Die Grenzen der Literatur

Simon Jander beleuchtet die Gattung des poetischen Essays in der Moderne – am Beispiel von Rudolf Kassner, Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarische Texte werden seit der Sozialgeschichtsschreibung der Literatur Anfang der 1980er-Jahre immer wieder von ihren Grenzen her betrachtet. Sie sind nicht nur ästhetisch autonom, sondern historisch beeinflusst und entsprechen in Form und Themenspektrum auch außerliterarischen Gegebenheiten. Sie rekurrieren auf soziale und politische Wirklichkeit. Auf der anderen Seite haben Literaten auch immer schon nicht nur literarische Gattungen produziert, um auf philosophische, soziale, politische oder allgemein anthropologische Probleme und Zusammenhänge hinzuweisen; sie schreiben für die Tagespresse und für Journale oder präsentieren sich in audiovisuellen Medien und geben Interviews und Einschätzungen der aktuellen Lage. Der Literatur wird damit eine explizite Nähe zu Außerliterarischem und eine sinnstiftende Kommentarfunktion zugewiesen, sowie Autoren eine ethische Integrität und politischer Scharfsinn zugesprochen.

Die Grenzen zu anderen Genres und Textgattungen verschwimmen daher nicht selten. Autoren schreiben nicht nur fiktionale Texte, sondern Essays, Pamphlete oder Abhandlungen. Gottfried Gabriel allerdings hat immer wieder betont, dass auch wissenschaftliche oder philosophische Texte auf literarische Darstellungsmuster rekurrieren und beispielsweise Metaphern verwenden, wo sie heuristisch verfahren und neue Theoreme erproben.

Vor allem für die Moderne sind diese wechselseitigen Bezüge – auch aufgrund der medialen Ausdifferenzierung – immer wieder konstatiert worden. Simon Jander untersucht in seiner Studie daher den Essay als Sammelpunkt dieser formalen und thematischen Grenzüberschreitungen. Ihn interessieren dabei vor allem drei Ausprägungsformen des modernen Essays: der Dialog, Brief- und Monologessay. Leitend ist für Jander die These, dass es eine bislang nicht berücksichtigte Poetisierung des Essays gebe. Allerdings geht es ihm hier weniger um textuelle Besonderheiten als um die Etablierung einer neuen Gattung: „Wenn in der vorliegenden Arbeit das Phänomen einer Poetisierung des Essays in der Moderne zum Thema gemacht wird, so nicht in dem wenig spezifischen Sinn einer allgemeinen ‚Ästhetisierung‘ bzw. ‚Subjektivierung‘ der Textform, sondern als Bezeichnung für das signifikante Aufkommen fiktionaler Essayformen […] in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um Essays, deren Reflexionen an Figuren gebunden sind, d.h. in bestimmten fiktiven Situationen ausgesprochen, geschrieben oder gedacht werden“. Mit anderen Worten: Auch fiktionale Texte können Essays sein. Damit macht Jander eine texttypologisch neue Sparte auf, die er im ersten Teil seiner Arbeit theoretisch zu unterfüttern versucht.

Hierzu referiert der Autor zunächst die verschiedenen Forschungsansätze zur gattungstypologischen Bestimmung des Essays, wobei er grundlegende Begriffe wie Subjektivität, experimenteller Charakter, kritisches Potential, gedankliche Haltung, „spezifische[] reflexive[] und ästhetische[] Verfahrensweisen“ oder sprachliche Besonderheiten in den Blick nimmt. Dabei kritisiert Jander den normativen Charakter bisheriger Bestimmungsverfahren, da sie so an der tatsächlichen Praxis vorbeiführten. Die „[b]egriffliche Konturlosigkeit“, die er der Forschung anlastet, lässt sich allerdings auch seinen eigenen Ausführungen vorwerfen, da am Ende keine hinreichende Bestimmung des eigenen Gegenstands steht, sondern lediglich ein vager, nicht hierarchisierter Merkmalskatalog, der sich auch noch kaum von den kritisierten Ansätzen unterscheidet. Wesentliche Fragen wie die, ob der fiktionale Status seines Gegenstandes hermeneutisch problematisch sein könnte oder wie ein fiktionaler Text Werte und Bewertung kodiert, wie diese Werte rekonstruiert werden können, wie sie und ob sie schließlich dem Autor zugeschrieben werden können, werden im Grunde nicht gestellt. Dabei böten neuere Forschungen hierzu zahlreiche und wichtige Anknüpfungspunkte. Auch der grundlegende Unterschied zu literarischen Texten wie dem Roman, der Novelle oder dem Drama im Gegensatz zum poetisierten Essay werden nicht erhellt. Andere fiktionale Texte können ebenfalls reflexiv sein, soziale, politische oder ethische Themen aufgreifen und literarisch kommentieren oder Weltanschauungen transportieren. Schließlich werden Figuren immer wieder typologisch angelegt, spiegeln Haltungen und Ansichten des Autors wider oder führen zeitgenössische Meinungen ironisch vor. Die „Personalisierung von Reflexion“ in Form von „Äußerungen oder Gedanken einer literarischen Figur“ leuchtet als typologisches Kriterium also nicht unmittelbar ein, da auch andere fiktionale Texte „sich von einer im Zentrum stehenden Reflexion aus strukturieren“. Hier verschwimmt natürlich die von einer Typologie erwartete Trennschärfe einzelner Kriterien und Gattungen.

Dabei ist selbstverständlich einzuräumen, dass narrative Elemente in die Essayistik, gerade um 1900, verstärkt mitaufgenommen werden. Insofern bleibt das Problem, der diskursiven Darstellungsmuster, die bisweilen literarisch überformt sind, ein relevantes Forschungsdesiderat. Ein einschlägiges Beispiel ist hier die Essayistik Gottfried Benns, die auch von Jander exemplarisch aufgegriffen wird. Allerdings ist fraglich, ob die Grenzen zwischen fiktionaler Literatur und nicht-fiktionaler aber zugegebenermaßen narrativ strukturierter Essayistik auf diese Weise nivelliert werden sollten.

Dem theoretischen Teil schließt sich ein historischer Abriss an, in dem die Essaygeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Moderne skizziert wird. Jander beleuchtet hier die Hintergründe, weshalb die Gattung des Essays im Rahmen eines Strukturwandels der Öffentlichkeit zunehmend interessant wurde und versucht ferner eine signifikante Tradition der poetischen Essay-Formen plausibel zu machen, indem er beispielsweise Dialogverfasser und -theoretiker wie Shaftesbury oder Thomasius zitiert, der in seinen „Monatsgesprächen“ „die als erste Zeitschrift […] jeweils fiktive Figuren vor allem über literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen diskutier[t] und […] diese literarische Konzeption explizit mit rezeptionsstrategischen Überlegungen“ verbindet. Auch Lessings „Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer“ oder Friedrich Schlegels „Gespräch über Poesie“ dienen als historische Vorläufer mit „Poetisierungstendenzen […], als deren Resultat fiktionale Essayformen entstehen“. Es folgt ein Exkurs zu Montaigne, Schlegel und Nietzsche, bevor Jander schließlich auf die Essayisik der Moderne eingeht.

Im dritten Teil analysiert der Autor schließlich Rolf Kassners Essayband „Melancholia“, Hoffmannsthals „Erfundene Gespräche und Briefe“ und Gottfried Benns poetische Essayistik der 1920er-Jahre. Neben historischen Kontexten, Betrachtungen von Themenfeldern, der Beschreibung der Entwicklung des Essayistischen Werks der einzelnen Autoren werden die in Frage stehenden Essays einer eingehenden Analyse und Interpretation unterzogen. Diese sind in sich stimmig und durchaus überzeugend, ähneln aber auffällig einer klassischen Interpretation fiktionaler Literatur und ihrer literarhistorischen Einordnung. Spätestens an dieser Stelle also fragt man sich, inwiefern die Unterscheidung von poetisiertem Essay, fiktionalen Texten, Essay oder fachwissenschaftlicher Abhandlung von praktischer hermeneutischer Relevanz sein soll.

Titelbild

Simon Jander: Die Poetisierung des Essays. Rudolf Kassner - Hugo von Hofmannsthal - Gottfried Benn.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2008.
405 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783825354787

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch