Authentizität ist keine Kategorie

Helene Hegemanns „Axolotl Roadkill“ und die überforderte Literaturkritik

Von Eckart LöhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eckart Löhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Skandal um die Autorin Helene Hegemann, die für ihren Roman „Axolotl Roadkill“ Textpassagen aus einem anderen Werk leicht verändert übernommen hat, ist in Wahrheit ein Skandal der Literaturkritik, die mit den analytischen Werkzeugen des 19. Jahrhunderts an Texte des 21. Jahrhunderts herangeht.

Die Literaturkritik glaubt auch heute noch an den Autor und somit an die Autorität des Verfassers einer Schrift. Im Fall von Helene Hegemann las man kaum eine Rezension, die nicht auf das jugendliche Alter oder ihren bekannten Vater, den Dramaturg Carl Hegemann, anspielte. Sie hängt also immer noch dem Geniekult des Sturm und Drang und der Romantik an und betrachtet den Autor als denjenigen, der aus sich heraus ein originäres Kunstwerk erschafft. Aus gutem Grund hat die Literaturtheorie der 1960er- und 1970er-Jahre mit dieser Auffassung des Autors als sinngebender Instanz aufgeräumt, denn „sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten. Diese Auffassung kommt der Literaturkritik sehr entgegen, die es sich zur Aufgabe setzt, den Autor (oder seine Hypostasen: die Gesellschaft, die Geschichte, die Psyche, die Freiheit) hinter dem Werk zu entdecken. Ist erst der Autor gefunden, dann ist auch der Text ,erklärt‘, und der Kritiker hat gewonnen.“

In diesem speziellen Fall scheint der romantisch geprägte Kritiker allerdings verloren zu haben, da die Autorin Hegemann – ob bewusst oder unbewusst sei einmal dahingestellt – sich poststrukturalistischer Methoden bedient, wenn sie Texte aus anderen Werken übernimmt, verändert und in neue Kontexte stellt, um somit etwas Neues zu gestalten, das selbst wieder Quelle für andere Autoren werden mag. Das aber ist genau die Arbeitsweise, die von der postmodernen Literaturtheorie beschrieben wird, denn „heute wissen wir, dass ein Text nicht aus einer Reihe von Wörtern besteht, die einen einzigen, irgendwie theologischen Sinn enthüllt (welcher die ,Botschaft‘ des Autor-Gottes wäre), sondern aus einem vieldimensionalen Raum, in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.“

Die Autorin hat ihr Buch nicht als Autobiografie veröffentlicht und auch nicht behauptet, das in dem Buch beschriebene selbst erlebt zu haben. Selbst wenn es aber so wäre, hätte es die Literaturkritik nicht zu interessieren. Die Autorin Helene Hegemann ist – obwohl erst 17 – gewissermaßen so tot wie der Autor des Romans „Strobo“, aus dem sie sich bedient hat, denn sobald etwas erzählt wird um des Erzählens willen, also fiktional ist, löst sich der Autor vom Text. Der Text verliert seinen Ursprung, beginnt ein Eigenleben und fängt an sich selbst fortzuschreiben, wobei die Sprache zwar ein Subjekt kennt, aber keine Person. Die Literaturkritik wäre also in diesem, wie auch in anderen Fällen, gut beraten gewesen, sich auf den Text zu konzentrieren, unabhängig davon wie alt die Autorin ist, was sie erlebt hat oder aus welcher sozialen Schicht sie kommt. Die Kritik hat, da von überholten Konzepten ausgehend, den Text mit Aussagen überfrachtet, die die Autorin womöglich nie im Sinn hatte. Es gibt keine Frage, die das Wesen von Literatur so verfehlt wie die nach dem Autor und was und wie viel von seiner Persönlichkeit in den Text eingeflossen sei. „Haben Sie das alles selbst erlebt?“ ist eine Frage, die einem literarischen Laien nach einer Lesung gestattet sein mag, in der Literaturkritik jedoch hat sie nichts zu suchen.

Natürlich lässt sich dieses literarische Verfahren in Frage stellen, und man kann immer noch der Meinung sein, dass jeder Text – wenn es ein guter Text ist – immer auch zumindest einen Hauch von persönlicher Inspiration und Originalität enthält. Tatsache ist aber die Erkenntnis, dass kein Autor ein Werk vollständig aus sich heraus schöpfen kann, da er schon immer in einem sprachlichen, sozialen und kulturellen Verweisungszusammenhang steht. Die Welt ist für den Menschen immer schon erschlossen, und dieses implizite Welt-und-Sprache-haben geht aller Kunst stets voraus. Selbst wenn der Schriftsteller dieses Wissen offenlegt, kritisiert und neu bewertet, bewegt er sich doch trotz alledem im Kontext dieses Wissens.

„Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer,Abdruck’ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.“ Ob es der Autorin Hegemann gelungen ist, die Welt verständlicher zu machen, darüber lässt sich streiten. Ihr Verfahren, andere fiktionale Texte zu übernehmen und fortzuschreiben, ist jedoch legitim. Nicht das Verfahren sollte uns Sorgen machen, sondern der Hype in den Feuilletons und eine völlig überforderte Literaturkritik, die eine postmoderne Autorin zum literarischen Wunderkind erklärt.

Anmerkung: Dieser Text ist selbst eine Fortschreibung von Texten Roland Barthes’, von dem auch alle Zitate stammen.

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel wurde zuerst in unserem Kulturjournal veröffentlicht. Dort finden Sie weitere Beiträge und Hinweise zu der Debatte.

Titelbild

Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2010.
203 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783550087929

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