Der Schnabel bleibt trocken

Ermutigende Zeichen aus der Unterwelt

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Jeder kennt sie, die Blumenverkäufer, die durch die Lokale ziehen. Der dicke Strauß Rosen mit dem dahinter zumeist freundlich lächelnden Gesicht wird fast immer genau so aus dem Restaurant hinausgetragen, wie er gekommen ist: Niemand hat auch nur eine Blume gekauft. Und immer wieder frage ich mich, wovon diese Menschen eigentlich leben, selbst wenn sie die Blumen geschenkt bekämen, was aber wohl nicht sehr wahrscheinlich ist.

Es war mein Kollege von der Romanistik, der mir vor Jahren eine Antwort offerierte, an die ich mich seitdem erinnere, wenn ich wieder einmal einen der erfolglosen Blumenträger erlebe: Es sind Spione, im Auftrag der Mafia. Sie kontrollieren und berichten, wie sehr das jeweilige Lokal ausgelastet ist. Die allabendlich gemeldete Belegung bestimmt das „Schutzgeld“. Auch der Mafiosi will kein Unmensch sein, wenn das Geschäft schlecht geht, wird der zu entrichtende Obolus gesenkt, ist immer ausgebucht, steigt der Tarif.

Dass die Schutzgelderpressung eine der Haupteinnahmequellen der organisierten Kriminalität ist, kann man nicht nur der Boulevardpresse entnehmen, auch das Bundeskriminalamt geht diesem komplexen Tatbestand nach. Nach seinen umfassend angelegten, bundesweiten Untersuchungen über „Deutsche und ausländische Gastronomen in Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption“ hat der Politikwissenschaftler Thomas Ohlemacher im April 1997 seine Ergebnisse vorgelegt: Es handelt sich, entgegen beliebter massenmedialer Darstellung, in Deutschland nicht um ein massenhaft verbreitetes Phänomen. Als Betroffenheitsrate sind von 10 bis 20 Prozent der in Deutschland tätigen Gastronomen auszugehen, jedoch bei den türkischstämmigen Befragten zeigte sich ein höherer Anteil von 27 Prozent. Vielleicht war es diese höhere Quote, die dazu führte, dass sich der türkische Generalkonsul Hamburgs an das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen mit der Bitte um Beratung zum Problem der Schutzgelderpressung wandte, was zu der Untersuchung Ohlemachers führte.

Insgesamt richtet sich dieses Verbrechen vor allem gegen Ladenbesitzer und kleine Geschäftsleute, die in der Regel nicht in der Lage sind, größere wirtschaftliche Einbußen dauerhaft zu tragen oder entsprechende Abwehrmaßnahmen einzuleiten. Bei der Schutzgelderpressung wird dem Opfer von einem organisierten Verbrechersyndikat „Schutz“ im Gegenzug zur Zahlung einer Geldsumme „angeboten“. Dies kann auch verdeckt über das Anbieten einer überteuerten „Dienstleistung“ geschehen. In der größten Zahl der Fälle reduziert sich die Schutzgelderpressung auf die blanke Androhung von physischer Gewalt gegen Angestellte, Inhaber, Familienmitglieder oder das Betriebsvermögen.

Entrichtet das als zahlungsfähig definierte Opfer den verlangten Betrag, wird es im Idealfall nicht über Gebühr behelligt, weigert es sich, finden in der Regel die Drohungen ihre massive Anwendung. Allerdings bedeutet die Zahlung einer derart erpressten Summe zumeist nur den Auftakt einer immer intensiveren Ausbeutung und Bedrohung, wobei achtsam darauf geachtet wird, den wirtschaftlichen Ruin des Unternehmens zu vermeiden: Der Parasit will seinen Wirt nicht ermorden.

Gelegentlich wird im Rahmen der „Dienstleistung“ tatsächlich ein „Wachschutz“, „Veranstaltungsschutz“ oder eine Alarmaufschaltung mit Notruf geboten. Immer wieder werden Fälle bekannt, in denen diese „Dienstleistungen“ und „Anbieter“ tatsächlich qualitative Arbeit leisten und die „offiziellen“ Verträge erfüllen. Allerdings beginnt hier eine diffuse Grauzone, da schon das Zustandekommen der Verträge häufig durch den erwähnten direkten oder indirekten Einsatz von Drohungen und Druck begleitet wird. Die „Auftraggeber“, also die Opfer einer solchen Erpressung, haben somit weder die Wahl, ob ein solcher Vertrag überhaupt zustande kommen soll, noch können sie wesentliche Konditionen wie Vertragsdauer, Preise, Leistungsumfang und so weiter frei bestimmen. Bekannt geworden sind Fälle, in denen Selbstständige mittels massiver Bedrohung gezwungen wurden, gegen ihren Willen zusätzliches Personal zu beschäftigen und branchenunangemessen zu bezahlen. In einigen Fällen wurden Scheinarbeitsverträge erstellt und Löhne für nicht existentes Personal bezahlt. Gerade bei den türkischen Opfern wird zudem vor allem von der Erpressung von „Spendengeldern“ berichtet.

Strafrechtlich ist Schutzgelderpressung kein einzelner Straftatbestand, es handelt sich vielmehr um komplexe kriminelle Handlungen, die in unterschiedlichen Begehungsweisen verschiedene Straftatbestände beinhalten. Dazu gehören unter anderemStraftaten wie Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Nötigung, Körperverletzung oder auch räuberische Erpressung.

Auf Sizilien zahlen angeblich bis zu 70 Prozent der Unternehmen ein solches „Schutzgeld“, was erhebliche und vor allem dauerhafte Auswirkungen sowohl auf die erpressten Menschen als auch die Unternehmen als Ganzes hat. Neben der am Ende doch oftmals vernichteten wirtschaftlichen Existenz einzelner Unternehmen schwächt sie durch kontinuierliche und erhebliche Wertabschöpfung den Wirtschaftskreislauf erheblich, verändert das bestehende, selbstregulierende Gleichgewicht des Marktes und setzt Menschen unter einen erheblichen, weil andauernden und in Einzelfällen lebensbedrohlichen psychischen Druck. Die Kontinuität der Bedrohung ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zu anderen, nur situativ auftretenden Verbrechensformen.

Auch die Untersuchungen von Thomas Ohlemacher haben für Deutschland deutlich gemacht, dass zwar der finanzielle Schaden insgesamt erheblich, der ideelle Schaden wenigstens ebenso groß, wenn nicht noch größer ist: Dieses Verbrechen kann bei den Opfern zu einem dramatischen Vertrauensverlust in Rechtsstaat und Demokratie führen. Nicht unberechtigt überschrieb er die Publikation seiner Ergebnisse im Jahr 1998 mit „Verunsichertes Vertrauen? Gastronomen in Konfrontation mit Schutzgelderpressung und Korruption.“

Gerade weil dieses Vertrauen in den Rechtsstaat auf der Insel Sizilien seit der und durch die Entstehung der Mafia im 19. Jahrhundert nicht funktionierte, mussten die Bauern für ihr Land neben den staatlichen Steuern auch noch eine Schutzgebühr an die Mafia zahlen. Verweigerten sie diese pizzo, wurden ihre Ländereien zerstört. Es ist der Vogelschnabel, der seinen Namen für diese kriminellen Taten hergeben musste, heißt es doch im Italienischen fari vagnari a pizzu oder bagniusi u pizzu, den Schnabel eintauchen oder befeuchten. Nach einem Bericht der Tageszeitung „La Repubblica“ belaufen sich die Abgaben sizilianischer Besitzer kleiner Läden auf 500 bis 1.000 Euro pro Quartal, bessere Geschäfte wie etwa Juweliere müssen 3.000 Euro abgeben, große Läden 5.000 Euro. Angeblich ausgenommen seien Geschäftsleute, die Verwandte im Gefängnis haben, einen Trauerfall in der Familie zu beklagen oder einen Polizeibeamten unter den Verwandten haben. Das Problem sei bislang unter den Geschäftsleuten totgeschwiegen worden, fast alle bezahlten jedoch die Schutzgelder, keiner wolle es zugeben. In ganz Italien seien es mindestens 160.000 Unternehmen und Geschäfte, die im Jahr 2009 erpresst wurden, gut dreimal so viel wie vor 20 Jahren, die Einnahmen der Mafia haben sich in diesem Zeitraum angeblich verzehnfacht.

Neben dem klassischen Drogenhandel gehört der pizzo zum Kerngeschäft der Mafia, deren Gesamtumsatz auf 100 Milliarden Euro geschätzt wird, doppelt so viel wie der Autokonzern FIAT, was sie zu „Italiens größtem Unternehmen macht“, wie es der Italienkorrespondent der ARD, Jörg Seisselberg, nannte. Allein auf Sizilien bringe das Schutzgeld der Mafia jährlich sieben Milliarden Euro, in Italien landesweit durch Schutzgeld und Erpressung 15,5 Milliarden ein. Über die Gesamtbilanz der seit Jahrzehnten weltweit agierenden Mafia liegen keine Angaben vor.

Was als ein nicht veränderbares Schicksal von vielen, Unternehmern wie Kunden, jahrzehntelang hingenommen wurde, könnte nunmehr zu einem Ende kommen: Am 21. Januar dieses Jahres präsentierte ausgerechnet der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Italien und San Marino, Michael Steiner, einen Plan der sizilianischen Hauptstadt Palermo, auf dem ausschließlich Geschäfte verzeichnet sind, die sich verpflichtet haben, kein Schutzgeld (mehr?) an die Mafia zu zahlen. Hauptzielgruppe des Plans sind deutsche Touristen, die möglichst in Mafia-freien Geschäften einkaufen sollen.

Auf www.addiopizzo.org kann man es sich ansehen: Blaue Nummern geben an, wo die Mitglieder von Addiopizzo ihre Unternehmen betreiben. Das Hotel Addaura Reef und seine Sushi-Bar ist nur einer der insgesamt 420 Betriebe und Geschäfte, die Mitglieder der freiwilligen Vereinigung sind und angeblich kein Schutzgeld bezahlen. Vor allem junge Unternehmer seien es, die sich offen der bisherigen Erpressung widersetzen. Der Anwalt Gabriele La Malfa Ribolla, der vor fünf Jahren diese Initiative ergriff, wird zitiert mit den Worten: „Wir sind es bisher in Sizilien gewöhnt, Betriebe als Opfer zu sehen, wenn sie ‚Pizzo‘ bezahlen, und sollen Mitleid mit ihnen haben. Es gehört zum gesellschaftlichen Wandel, dass diese alte Welt langsam ausstirbt.“

Vorausgegangen war eine Flugblattkampagne, die die ganze Stadt Palermo erfasste; auf den verteilten Blättern stand zu lesen: „Ein ganzes Volk, das Pizzo bezahlt, ist ein Volk ohne Würde.“ Dass gerade der deutsche Botschafter den Plan für „Lo shopping pizzo-free“ präsentieren muss, ist eine kleine ironische Wende für den aufmerksamen Zeitungsleser. War es doch Michael Steiner, damals noch sicherheitspolitischer Berater des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, der am 2. November 2001 auf einem Moskauer Flughafen einen deutschen Oberfeldwebel und zwei weitere Soldaten mehrfach als „Arschloch“ beschimpft hatte und – angeblich „scherzhaft“ – aufgefordert hatte, ihm endlich Kaviar zu servieren. Die heute 61jährige Botschafterexzellenz, die bislang als „raubauzig“ charakterisiert wurde, scheint dazugelernt zu haben. Anstatt Kaviar gibt es nun, mit seiner medial inszenierten Unterstützung, pizzofreie Pizza auf Sizilien.

Ob das nun bereits ein Weg ist, die weltweit operierende organisierte Kriminalität der Mafia und auch der vielen anderen mafiosen Organisationen zu bekämpfen, kann von Zynikern leichtfertig in Zweifel gezogen werden. Die global operierenden Klans, die an Prostitution, Menschenhandel, Drogenhandel und Subventionsbetrug „verdienen“, lassen sich gewiss nicht durch Stadtpläne einschüchtern. Gerade die kriminelle Unterwanderung von legalen Wirtschaftssektoren wie der Bauwirtschaft, der Wohnungswirtschaft, der Abfallentsorgung, der Gastronomie und dem offiziellen Bank- und Finanzwesen ist wesentlich schwerer zurückzudrängen, nicht zuletzt weil deren Integration in den normalen und legalen Wirtschaftskreislauf erheblich fortgeschritten zu sein scheint.

Dennoch sollten solche mutigen Aktionen vor allem in ihrer psychologischen Wirkung nicht gering geschätzt werden. Gleichzeitig scheint der groß angekündigte Anti-Mafia-Plan der italienischen Regierung erste Wirkung zu zeigen, am 27. Januar 2010 wurde auf Sizilien Mafiabesitz im Wert von 550 Millionen Euro sichergestellt. Der „realistische Morgensegen“, wie Hegel das tägliche Zeitungslesen nannte, lässt diesmal das Herz hoffnungsvoll schlagen.