Das marktgängige Selbst und die Anderen

Manfred Prischings bestechende Zeitdiagnose des „konformistischen Individualismus“ sollte eigentlich jeder gelesen haben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wohin man sieht, scheint die Welt aus den Fugen geraten zu sein. Der konservativen Gesellschaft der 1950er- und 1960er-Jahre folgte die scheinbare Befreiung von Zwängen, die letztlich aber nur alte Regeln durch neue ersetzte. Ein prägnantes Beispiel sind Liebesbeziehungen: Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment – die restriktive Sexualmoral wurde in eine liberale umcodiert, doch der häufige Partnerwechsel versprach ebensowenig längerfristiges Lebensglück wie das vorherige Gekettetsein an einen Partner, der nicht die Liebe geben konnte, nach der man sich sehnte – so dass heute wieder Vernunftehen als neoliberale Lösung des Problems propagiert werden.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden auch die bekannten ideologischen Gegensätze obsolet, das „Ende der großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard) führte zu noch mehr Orientierungslosigkeit auf allen Ebenen der Gesellschaft. Politiker stehen nur noch für sich selbst, nicht mehr für Inhalte; Wirtschaftskrisen werden ignoriert und durch Verheißungen neuen, endlosen Wachstums bekämpft; Arbeitsverhältnisse halten nicht mehr ein Leben lang, sondern ein paar Jahre; die traditionelle Kleinfamilie wurde durch die immer bunter zusammengewürfelte Patchworkfamilie ersetzt; Sozialbeziehungen und Einbindungen in Gruppen haben eine immer kürzere Haltbarkeitsdauer. Der Planet ist überzogen von Nomadenströmen – von Migranten, die ums Überleben kämpfen, bis hin zu Managern, die morgens nicht wissen, in welchem Hotel in welcher Stadt sie gerade aufwachen.

Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass Identität und Subjekt zu zentralen Begriffen des gesellschaftlichen Diskurses geworden sind. Vorgefertigte Identitätsbausteine gibt es in Hülle und Fülle, aber keine der traditionellen sind mehr verbindlich. Man kann religiös sein oder Atheist oder einer Sekte angehören. Man kann eine Familie gründen oder seriell monogam sein oder mehrere Geliebte nebeneinander haben. Man kann diesen oder jenen Beruf wählen oder beide hintereinander ausüben. Ob man in der Freizeit dem Nordic Walking frönt oder zum Snowboarden in die Berge fährt, hängt davon ab, welcher peer group man angehört und wie man sich nach außen präsentieren will. Wohnung, Kleidung und Auto werden mit dem eigenen Selbstbild abgestimmt. Da man sein eigenes Selbst aber nur in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt ausbilden kann und die anderen genauso orientierungslos sind, dienen heute vor allem die Medien dazu, Identitätsmuster bereitzustellen. Doch auch die Medien machen keine verbindlichen Angebote außerhalb dessen, was die Wirtschaft vorgibt. Content dient vorrangig zum Transport von Werbebotschaften, schöne und wohlhabende Menschen in schönen Landschaften bieten hohe Identifikationspotentiale und kurbeln den Umsatz an. Unsere durchökonomisierte Gesellschaft setzt auf Abziehbilder, die suggerieren, dass man besonders individuell ist, wenn man das tut, was alle tun – den eigenen Körper zwecks besserer Vorzeigbarkeit an Maschinen bearbeiten, Flachbildfernseher oder Navigationssysteme kaufen, VW Golf fahren oder den Urlaub in Thailand verbringen.

Der Grazer Soziologe Manfred Prisching hat es unternommen, solchen Zusammenhängen genauer nachzuspüren und sie in einer glasklaren und dabei pointierten Sprache darzustellen. Der sarkastische Unterton dabei tut dem Buch und dem Leser gut, soweit er selbst die gezeigten Phänomene schon beobachtet und darüber den Kopf geschüttelt hat. Prisching fasst die Ausgangssituation so zusammen:

„Individuell sind nicht die einzelnen Elemente, sondern ihre Kombination. Aber diese muss ein originelles Bild ergeben. Wer nicht anders als die anderen leben und nicht ein Original sein möchte, der ist in der Spätmoderne ein Verlierer, ein Weichei, ein Anpassler. Identität ist nicht mehr einfach Ergebnis der Sozialisation, sie entwickelt sich nicht mehr von außen nach innen. Denn die Außenwelt ist anonymisiert, die zentralen Institutionen und Strukturen, an denen man sich orientieren konnte […], befinden sich in Erosion, und der Einzelne hat seine Person, die in eine labile Situation hineingesetzt ist, selbst zu kreieren.“

Nach dem fast atemberaubenden Durchgang durch „Das Selbst“, „Die Maske“ und den „Bluff“ hat man den Eindruck, dass vieles zwar schon von anderen gesagt wurde (man denke an die von Prisching zitierten Ulrich Beck, Anthony Giddens oder Zymunt Bauman), dass eine solche Zusammenschau der charakteristischen Identitätsprobleme unserer Zeit aber bisher noch gefehlt hat. Zurück bleibt ein gleichermaßen faszinierter und schockierter Leser. Denn hinter der glitzernden Fassade lauern die nur notdürftig überdeckten Widersprüche, man kann jederzeit einbrechen wie durch dünnes Eis auf der zugefrorenen Seenplatte.

Prisching zeichnet eine „Gesellschaft der Individuen“, die jeden inneren Kompass verloren hat. Die „Me-Generation“ in der Nachfolge der bereits stark narzisstischen ’68er ist vor allem an Spaß interessiert und bedient sich im „Supermarkt von weltanschaulichen Accessiores“. Mitmenschen werden austauschbar und sind nur wichtig für bestimmte Abschnitte der eigenen Selbstkonstruktion, sie werden funktionalisiert. Die „unbegrenzte Selbstachtung ohne adäquaten Realitätsbezug gleitet in den Narzissmus über“, und: „Der Egozentriker ist der Idealtypus der Postmoderne.“ Der immer schnellere Wechsel von Arbeitsplätzen, Wohnorten, Freunden und Partnern hilft, sich nicht die eigene innere Leere eingestehen zu müssen. „Liebesbeziehungen gehen in Ordnung, solange sie die selbstgebastelte Identität nicht berühren oder gefährden.“ Man darf niemanden zu nahe an sich heranlassen, sonst wird es brenzlig. Weil dies quer zu dem in unserer Kultur weiterhin geltenden romantischen Liebesideal steht, hat sich das Konzept der seriellen Monogamie durchgesetzt. In der Anfangsphase, über die eine Beziehung nicht hinauskommt, lassen sich starke Gefühle erleben, ohne dass man sich mit den dahinter lauernden Problemen genauer auseinandersetzen muss. Wenn es so weit ist, dass die Gefühle abflauen und die Probleme durchscheinen, flattert man weiter zur nächsten Blume. Oder man wählt eine Zweckbeziehung und vermeidet tiefere Emotionen. Gerade die daraus resultierende „Einsamkeit“ der postmodernen Individuen sorgt für immer neue Beschleunigungsschübe – sie lässt sich nur noch durch erhöhten Aufwand an Ablenkung bekämpfen. So schlägt die Stunde der Marktwirtschaft, sie stellt das notwendige Sinnstiftungspotential bereit: „Gerade die Versprechungen einer Konsumgesellschaft zielen darauf, dass es immer noch etwas Besseres geben kann, etwas Wunderbares, das irgendwo zu finden sein wird.“ Glück lässt sich immer nur vorläufig erreichen, denn sobald man sich für etwas entschieden hat, hat man sich gegen so vieles andere entschieden, es sei denn, man entscheidet sich immer wieder neu, um bloß nichts zu verpassen. Und wenn es mal Probleme gibt, steht ein Heer von Therapeuten und eine Phalanx von Selbsthilfegruppen bereit, das taumelnde Individuum aufzufangen und gestärkt in den Beziehungssupermarkt zurückzuschicken.

Die Freiheit der Wahl ist nur eine scheinbare. Die alten Zwänge gibt es nicht mehr, es leben die neuen: „Der Zwang wird unsichtbar gemacht. Er wird in die Köpfe transferiert. Jeder lebt im Gefühl der Freiheit und tut, was im Interesse der Machthaber ist.“ Michel Foucault, dessen Aktualität sich an solchen Formulierungen einmal mehr zeigt, hätte es nicht treffender ausdrücken können. Das konformistische Individuum handelt genau so, wie es ihm der Markt diktiert, wobei dieser eine solche Vielzahl an Angeboten liefert, dass die Austauschbarkeit der Angebote kaum auffällt.

Übrig bleibt die „serielle Einzigartigkeit“, die „Identitätsfiktion“. Und um diese aushalten zu können, muss man eine Eins in Selbsttäuschung kriegen. Hinter der Maske ist – nichts, jedenfalls nichts von Bedeutung. Doch dieses Nichts gilt es mit Phrasen und schönem Schein möglichst gekonnt zu inszenieren, damit alle denken, da wäre etwas, und zwar etwas Originelles und Einzigartiges. Wie bei der Ware zählt auch beim Individuum die attraktive Verpackung. Für den Inhalt interessiert sich schon deshalb niemand mehr, weil man so tief gar nicht blicken will, bevor man das nächste Produkt ausprobiert.

Die Beschädigungen und Risse in den Masken sind überall zu sehen. Der vom Fernsehen vermittelte Trost, dass es anderen nicht besser geht, die von Computerspielen bereitgestellte Möglichkeit, Aggressionen virtuell loszuwerden, und die Flucht in virtuelle Lebenswelten helfen nur kurzfristig und verschärfen die Krise. Die Depression ist Volkskrankheit Nummer Eins und weiter auf dem Vormarsch. Nur die Pharmaindustrie kann sich ins Fäustchen lachen, der Absatz von Ritalin und Psychopharmaka dürfte weiter steigen. Mit Foucault gesprochen lässt sich dann auch im ‚wilden Außen‘ nicht mehr die Wahrheit sagen, Prisching formuliert dies so: „Wenn die schrillsten Absonderlichkeiten aus dem profanen Alltag wachsen, […] soll man dann erneut nach Ordnung, Klarheit, Wahrheit rufen wie ein verrückt gewordener Moralpolizist?“

Das Fazit des Gesagten durchwirkt das ganze Buch und es ist zutiefst pessimistisch: „Die Welt geht den Bach runter, aber ich werde schon durchkommen.“ Wenn sich das postmoderne Individuum da mal nicht zu früh gefreut hat.

Titelbild

Manfred Prisching: Das Selbst, die Maske, der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person.
Molden Verlag, Wien 2009.
220 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783854852445

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