Die glückliche Liebe hat keine Geschichte

Typische Spannungselemente in der Liebesliteratur, demonstriert an Romanbeispielen der Gegenwart

Von Doreen FräßdorfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doreen Fräßdorf

„Wenn ein Liebesroman sich nicht auf die ‚bittere Süße‘ bezöge, sondern etwa auf die bloße Süße, dann wäre er als Roman gar nicht möglich“, meinte der deutsche Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Gerhard Storz 1941 in „Gedanken über die Dichtung“. Darin stimmt er mit Niklas Luhmann überein, dem an der modernen Liebesliteratur auffiel, dass hier sexuelle Beziehungen oft Prägungen und Bindungen erzeugen, die ins Unglück führen. Die Tragik in dieser Literatur besteht nicht mehr darin, dass die Liebenden nicht zueinander finden. Tragisch ist hier vielmehr, dass sexuelle Beziehungen zu Liebesgefühlen führen, denen man sich anschließend nicht mehr entziehen kann. Es ist daher folgerichtig, dass gerade in der modernen Liebesliteratur immer wieder von gescheiterten Beziehungen, von Trennungen, der Suche nach dem richtigen Partner oder Eheproblemen die Rede ist – alles andere wäre auch nicht spannend und würde keineswegs zum Weiterlesen animieren.

Liebesromane und Spannung? Gewöhnlich werden diese Begriffe nicht in einem Atemzug genannt. Vielmehr handelt es sich bei Spannungsliteratur zumeist um Kriminalromane, Detektivgeschichten oder Abenteuererzählungen. Also Geschichten, in denen Gefahren für die literarischen Figuren als Spannungsfaktor eine große Rolle spielen. Doch was in einem Text als Gefahr anzusehen ist, hängt davon ab, was der Text als gefährlich suggeriert. Die Beschreibung einer Gefahr ist keineswegs an bestimmte Motive gebunden. Sie ist potenziell für jeden Inhalt offen und somit auch für Motive der Liebesliteratur. Der Schriftsteller Dieter Wellershoff stellt fest, dass gemeinhin der Aktions- und Abenteuerroman als spannende Lektüre gilt, aber er sagt auch, dass eine „geistige Spannung“ durch die Vermehrung erzählter Probleme entsteht. Dies kann ein Abenteuerroman nicht bieten, da dort durch eine rasche Abfolge einzelner Schocks die Spannung lediglich punktuell entsteht und gleich wieder aufgelöst wird. Ganz anders geartet ist dagegen ein Problemfeld mit vielfältigen, wechselseitigen Abhängigkeiten und Beziehungen, die zudem noch von einer gemeinsamen Grundspannung gespeist werden, wie das etwa bei einem Liebesroman der Fall ist.

Ein Autor hat in der Regel den Wunsch, dass ein Leser ein Werk bis zum Ende liest. Daran zeigt sich, welch große Bedeutung die Spannung in der Literatur (oder auch im Film) hat. Um zu erreichen, dass ein Text gerne zu Ende gelesen wird, muss der Autor Strategien entwickeln und anwenden, mit denen er Spannung erzeugen kann. Bei der Spannung handelt es sich um ein Phänomen, dass sowohl auf der Handlungsebene als auch auf formaler Ebene eines Textes angesiedelt ist. Viele Spannungselemente, die für andere Genres üblich sind, gibt es auch in der Liebesgeschichte. Daher erscheint es vielversprechend, typische Motive aus Liebesromanen einmal mit dem Blick auf Spannung zu untersuchen.

Das literarische Interesse an Nebenbuhler-Figuren verdankt sich der menschlichen Neigung zur Eifersucht und ist eine Konstante in der Literaturgeschichte der letzten Jahrhunderte. So auch in Ingo Schulzes Wenderoman „Adam und Evelyn“ (2008). Wenn der von Evelyn verlassene Adam und der westdeutsche Michael um Evelyns Gunst kämpfen, stellt sich dem Lesenden die Frage nach dem möglichen Erfolg und Misserfolg der beiden Figuren. Und er wünscht sich, dass der sympathische Protagonist Adam zum Zuge kommt und Evelyn für sich wiedergewinnt, während der unsympathisch geschilderte, mit unlauteren Mitteln arbeitende Michael als Verlierer aus der Konkurrenz hervorgehen soll.

In Monika Marons Liebesroman „Animal triste“ (1996) muss Franz zwischen zwei Nebenbuhlerinnen eine Entscheidung fällen. Bleibt er weiterhin bei seiner Ehefrau oder zieht er zu seiner Geliebten, der Ich-Erzählerin? Franz’ Gefühle und Gedanken kennt der Leser nicht, es wird alles aus der Perspektive der Ich-Erzählerin berichtet. Doch das macht es umso spannender. Für welche Frau wird sich Franz denn nun entscheiden? Der Leser findet vermutlich die Ich-Erzählerin sympathischer als ihre Nebenbuhlerin, denn er ist Mitwisser ihrer Gedanken und Gefühle. Nur in ihre Situation kann er sich einfühlen, kann für sie hoffen und bangen.

Ein weiteres typisches Motiv ist die unerfüllte Sehnsucht. „Ich würde im Moment ein Bein hergeben oder beide, um noch einmal den Mann anfassen zu können, noch einmal zu spüren, wie es ist, nicht allein zu sein auf dieser unerfreulichen Welt“, sagt die Ich-Erzählerin in Sibylle Bergs neuem Roman „Der Mann schläft“ (2009). Damit wären wir wieder bei Luhmann, für den sexuelle Bindungen in modernen Liebesgeschichten immer ins Unglück führen, die Liebe aber bestehen bleibt. Unerfüllte Sehnsucht ist die Folge.

In „Animal triste“ erinnert sich die Ich-Erzählerin an die Zeit mit ihrer großen Liebe Franz, der sie verlassen hat. Erst durch diesen Mann, so scheint es, hat ihr Leben an Bedeutung gewonnen. All ihre Erinnerungen drehen sich um ihn – als habe es kein Davor und kein Danach gegeben. Auch in Bergs Romans erinnert sich die unglücklich verliebte und verzweifelte Ich-Erzählerin noch einmal an die Zeit mit ihrem Mann, der eines Tages vom Brot- und Zeitungkaufen plötzlich nicht mehr zurückkehrte. Hier fragt man sich als Leser nicht nur, ob der Mann vielleicht doch wieder auftaucht, sondern sucht auch nach möglichen Gründen für die Trennung sowie auch nach Hinweisen, wie diese vermeidbar gewesen wäre. Spannung entsteht dabei, weil der Leser auf der Suche nach Ursachen ist. All dies kann nur aus dem erschlossen werden, was die Ich-Erzählerin tut und sagt. Wie schon in „Animal triste“ sehen wir den Geliebten nur durch die Augen der Erzählerin.

Das Motiv der Trennung findet sich besonders oft in der Liebesliteratur. Auch diese vielen literarischen Trennungs-, Heimkehrer- und Entzweiungsgeschichten verdanken ihre ungeheure Attraktivität ihrem Spannungspotenzial. In Sibylle Bergs „Der Mann schläft“ ist die Ich-Erzählerin von ihrem Mann getrennt. In „Animal triste“ wurde die Protagonistin augenscheinlich von Franz verlassen. Urs Widmers „Der Geliebte der Mutter“ (2000) erzählt, wie Clara, die Mutter des Erzählers, zeitlebens ihrem ehemaligen Geliebten Edwin nachtrauert: „Die Mutter liebte ihn ihr ganzes Leben lang. Unbemerkt von ihm, unbemerkt von jedermann. Niemand wußte von ihrer Passion, kein Wort sagte sie jemals davon.“ Eine Trennung sorgt für Spannung. Ein Leser wird das Buch bis zum Ende verfolgen, um herauszufinden, ob die Trennung endgültig ist oder ob die Liebenden wieder zusammenfinden. Der Leser wird auch Wünsche und Hoffnungen hegen, dass das Leid der verlassenen Figur ein Ende haben möge.

Ohne eine Problematik dieser Art ist kein Roman möglich. Auch kein Liebesroman. Und „Problematik bedeutet […] nichts anderes als das Janusgesicht des Stoffes, das heißt, daß sich in ihm ein doppelter Sinn entgegensteht“, so Gerhard Storz. Diese Aussage erinnert an den von Luhmann rekonstruierten Liebescode der Paradoxie, wie beispielsweise die erobernde Selbstunterwerfung, das gewünschte Leiden, die sehende Blindheit, die bevorzugte Krankheit oder das süße Martyrium. Auch solche Paradoxien oder Widersprüche fördern die Spannung, da sie den Lesenden vor ein Rätsel stellen. Es ist nicht immer auf Anhieb verständlich, warum die Figuren so handeln, wie sie handeln. Erst im Verlauf einer interessierten, gespannten Lektüre kann der Leser das verstehen oder nachempfinden. So ist es etwa in Ingo Schulzes Roman schwer nachvollziehbar, wieso Adam mehrfach fremdgeht, wenn er Evelyn doch liebt. Und wieso hört Clara in Urs Widmers „Der Geliebte der Mutter“ nicht auf, Edwin zu lieben? Er hat doch bereits eine andere, sehr viel wohlhabendere Frau geheiratet, misst ihrer Person keinerlei Bedeutung bei und hat sie sogar mehr oder minder zur Abtreibung des gemeinsamen Kindes genötigt. Erst durch das Liebesunglück entwickelt sich eine Erzählung, die ein Leser mit Spannung verfolgen kann. Eine glückliche Liebe ergibt, für sich genommen, keine spannende Geschichte.