Feder und Hammer

In „Ein verborgenes Leben“ erzählt Sebastian Barry vom harten Los der Frauen im Irland der Bürgerkriegsjahre

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Erzählen Voraussetzung individueller wie kollektiver Erinnerung, Sinn- und Identitätsstiftung ist, steht für den irischen Schriftsteller Sebastian Barry außer Frage. In seinem Roman „Ein verborgenes Leben“, der 2008 für den Booker Preis nominiert war und 2009 die Auszeichnung „Bester irischer Roman“ erhielt, schreibt die Insassin einer psychiatrischen Klinik, eine fast hundertjährige Frau, von der niemand auch nur ahnt, dass sie eine Geschichte haben könnte, heimlich ihre Erinnerungen nieder: „Ich bin vollkommen allein, in der weiten Welt außerhalb dieser Mauern gibt es niemanden, der mich noch kennt; meine ganze Familie, diese wenigen verlorenen Gestalten, vor allem mein kleiner Zaunkönig von einer Mutter, sie alle sind nicht mehr. Und auch meine Peiniger, denke ich, sind größtenteils dahin.“ Doch wer ist diese Roseanne McNulty, die, bevor sie aus dem Leben verschwindet, auf „überschüssigem Papier“ aus der Vorratskammer einen aufrichtigen „Rechenschaftsbericht“ erstatten möchte?

Ihre Geschichte beginnt in Sligo und ist mit diesem Ort untrennbar verbunden. Der Vater, ein überzeugter Presbyterianer, ist Friedhofswärter in der katholischen Kleinstadt und wird von allen geschätzt. Ihre Erinnerungen an ihn, der ein wunderbarer Mensch gewesen sein soll, nehmen einen großen Teil des Romans ein. Nicht nur eine der zentralen Szenen, in der er auf den Kirchturm klettert, um seiner Tochter die Theorie über die gleiche Fallgeschwindigkeit aller Gegenstände – Hämmern und Federn – zu beweisen, ist von besonderer poetischer Kraft. Seine Entscheidung, einen IRA-Kämpfer, den seine Kameraden im Jahre 1922 in sein Haus bringen, zu beerdigen, zerstört über Nacht die Familie. Die psychisch labile Mutter, die in diesem „kalten, grausamen Landstrich“, im „scheußlichen Regen“ und unter den „scheußlichen Leuten“ nie heimisch werden konnte, geht an der Armut zugrunde, stirbt Jahre später in einer psychiatrischen Anstalt. Roseanne schlägt als junges Mädchen das Heiratsangebot eines älteren katholischen Mannes, das aus der Sicht Father Gaunts für sie als mittellose Protestantin die Rettung sein könnte, aus. Der mächtige Priester, der maßgeblich am Untergang der Familie beteiligt gewesen ist, besitzt die „moralische Vorherrschaft“ über die Stadt und antwortet mit weiteren Intrigen.

Auch Dr. Grene, der leitende Psychiater der Anstalt, beschäftigt sich mit dem „Fall McNulty“, muss er sich doch entscheiden, wer von seinen Patienten in den Neubau umziehen, wer entlassen werden soll. Er tut dies im Bewusstsein, dass sich sein Berufsstand in den 1920er- und 1930er-Jahren, als in einer politisch äußerst unsicheren Zeit Gerüchte über Schicksale entschieden haben, einige Fehler geleistet hat. Womöglich sind einige Frauen ohne Grund in seiner Klinik? Das Verderben der Hauptfigur scheint in dieser Hinsicht ihre außergewöhnliche Schönheit gewesen zu sein. Ihre Ehe wurde von der Kirche annulliert, man soll ihr dann auch noch ihr (uneheliches) Kind weggenommen haben. Oder ist sie weggesperrt worden, weil sie ihr Kind getötet hat? Nicht nur ihre sprunghafte Erzählstimme verhindert eine klare Sicht der Dinge. Sie versteckt die (zeitbedingten) Gräuel ihres Lebens hinter einer „Mauer aus imaginärem Mörtel und imaginären Ziegeln“, überzeugt davon, dass man auf diese Weise „Schöpfer seiner selbst sein kann“. So handelt dieser Roman, der Dramatisches in einer verstörend einfühlsamen Sprache zu erzählen weiß, auch von narrativen Verfahren, die Inhalt und Deutung der Erinnerung mitkonstruieren. Als zweite Erzählinstanz wird Dr. Grene die regulative Kraft der Geschichte: Als irisches Adoptivkind in einer englischen Familie aufgewachsen, soll er in der Lage sein, die konkurrierende Geschichte unparteiisch zu erzählen. Doch er ist stärker involviert, als er es je vermuten könnte.

Sebastian Barrys Roman steht unter der Vorgabe, auf die Geschichte(n) Irlands vergessener Frauen hinzuweisen. In Zeiten der sich jahrelang hinziehenden politischen Machtkämpfe der Männer sind sie Opfer fragwürdiger gesellschaftlicher Konzepte geworden: Sie wurden marginalisiert, aus dem öffentlichen Leben verdrängt, ja weggesperrt. Dennoch haben sie ihre eigene Version der Geschichte, die die historischen Überlieferungen um einiges ergänzen, präzisieren oder gar in Frage stellen könnte. Denn Geschichte ist, heißt es im Roman, „ein fabelhaftes Gewebe von Annahmen und Mutmaßungen, das dem Ansturm der vernichtenden Wahrheit als Banner entgegengehalten wird“. Für welche von Barrys zahlreichen Wahrheiten er sich entscheidet, bleibt dem Leser überlassen.

Titelbild

Sebastian Barry: Ein verborgenes Leben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2009.
392 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783865219671

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