Klassiker reloaded

Über Christine Alexanders „Der Krieg des Achill“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die klassischen Werke der deutschen Literatur werden in kanonbildenden Reihen zusammengestellt, Sprache, Nation, Region oder kultureller Kontext bestimmen hierbei die Auswahl. Bei den „Klassikern der Weltliteratur“ sind solche Abgrenzungen nicht gefragt. Sie beinhalten einen Kanon von Werken, die für die kulturelle Entwicklung der Menschheit von Bedeutung sind. Vor allem in der westlich-europäischen Kultur beruft man sich auf die literarischen und kulturellen Traditionen der Römer und der Griechen. Gegenüber Johann Peter Eckermann formulierte Johann Wolfgang von Goethe kurz und knapp: „Im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist.“ In diesem Sinne liefert das vorliegende Buch von Christine Alexander die Rekonstruktion eines klassischen Epos, der „Ilias“ von Homer. Der Ort des Geschehens war namensgebend: Bei Homer hieß die Stadt Troja auch Ilion, daher bekam seine Dichtung den Namen „Ilias“.

Alexander hat schon einige erfolgreiche und in Bezug auf die Wissensvermittlung herausragende Bücher über Ernest Shackletons Südpolexpedition und die Meuterei auf der „Bounty“ geschrieben. Nun widmet sie sich mit Homers „Ilias“ einem der grundlegenden Texte und einflussreichsten Kunstwerke der abendländischen Kultur. Detaillierte Recherchen und eine brillante Sprache führen den Leser an den nahezu dreitausend Jahre alten Text heran. Dass einem zeitlich so von der Gegenwart entfernten Text trotzdem eine Relevanz für den heutigen Leser zukommt, darauf hatte schon Goethe vor zweihundert Jahren verwiesen: „Aber freilich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ Dass sich an dieser Feststellung Goethes kaum etwas geändert hat, dies exemplifiziert Alexander eloquent und einfühlsam, größtenteils sogar spannend – was bei diesem Thema manchem potentiellen Leser kaum vorstellbar sein mag. Hier sollte man und hier kann man überprüfen, dass Sachbücher durchaus kurzweilig sein können.

Die Autorin öffnet dem Leser den Blick auf einen unerschöpflichen Vorrat an Geschichten, Schicksalen, Details und Facetten des Lebens. Götter und Helden tauchen auf und es ist überraschend, wie dieselben in ein alltägliches Kriegsgeschehen eingebettet werden, in dem sie Schmerz, Verrat, Hoffnungslosigkeit, Sterblichkeit und Tod, Liebe und allen anderen Aspekten menschlichen Lebens ausgesetzt sind. Und selbst in den dramatischen Höhepunkten, etwa bei Hektors Kampf gegen Achilles, wird der Leser mit existenziellen Fragen konfrontiert. Alexander verabschiedet sich von der Lesart des Gedichts als „Heldengesang“ und interpretiert die „Ilias“ als Erzählung über den Krieg. Sie gewinnt damit ein Epos über die Menschlichkeit, das mit den Schrecken des Krieges abrechnet. In ihrer gelungenen Art der Darstellung entdeckt sie einen dreitausend Jahre alten Text als ein Paradigma menschlicher Erfahrungen. Anschaulicher und spannender geht es kaum.

Titelbild

Caroline Alexander: Der Krieg des Achill. Die Ilias und ihre Geschichte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff.
Berlin Verlag, Berlin 2009.
320 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783827007506

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