigen Leute, bei denen er inzwischen wohnte, die rechtmäßigen, vom Wohlfahrtsamt der Stadt New York bezahlten Pflegeltern waren. Ein weniger engagierter oder weniger phantasievoller Lehrer hätte vielleicht auf mehr Einzelheiten gedrängt, aber Miss Price war mit diesem schlichten Überblick zufrieden. Ja, er genügte, um sie mit dem Gefühl eines Auftrags zu erfüllen, was ihre Augen schon am ersten Morgen, beim Eintritt des Jungen in die vierte Klasse, hell wie die Liebe leuchten ließ.“

Mit diesen Worten beginnt die erste Erzählung „Doktor Schleckermaul“ („Doctor Jack-o´-lantern“), und Yates wird aus dem Zurückweichen vor „Einzelheiten“ und der „Zufriedenheit mit diesem schlichten Überblick“ die Geschichte einer schmerzhaften Ernüchterung entwickeln, eine Geschichte, wie sie sich immer wieder zwischen Lehrern und Schülern abspielt, die sich dennoch nicht nacherzählen lässt, eine Geschichte, die man schwer vergisst.

In keiner dieser elf Erzählungen deutet ein offenes Ende Unausgesprochenes an. Alles wird auserzählt. Es gibt keine Pointe. Früher oder später blüht den Menschen in „Elf Arten der Einsamkeit“ eine Zukunft, die sie aus ihrer eigenen Geschichte verschwinden lässt. Alles an ihnen ist lichte, unmittelbare Realität.

Gracie am Ende von „Alles, alles Gute“ („The Best of Everything“) wird ihren Mann am Abend vor der Hochzeit mit den Worten verabschieden: „Ich werd‘ da sein.“, und wir wissen, genauso wird es kommen, so unglaublich es ist, aber sie wird vor dem Traualter erscheinen und damit spurlos verschwinden in einer Realität, aus der sie zwanzig Seiten zuvor erschienen ist.

Yates Frauen in „Elf Arten der Einsamkeit“ bedürften einer gesonderten Betrachtung. Die Beiläufigkeit, mit der er sie aus seinen Geschichten entlässt, steht in grellem Kontrast zur Bedeutung, die er ihnen gibt.
„Dann tat sie, was sie oft in solchen Momenten tat, und bisweilen denke ich, daß ich alles im Leben dafür geben würde, wenn ich es nie hätte mit ansehen müssen: Sie wandte sich von mir ab, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu.“ So verschwindet Joan fünf Seiten vor Ende der letzten Erzählung „Baumeister“ („Builders“) als letzte Frau aus diesem Buch.

„Baumeister“ spielt 1948, die Geschichte beginnt mit den Worten: „Schriftsteller, die über Schriftsteller schreiben, verursachen leicht die schlimmste Art literarischer Fehlgeburt; das weiß jeder. Man beginnt eine Geschichte mit ,Craig drückte seine Zigarette aus und stürzte sich auf die Schreibmaschine‘, und es gibt nicht einen Lektor in den Vereinigten Staaten, der gerne den nächsten Satz lesen würde.“
Es folgen fünfzig Seiten, auf denen sich eine komische Episode an die nächste reiht, denn der Baumeister, um den es hier geht, ist ein Schriftsteller, der eigentlich gar keiner ist, aber von einem Taxifahrer namens Bernie Silver angeheuert wird, um dessen Erlebnisse als Taxifahrer in eine literarische Form zu bringen, was ihm vortrefflich gelingt, denn Bob hält sich eisern an den Ratschlag seines Auftraggebers, dass jede Geschichte Fundament, Wände, Dach, Schornstein und Fenster braucht. Vor allem Fenster, denn durch sie erst kommt Licht in die Geschichte: „Philosophie“, sagt Bernie Silver, „Wahrheit“.
In „Baumeister“ baut Yates sich mit den Worten seines Protagonisten ein wirklich sonderbares Haus. Und wenn Bob sich am Ende fragt: „Wo sind die Fenster?“ hört man Yates Stimme, die daraus spricht und Antwort gibt.

Diese elfte Art von Einsamkeit hat Yates dem literarischen Schreiben vorbehalten, nicht der Einsamkeit des Schriftstellers vor dem leeren Blatt, sondern der des Baumeisters, der sich die Frage: „Wo sind die Fenster?“ nie am Anfang stellt, manchmal in der Mitte, aber auf jeden Fall zum Schluss.

Titelbild

Richard Yates: Elf Arten der Einsamkeit. Short stories.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anette Grube und Hans Wolf.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
285 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421058598
ISBN-13: 9783421058591

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