Der Poet in seiner akustischen Leiblichkeit

Der Hörverlag gibt der Lyrik ihre Originalstimmen wieder

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese CD-Box ist in der Tat ein Schmuckstück: 122 Autoren lesen ihre eigenen Gedichte, insgesamt 420 Gedichte sind es, die – nacheinander gespielt – insgesamt mehr als zehneinhalb Stunden füllen können. Aufnahmen aus knapp 100 Jahren füllen neun CDs, die es jede für sich in sich hat. Stimmen, die man noch nie gehört hat, neben Stimmen, die hinreichend bekannt sind. Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Kurt Schwitters, Bertolt Brecht, Gottfried Benn, H.C. Artmann sind akustische Berühmtheiten, aber Karl Krolow, Friedrich Schnack, Erich Kästner, Paula Ludwig? Bekannt, berühmt oder unbekannt und unentdeckt – die Herausgeber Christiane Collorio, Pater Hamm, Harald Hartung und Michael Krüger haben Autorenstimmen gesammelt, die vor allem eine kleine Geschichte der Dichterlesung und der stimmlichen Autorenselbstpräsentation möglich machen.

Bis ins 20. Jahrhundert war der „Dichter“ für seine Nachwelt stumm. Seine Stimme ließ sich bestenfalls imaginieren, was allerdings für die vorrangige Form der Lyrikrezeption, die stille Lektüre, sowieso der Königsweg ist. Das Interpretationszepter schwingt entsprechend der Leser allein, bis weit in die Stimmlage, Intonation und Betonung hinein, wenn man von Nebensächlichkeiten wie Phrasierung, Klang oder gar dialektaler Färbung absieht. Eine erste Erkenntnis schließt sich daran an, wie sehr wir nämlich Sympathien nach der Stimmlage verteilen: Was wäre denn, wenn unsere Klassiker statt der unterstellten ruhigen, tiefen und tönenden Stimme ein quäkendes Organ gehabt hätten und wir sie heute noch hören könnten?

Eine interessante Erfahrung ist es allemal, die gewaltigen Poeten mit zittriger Stimme ihre Texte lesen zu hören oder mit unverwechselbarem Dialekt. Welche Prägnanz liegt zugleich im gelesenen Gedicht, das mit der Lesung Volumen und Bedeutung erhält. Die echte Stimme des Poeten in seiner akustischen Leiblichkeit macht einen ganz anderen Eindruck, als es in der stillen Lektüre imaginiert werden kann. Und nicht minder überraschend, welche Unterschiede sich zu den von Leseprofis vorgetragenen Gedichten auftun.

Daran aber scheiden sich die Geister und vielleicht auch die Geschmäcker. Wenn Christian Brückner amerikanische Beat-Lyrik liest, dann klingen die Texte gewaltig, aber mit ihnen klingen eben auch die Stimmen von Robert de Niro oder anderen amerikanischen Schauspielern mit, denen Brückner die Stimme geliehen hat. Auf irgendeiner Ebene fallen damit für die deutschen Leser Brückner, Kerouac und de Niro doch zusammen.

Wenn Ben Becker Klaus Kinski spricht, ist das nicht schlecht, aber es ist nicht der fiebrige Kinski selbst, der spricht und dessen Villon- und Rimbaud-Lesungen berühmt sind bis heute. Aber Kinski ist nicht nur exaltiert wie kaum ein anderer Schauspieler, sondern auch noch der glückliche Zufall eines Schauspielers, der selbst geschrieben hat.

Ganz anders die Autoren selbst, die schreiben, aber in der Regel nicht sprechen oder vortragen gelernt haben. Auch wenn die Autorenlesung seit den 1920er-Jahren eine der wichtigsten Einnahmequellen von Schriftstellern ist, bleiben sie im Selbstverständnis doch dem stillen Lesen verpflichtet.

Dabei legen sie (teilweise) einen von der Sprecherseite her derart eklatanten Dilettantismus an den Tag, dass man gelegentlich die Gedichte vor ihren Autoren in Schutz nehmen möchte. Sie leiern, sie versprechen sich, sie haspeln, sie überziehen, sie betonen falsch, sie haben ungeübte und überlastete Stimmen.

Dennoch: Die zittrigen Stimmen einer Ingeborg Bachmann oder eines Paul Celan gehören so untrennbar zu ihren Texten, dass man sie nicht missen möchte. Dabei rangen sich gerade um diese beiden Autoren und ihre Lesekraft bezeichnende Geschichten, von denen Peter Hamm im Booklet berichtet: Bachmanns Texte wurden wie die Celans bei der ersten Lesung bei der Gruppe 47 von einem anderen Leser ein weiteres Mal vorgetragen. Bachmann war kaum zu vernehmen gewesen, sodass Wolfgang Weyrauch die Gedichte ein weiteres Mai las – zu ihrem Schaden.

Celans Lesung führte sogar zu einem Eklat – zumindest im Nachhinein. Celans Lesegestus war kaum nachvollziehbar, erinnerte einige Zuhörer sogar bizarrerweise an Joseph Goebbels Lesefluss, sodass Milo Dor die Texte nochmals lesen musste. Kein Wunder, dass Celan nie mehr zur Gruppe 47 kam.

In der Fassung von 1958 ist von dem angeblichen „NS-Ton“ Celans nichts zu hören, die Stimme ist unsicher, tastend, suchend, bemüht, den Text nicht über die Gebühr zu gestalten, um ihn nicht zu diskreditieren.

Überhaupt ist die Geschichte der Dichterphrasierung über die gesamten Aufnahmen hinweg überraschend gut nachzuvollziehen. Lehnen sich die Autoren anfangs noch stark an Schauspielersprechtechniken an, müssen sie zudem Rücksicht auf die noch schwache Aufnahmetechnik nehmen, entwickeln sie nach dem Krieg einen mehr und mehr eigenen Stil, dem die technische Weiterentwicklung Raum gibt. Dabei nehmen sie sich ungemein stark zurück. Allerdings sind hierbei immer noch deutliche Unterschiede zu erkennen. Werner Bergengruen gibt auch im Vortrag einiges von seinem (konservativen) Selbstverständnis als Dichter zu erkennen. Die frühen Nachkriegsmodernen wie Eich oder eben auch Bachmann oder Celan signalisieren bereits in der Stimmlage, welche Position sie dem Subjekt in der Moderne zuweisen. Alles bleibt in einer mittleren Stimmlage, die Stimme selbst wird wie ein notwendiges Übel eingesetzt, damit das Gedicht Laut werden kann. Erst mit H.C. Artmann oder Ernst Jandl, deren Literaturverständnis luzider ist, werden die Autoren wieder stimmlich präsenter.

Bei Autoren wie Paul Wühr oder Günter Bruno Fuchs finden die Stimmen sogar wieder so etwas wie ihre Alltagstonlage wieder, was eben auch dem Text- und Selbstverständnis der Autoren geschuldet ist. Die Autorenstimmen gehen also ins Programm des Autorselbstverständnisses ein, und das sogar bei den ungeübten Sprechern.

Weit entfernt bleiben jedoch nahezu alle literarischen Autoren jenem Stimmverständnis, das an der Schnittstelle von Pop und Literatur, namentlich im HipHop zu finden ist. Zweifelsohne sind im HipHop Reim- und Verstechniken – also genuin literarische Formen – in ungemein großer Vielfalt und Mischung zu finden. Lyrik wird hier jedoch mit einer massiven stimmlichen Präsenz verbunden, was zwar nicht zuletzt einer Konvention geschuldet ist, aber dennoch eine deutliche Differenz zur konventionellen Lyrik markiert. Dass ein Lyrikzuhörer bereits von der stimmlichen Präsenz seines Autors hingerissen, fasziniert und überwältigt wäre, darf wohl als eher selten angenommen werden.

Ob das allerdings notwendig ist, bleibt offen. Im Poetry Slam als weiterer, der E-Lyrik sogar noch näher stehender performativen Variante ist zwar zumindest das Bemühen um eine auch stimmlich nachdrückliche Vermittlung zu sehen. Die meisten Autoren werden diesen Bemühungen jedoch distanziert gegenüberstehen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil ihr Literatur- und Rollenverständnis dies verhindert.

Titelbild

Lyrikstimmen. Die Bibliothek der Poeten, 9 CD.
Der Hörverlag, München 2009.
638 min, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783867173384

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