Nichts als die Welt

Georg Brunold versammelt in einem Folioband Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die ganze Welt in einem Buch“ – der beeindruckende Band „Nichts als die Welt“, herausgegeben und mit Begleittexten versehen von Georg Brunold, erfüllt diesen hohen Anspruch in ganz besonderer Weise. Zweieinhalbtausend Jahre Weltgeschichte werden in diesem 682 Seiten starken, imposanten Buch konkret, anschaulich und fühlbar. Die schwergewichtige Sammlung von Welt-Wissen reicht von den Anfängen der europäischen Geschichtsschreibung bis hinein in unsere Gegenwart: Von Herodot bis Umberto Eco. Nicht allein zeitlich erstreckt sich der Band – ebenso umspannen die ausgewählten Reportagen und Berichte räumlich den gesamten Erdball: Von Athen, Babylon, Rom und Jerusalem über Canossa, Avignon, die Magellan-Straße, London, Irland und Neuseeland bis nach Paris, Caracas, Petersburg, New York, Berlin, Liberia, Japan, China, die Apenninen, den Balkan.

Ergänzt werden die Texte – dabei: deutsche Erstveröffentlichungen und Erstabdrucke in Buchform wie zum Beispiel Janet Flanners „Hitlers Stimmbänder“ oder Hans Magnus Enzensbergers „Ach Deutschland!“ – durch ein Vorwort des Herausgebers, zwölf Fotoreportagen aus dem letzten Jahrzehnt sowie die „Bibliothek des Reporters“, die in dreißig „Lieferungen“ und 227 Teilen in Auflistung und Diskussion der Lebenslektüren Brunolds zugleich eine Theorie des Genres Reportage sowie eine Metareflexion journalistischen Schreibens beinhaltet.

Das Projekt – 2.500 Jahre Menschheit in der Dauerkrise, engagierte Literatur und deren Stellung in der Welt, die in Deutschland noch immer stiefmütterlich behandelte Gattung Reportage – ist äußerst anspruchsvoll und ließ die Verleger Wolfgang Hörner und Esther Kormann nach dem Erscheinen des Buches vom „Glück“ und den „Strapazen“ der Verwirklichung eines Vorhabens dieser Dimension sprechen. Hält man den Folioband in seiner materiellen Präsenz in Händen, wird das Glück als haptisch-visuelles wie auch als intellektuelles Vergnügen spürbar; Sensualismus und Ästhetik lassen den Leser die Strapazen der Entstehung schnell vergessen. „An allem interessiert und nie langweilig“ – des Namenspaten Ferdinando Galianis Leitspruch wurde zum Motto des im Januar 2009 in Berlin „in verlegerischer Ehe“ mit Kiepenheuer & Witsch neu gegründeten Galiani-Verlags, der sich vor allem der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dem kulturhistorischen und erzählenden Sachbuch sowie Klassikern der Weltliteratur widmet und zu dessen erstem Programm das hier besprochene Buch zählt: Seit dem 7. September 2009 sind die ersten sieben Titel im Handel, mit „Nichts als die Welt“ wurde Platz 1 der Literaturen-Sachbuchbestenliste erobert.

Wie lässt sich über ein Buch berichten, das „schlicht perfekt“ (Oliver Jung) ist? Welche Funktion kann eine Kritik erfüllen, wenn es, im negativen Sinne, nichts zu „kritisieren“, nichts anzuprangern und nichts zu lamentieren gibt? Keine offenen Stellen, keine Widersprüche, keine enttäuschten Erwartungen. Statt dessen: Begeisterung, Bereicherung, Genuss. Der Impuls, die Freude über diesen Band mitzuteilen und weiterzugeben. Der Gedanke, diesen Band in den Händen möglichst vieler Leser wissen zu wollen. Aus einem Bildungsimpetus heraus; aus einem ästhetischen Gefühl heraus. Hier ist es, das gedruckte Buch, Bild für die Institution Buch, ein Ausrufungszeichen in der Allgegenwart der medialen Verflüchtigungs- und Vermassungstendenzen, ein Ausrufungszeichen auch in der imaginären Landkarte der literarischen Erinnerungskultur und des kulturellen Gedächtnisses.

„Zeitreisen ist für uns alle eine Überlebensnotwendigkeit“: Mit dieser Aussage benennt Brunold, von 1991-95 Afrikakorrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“ mit Sitz in Nairobi, von 1996-2003 stellvertretender Chefredakteur der Kulturzeitschrift „du“ in Zürich, seit 2004 freier Autor, Reporter und Berater, in seinem Vorwort eines der leitenden Motive für die Entstehung des Buches. Reisen – in geografischen Räumen wie in den imaginären Räumen der Weltgeschichte, mit dem Ziel des Entdeckens und des sich Aneignens von Geschichte, Geschichten, Vergangenheit. Reisen zur Selbstverständigung, denn die Gegenwart ist „nicht selbsterklärend, und sie hält auch keine Rezepte zur Behebung ihrer Unzulänglichkeiten bereit“. Im Reisen fallen die Zeit-Räume der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, deren Scheidung nach Einstein nur die Bedeutung einer „wenn auch hartnäckigen Illusion“ hat, in eins: „Je weiter wir zurück schauen, desto weiter können wir nach vorne sehen“ (Churchill). Erst im Stelldichein der Zeiten, so Brunold, atme die Welt auf und komme zu sich; nicht nur die Welt, ließe sich ergänzen, mit ihr auch der um ein Verständnis seiner selbst und der Bedingtheiten seiner Existenz bemühte Mensch.

Eine weite Reise ist es vom Ausgangspunkt im Jahre 450 vor unserer Zeit mit 154 Autoren – von denen lediglich elf weiblich sind, was die (literar-)historisch begründete Abwesenheit der „anderen Stimme“ (Carol Gilligan) schmerzhaft spürbar werden lässt – durch 164 Textauszüge bis ins Jahr 2000. Die „Reisenden“ – Autoren, Berichterstatter, Journalisten, Diplomaten, Staatsmänner – führen den Leser als Augenzeugen, die „ich“ sagen, oder als Kommentatoren, die von sich selbst in der dritten Person sprechen, zu den Tatorten von Geschehen.

So haben wir teil an den Sitten und Gebräuchen der Ägypter wie an der Eroberung Mexikos; an der Verwüstung der westindischen Länder wie an der Pest zu London; an der Vertreibung der Jesuiten aus Paraguay wie am Untergang der Titanic; an Verdun, „der blutigsten Schlacht der Geschichte“, wie an den Stimmbandknoten Adolf Hitlers; wir lesen vom „Pipettenkrieg“ in Auschwitz und sind mit Max Frisch auf „Scherbenlese“ im Deutschland der Nachkriegszeit; wir befinden uns mit Niklaus Meienberg in „Wohnwagenhausen“, folgen Cordt Schnibbens Zeilen über den Zerfall der SED und Timothy Garton Ashs Reportage zum Fall der Mauer; wir lesen in Jan Stages Balkan-Tagebuch und erleben mit Pedro Rosa Mendes eine Nacht in Angola; mit Gabriele Goettle befinden wir uns in einer Suppenküche in Spandau, mit Karl-Markus Gauss besteigen wir den Béla-Bártok-Express, um schließlich mit Andreas Langenbacher in „Back to the Future“ zu landen, wo sich ein Blick aus der Mitte des 16. Jahrhunderts hinaus bis tief ins 3. Jahrtausend hinein eröffnet.

Einer schier unendlich erscheinenden formalen Fülle und Vielfalt – Kriegstagebuch, klassische Reportage, Kommentar, Bericht, Briefwerk, Herrscherbiografie, Essay, Gesellschaftskolumne, um nur einige zu nennen – begegnet der Leser. Die Reportage, bemerkt hierzu Brunold, sei „eine wahrhaft universelle literarische Gattung. Sie kann und darf fast alles“. Nicht „Strickmuster irgendwelcher Art“ machten aus Journalismus große Literatur, sondern „der wunderbare Reichtum an Mitteln und Formen“, welcher der Reportage zu Gebote stehe. Dafür, dass selbst die Reportage unweigerlich fabuliere, sorge ihr Stoff: die Welt. Form und Inhalt finden sich hier auf das Engste miteinander verwoben: Dem formalen Facettenreichtum korrespondiert größte inhaltlich-thematische Fülle, die vor Augen zu führen vermag, wie sehr die Tatsachenwelt an „geistigem Nährwert“ die Schöpfungen der Vorstellungskraft noch übertrifft, Fiktion und non-fiction sich untrennbar ineinander verwirren, Reportage zum Roman wird… Im Territorium des Buches dehnen sich „Routen und Vehikel“ aus, sodass die Lektüre zur „randonnée“, zum Spaziergang und zur Wanderung in jenem Sinne wird, den Michel Serres in seiner Philosophie der Gemenge und Gemische „Die fünf Sinne“ so eindringlich als die Schaffung unvorhergesehener Orte beschreibt. Der Leser bleibt dabei nicht in Distanz zum textuellen Geschehen, sondern wird, erlebend und die sich darbietenden Wege beschreitend, in dieses unmittelbar mit hinein genommen.

Die Universalität des Genres Reportage zeigt sich auch in ihrer Erscheinungsform als Fotoreportage: „Reportage ist auch Photographie“ (Brunold). Unbestechlich dokumentiert das Auge der Kamera Spuren des Terrors und der Gewalt; Szenen der Archaik wie der Moderne; Hybridisierung und Zerstörung von Lebensräumen. Die zwölfte Fotoreportage zeigt Bilder des „Crash“, die sich in das kollektive Menschheitsgedächtnis eingruben wie jene des 11. September 2001: Passanten vor dem Gebäude von Lehman Brothers, die Räumung der Büros, die New Yorker Börse nach dem Kollaps. Die Fotoreportagen folgen dabei ihrer eigenen Logik, ihrer je spezifischen Inszenierungsstrategie, sie bewegen sich, wie die geschriebenen Texte, häufig genug in einer Grauzone, im Verweisungsspiel von Abbildung und Fiktion.

Die den Band beschließende, mit bibliografischem Anhang beinahe einhundert Seiten starke „Bibliothek des Reporters“, die von 2004 bis 2006 in monatlicher Folge in der Zürcher Kulturzeitschrift „du“ erschien, umfasst neben den Hauptwerken der politischen Theorie, der Geschichtsschreibung wie der Ethnologie Texte der modernen Großstadtsoziologie, Essays von Orwell und Dickens sowie allgemein einen „Vorrat jener Bücher, die allein dadurch, dass es sie gibt, die Welt im ganzen schöner machen“. Sie bekennt sich zu ihrer „durchaus autoritativen“ Auswahl und beschreibt die Ausstattung der „Werkstätte“ Brunolds: „Der Idee und dem Geist dieses Reportagebandes […] ist auch diese Bibliothek verpflichtet. Auch sie ist als ein Schlüsselbund zur Welt gedacht“. Entworfen wird eine Poetik journalistischen Schreibens, begründet eine Sammlung von für das journalistische Handwerk gleichsam ‚kanonischen‘ Werken. Es entsteht ein Metatext angefüllt mit Bezügen, Verweisen, Verknotungen, der Entstehungsgeschichte und Konkretisierung von „Nichts als die Welt“ wie auch das geistig-intellektuelle Herkommen Brunolds transparent werden lässt. Der Journalismus steht den Ausführungen des Autors zufolge in der großen Tradition des Erzählens und der Weltliteratur: „Worum es in der literarischen Reportage geht, ist die Emanzipation der journalistischen Prosa zum Erzählen, die Befreiung und Beförderung des Reporters zum Erzähler“.

„Dieses Buch habe ich mit den Beinen geschrieben“ – der in der „Bibliothek des Reporters“ angeführte Ausspruch Louis-Sébastien Merciers über sein „Tableau de Paris“ scheint auch für „Nichts als die Welt“ Gültigkeit zu besitzen. Dies macht das Buch, über all das in ihm versammelte Wissen hinaus, so kostbar und verleiht ihm Körper und Beweglichkeit gleichsam über sein materielles Format und Gewicht hinaus.

„Weisen des Glücklichseins“ nannte Borges das Lesen – und dies trifft uneingeschränkt zu auf die Lektüre dieses Bandes, der gerade jetzt, wie es der Klappentext vermerkt, „auch dringend Not“ tut: „Denn was könnte es für den Zeitgenossen in Krisenzeiten Lehrreicheres geben, als bei den epochalen Umbrüchen früherer Jahrhunderte und Jahrtausende dabei gewesen zu sein?“

Titelbild

Georg Brunold (Hg.): Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren.
Galiani Verlag, Berlin 2009.
682 Seiten, 85,00 EUR.
ISBN-13: 9783869710013

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch