Mordmetropole im Ländle

Über Christine Lehmanns Krimi „Mit Teufelsg’walt“

Von Stefan SchweizerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schweizer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Stuttgart als Schauplatz von Verbrechen ist en voque. Das zeigt sich an Krimis im Fernsehen wie dem neuen Tatort (ARD) oder der SOKO Stuttgart (ZDF). Aber auch literarisch hat die Landeshauptstadt Baden-Württembergs Kriminalistisches zu bieten.

Friedrich Glauser sagte einmal sinngemäß, dass der Kriminalroman das einzig probate literarische Mittel sei, um soziale Missstände aufzudecken und Kritik an der sozialen Realität zu üben. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Ging es Glauser – dem morphiumsüchtigen Autor mit der feinen Verve für Ausgestoßene, Schwache und sozial Unterdrückte – um eindrucksvolle und nachhaltige Milieuschilderungen der Schweiz in den 1930er-Jahren, so beschäftigt sich Christine Lehmann nicht weniger intensiv mit dem Hier und Jetzt der bunderepublikanischen Verhältnisse. Und – folgt man der schlüssigen Argumentation ihrer Romane – so stimmt einiges nicht. Jeder ihrer Romane birgt einen anderen sozialen Sprengstoff in sich und immer sind es Biedermänner mit aalglatten Masken, die für einen großen Anteil verantwortlich sind an Verbrechen, Korruption und sozialen Missständen.

In ihrem neuesten Roman „Mit Teufelsg’walt“ wendet sich die im Allgäu und Stuttgart lebende Autorin einem schwierigen Thema zu: dem deutschen Sorgerecht. Kunstvoll in die Romanhandlung eingebettet, entfaltet sich der sorgfältig recherchierte theoretische Diskurs, wann und wie von Amts wegen für das Kindeswohl interveniert werden darf. Schön ausbalanciert tastet sich die Autorin zum Kern der Wahrheit hin, welcher in einer nicht durchdringbaren Graumelange besteht. Alle besitzen demnach ihre blinden Flecken und tragen Mitschuld: die Ämter und die Justiz maßen sich Urteile an, welche das Leben von ganzen Familien in ihren Grundfesten erschüttern, Eltern sind nicht in der Lage, ihre Kinder angemessen aufzuziehen und Kinder driften früh in ein Leben mit hoher krimineller Energie und ohne Perspektive ab. Im Buch finden wir eine Familienrichterin, die zwei Mal das Schicksal des plötzlichen Kindstods zu beklagen hat und die Müttern unbegründet das Sorgerecht entzieht. Um Kindeswohl bemühte Stiftungen manipulieren ihre Bilanzen (Kinder sind dabei fiktive Zahlen, die sich beliebig ändern lassen) um an öffentliche Gelder zu gelangen und Amtsleiter öffentlicher Einrichtungen verlangen davon ihren Anteil. Die schleichende Korruption hat demnach längst Einzug in die bundesdeutsche Wirklichkeit gehalten. Zynischer kann man es kaum sichtbar machen: Es geht um Geld, das mit menschlichen Elend gemacht wird unter dem Deckmantel der Kinderliebe. Das Ende des Romans überrascht. Kinder reproduzieren – das ist die Quintessenz – nur die ihnen bekannten sozialen und gesellschaftlichen Verhaltensmuster.

Dass die schillernde, bisexuelle Privatdetektivin Lisa Nerz keinen Wunsch nach eigenen Kindern verspürt, ist klar. Sehr erheiternd und ironisch wirkt es dann, wenn ihr Lebensabschnittsirrtum, Oberstaatsanwalt Weber, seine väterlichen Seiten entdeckt. Liebevoll kümmert er sich um einen Säugling, von dem keiner weiß, wohin er gehört. Weber offenbart süffisant seine weichen Seiten, der Karriere-Jurist mutiert zum liebevollen und sich sorgenden Ersatz-Papa. Lisa Nerz kann dafür kein Verständnis aufbringen. Ihre Position bleibt eindeutig: niemals Kinder. Allerdings zwingt sie das Verhalten von Weber, ihre Kinderlosigkeit und das Verhältnis zu ihrer Mutter grundlegend zu reflektieren. Die Motivation der Privatdetektivin, die Missverhältnisse aufzudecken, liegt also nicht in ihrer Liebe zu Kindern begründet. Vielmehr wittert sie von Amtswegen initiierten Missbrauch in vielfacher Hinsicht. Hinzu kommen zwei Morde: Die Familienrichterin Sonja Depper und Nina Habergeiß werden ermordet. Lisa Nerz kümmert sich um die Tochter der in ihrem Hause zu Tode gekommenen Habergeiß und betreibt ihren gewohnt investigativen Journalismus, der sie gleichzeitig als versierte Detektivin ausweist. Lange Zeit fokussiert Nerz sich auf dubiose Stiftungen, die sich dem Wohl von Kindern aus zerrütteten Familien verschrieben haben. Allerdings lauert das dicke Ende woanders und am Ende gerät Lisa Nerz in höchste Lebensgefahr.

Die provinzielle Metropole Stuttgart ist vielfältig und hinter dem biederen Charme von Trollinger, Maultaschen und Kehrwoche lauern tiefe Abgründe. Dieser Fall spielt – einmal mehr – im Stuttgarter Osten. In dieser Arbeitergegend – früher einmal der rote Osten genannt – lebt und ermittelt Nerz und die intensive Atmosphäre dieses Stadtviertels teilt sich dem Leser unmittelbar mit.

Christine Lehmann bietet alles, was eine vollendete Kriminalautorin besitzen muss: Den liebevollen Blick fürs Detail, die unter einer Schicht Ironie versteckten, ergreifenden Milieuschilderungen, die ausgewogene Beschreibung der vollen sozialen Realität und den Verzicht auf simplifizierende Schwarz-Weiß-Kolorierung.

„Mit Teufelsg’walt“ ist rundum ein gelungenes Lesevergnügen, das grundsätzliche Fragen nach Recht und Unrecht in Sachen Kindeserziehung stellt. Allerdings wird diese ernsthafte Volte durch die bunten Charaktere aufgelockert und der mitreißend-ironische Stil zieht den Leser so in seinen Bann, dass man das Buch nur ungern weglegen möchte – auch wenn dies dem Kindeswohl dienen würde.

Titelbild

Christine Lehmann: Mit Teufelsg'walt.
Argument Verlag, Hamburg 2009.
285 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-13: 9783867541794

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