Der Rebell, der zum Klassiker wurde

Klaus-Detlef Müllers Brecht-Arbeitsbuch erscheint in einer Neuauflage

Von Ines SchubertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Schubert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Totgesagte leben bekanntlich länger. In diesem Falle avancierte der von vielen allzu gern und schon allzu oft zu Grabe Getragene zu einem der bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Literatur: Neben Goethe und Schiller, neben den Romantikern, neben Fontane und Thomas Mann ist es eben Bertolt Brecht, der im Deutschunterricht der Oberstufe traktiert wird, der die germanistischen Vorlesungsverzeichnisse bestimmt, der jedes gut sortierte Bücherregal schmückt.

Das Phänomen Brecht zu ergründen, sein Gesamtwerk vorzustellen und nicht zuletzt den Künstler Brecht von allerlei politischen und philosophischen „ismen“ freizusprechen, macht sich das Arbeitsbuch zur Literaturgeschichte „Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung“ zur Aufgabe. Klaus-Detlef Müllers Band, der zuerst 1985 erschien und seit 1998 vergriffen war, nun aber neu erarbeitet aufgelegt wird, leistet alles, was der interessierte Leser von einer exzellenten und sehr hilfreichen Einführung erwarten darf: In neun Kapiteln werden Brechts Leben und Wirken in „finsteren Zeiten“, die einzelnen Phasen seines lyrischen und dramatischen Schaffens, die theoretischen Fragmente eines episch-dialektischen Theaters sowie die Rezeption dieses die Gemüter oftmals spaltenden Autors umfassend dargestellt. Müller geht hierbei stark textorientiert vor, analysiert exemplarisch, betrachtetet vielfältige Interpretationsansatzpunkte und knüpft immer wieder Bezüge zwischen den einzelnen Werken, ihren Produktionsphasen und Bearbeitungsstufen. Ergänzt werden diese Ausführungen durch eine bewusst auswählende und begrenzte Gesamtbibliografie sowie sehr benutzerfreundliche bibliograpfsche Grundlageninformationen zu Beginn eines jeden Kapitels.

Ausschlaggebend für die Neubearbeitung, die das Brecht-Arbeitsbuch erfahren hat, dürfte weniger, sein, dass es mehr als zehn Jahre vergriffen war, als vielmehr sein veralteter Forschungsstand. Die 1998 abgeschlossene Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe hat der Brecht-Forschung eine völlig neue Textgrundlage beschert, die durch den Registerband 2000 zudem bemerkenswert gut zu erschließen ist. Die Edition der unzähligen verschiedenen Textfassungen und Bearbeitungsstufen des Brecht´schen Werkes stellte den traditionellen Kunstwerkbegriff eines autonomen in sich geschlossenen Werkes grundsätzlich in Frage. Vor allem aber negierte sie die in der älteren Forschung virulente Vorstellung einer Entwicklung des Autors Brecht nach klassischem Muster. Als Mitherausgeber dieser inzwischen maßgeblichen und verpflichtenden Ausgabe trägt Klaus-Detlef Müller der veränderten Forschungssituation Rechnung und folgt dem Postulat seines Herausgeberkollegen Jan Knopf, dass mit der Brecht-Rezeption von vorn zu beginnen sei.

„Das Werk [Brechts] historisch zu verstehen […], im Kontext [seiner] gesellschaftspolitischen und von vielen bedeutenden Geistern geteilten ideologischen Voraussetzungen zu analysieren und deren Konsequenzen für die ästhetischen Verfahrensweisen zu verdeutlichen“, lautet Müllers Deutungsmaxime. Die einführenden Darstellungen der Brecht´schen Epochenerfahrung und der extrem heterogenen gesellschaftspolitischen Formationen, die Brechts Lebenszeit bestimmten, sind deshalb dem Bemühen geschuldet, die Bedingungen seiner Autorschaft und Produktion zu objektivieren.

Aber darin erschöpft sich Müllers Ansatz nicht. Die Stärke des Arbeitsbuches besteht vielmehr darin, dass in den sich anschließenden Besprechungen die Vernetzung zwischen den zeitgenössischen Bedingungen, der aktuellen Kritik Brechts und seinem künstlerischen Schaffen stets mitgedacht und offen gelegt wird. Besonders eindrucksvoll lässt sich diese Vernetzung an der grundlegenden Kategorie der Veränderbarkeit des Brecht´schen Kunstwerkes zeigen, die durch die Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe hinreichend belegt und von Müller in die vorliegenden Analysen einbezogen wurde. Auch den, Brecht-Einsteigern´ wird schnell deutlich, dass dessen Stücke stets kritisch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Entstehungszeit antworten, sei es beispielsweise hinsichtlich des Kunstverständnisses der spätbürgerlichen Gesellschaft im wilhelminischen Kaiserreich („Baal“), sei es hinsichtlich der Entfremdung und Verdinglichung in der modernen Gesellschaft („Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“) oder im Hinblick auf die gesellschaftliche Verantwortung des Wissenschaftlers im atomaren Zeitalter („Leben des Galilei“).

Klaus-Detlef Müller schätzt seinen Gegenstand – dies führt auch zu leichten Überschätzungen. So erscheint die Betonung des politischen Weitblicks Brechts im Zusammenhang mit dem „Aufstieg des Aturo Ui“ wenig überzeugend. Dem Umstand, dass Brecht bereits „in den Anfangsjahren der Hitler-Diktatur (des tausendjährigen Reiches!) schon deren Untergang“ thematisiert habe, steht seine definitorische Beschränkung des Nationalsozialismus auf die Dimitroff-These entgegen. Hieraus resultiert jedoch nicht Brechts „Unterschätzung der antisemitischen Konsequenzen bis hin zum Zivilisationsbruch des Holocaust“, sondern schlicht deren Missachtung. Gerade im Hinblick auf die aktualisierte Textfassung der Parabel „Die Rundköpfe und die Spitzköpfe“ von 1938 wäre es wünschenswert gewesen, dies deutlicher herauszustellen, statt sich auf die ästhetische Bewertung „eines der dramaturgisch glänzendsten Stücke Brechts“ zu fokussieren.

Im inzwischen sehr dicht gewachsenen Dschungel der Brecht-Forschung bietet Klaus-Detlef Müllers Einführung „Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung“ einen sehr nützlichen Kompass. Auf der Grundlage des Forschungsstandes der „Großen kommentierten Frankfurter und Berliner Ausgabe“, des fünfbändigen von Jan Knopf herausgegebenen „Brecht-Handbuch“ und der „Brecht-Chronik 1898-1956“ Werner Hechts dient es der ergänzenden Komprimierung und sei jedem empfohlen, der sich mit dem Gesamtwerk Bertolt Brechts vertraut machen möchte.

Titelbild

Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht. Epoche - Werk - Wirkung.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406591488

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