Poesie und Revolution

Juri Andruchowytsch präsentiert sich in „Moscoviada“ und „Geheimnis“ als flamboyanter Erzähler

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Erfolg der „Zwölf Ringe“ ist der Ukrainer Juri Andruchowytsch auch im deutschen Sprachraum eine feste Größe geworden. Deshalb wird sein Werk fleißig weiter übersetzt – von Sabine Stöhr, die sich in Andruchowytschs Kosmos ausgezeichnet bewegt.

In die Frühzeit blendet der Roman „Moscoviada“ zurück (im Original 1993 erschienen). Andruchowytsch beschreibt, genährt von biographischen Erfahrungen, aus einer Perspektive von unten, einer Kloakenperspektive gewissermaßen, wie ausgehöhlt und leer das spätsowjetische Imperium ist. Mit seinem diabolischen Gelächter bringt er es vollends zum Einsturz.

Im Zentrum steht der ukrainische Literaturstudent Otto von F., der in Moskau nicht recht zu seinem Studieneifer findet. Ein paar Gedichtbände hat er bisher veröffentlicht, das große Werk aber bleibt ungeschrieben, weil ihn Weiber und Wodka von den höheren Weihen ablenken. An einem verregneten Tag verirrt sich Otto versehentlich in die Moskauer Unterwelt. Nach ein paar Lagen Alkohol in der Fonwisin-Bierbar, dem ersten Höllenkreis, stapft er durch die Metro zu einer Imbissbar am Arbat, und von da weiter in ein Geschäft namens „Kinderwelt“. Suff und Sauerei überall, Diebe, Huren und Polizisten. Aus der „Kinderwelt“ findet Otto nicht mehr heraus, sondern wird in die Tiefe hinabgelockt, über den Lethe-Fluss, die Kloake Moskaus, hinweg in die Katakomben, wo der imperiale Spuk in einer gruseligen Zeremonie von mit Sägemehl gefüllten Popanzen auseinanderbirst. Augenblicklich tut sich ein Weg aus der Hölle auf und Ottos Geist reist gleich nach Hause.

Andruchowytsch rechnet ab mit einer Stadt, die ihn anekelt (und fasziniert), weil er darin auf Schritt und Tritt den Zeugen einer Macht begegnet, die jegliches Bestreben nach Freiheit und Selbstbestimmung niedermacht. Dabei zieht er temperamentvoll alle Register des grotesken Spaßes und der derben Beschreibungskunst – dabei an Popows „Das Herz des Patrioten“ erinnernd oder an Pelewins „Omon“-Roman, die ebenfalls in den frühen 1990er-Jahren erschienen sind. Doch Andruchowytsch ist rigoroser, weil er gegen die russische Vorherrschaft an sich anschreibt. Die Passagen, in denen er dies mit alkoholischer Logik darlegt, sind stilistisch zwar nicht die besten, sie verleihen seiner „Moscoviada“ aber Fundament und Perspektive.

Beides taucht im Prosabuch „Geheimnis“ (zuerst erschienen 2007) unter anderen Vorzeichen wieder auf. Sieben Tage lang unterhält sich Juri Andruchowytsch mit Egon Alt, einem ausgewiesenen Kenner seines Werks, und gibt ihm seine Geheimnisse preis.

„Geheimnis“ birgt viele Romane in sich. Durch die Fragen seines Gegenübers herausgefordert, singt Andruchowytsch ein Hohelied auf die Rockmusik und auf die poetische Avantgarde, deren größte Erfolge zeitlich mit dem Umbruch in der Sowjetunion zusammenfielen. Als er im September 1985 mit den Dichterfreunden Neborak und Irwanez das legendäre Performance-Trio Bu-Ba-Bu gründete, verkündete gleichen Tags Michail Gorbatschow seine Perestroika. Und Jahre später war der selbsternannte „Gogolianer“ Andruchowytsch an vorderster Front mit dabei, als es galt, die neuen politischen Möglichkeiten mit poetischen Mitteln durchzusetzen. „Damals glaubte man an die Poesie. Durchlebte sie, absolut maximalistisch.“ Das Gespräch erzählt aber auch von der Kinder- und Jugendzeit, von höchst bescheidenen Lebensumständen und vom hart erkämpften poetischen Erwachen des Autors. Er erweist dem verstorbenen Vater alle Ehre, auch wenn nicht immer Einigkeit zwischen ihnen herrschte. Eigentümlicherweise aber schweigt sich der Autor fast ganz über die Frauen in seinem Leben aus. Im Grunde will Andruchowytsch nur das eigene Ich, die selbst gemachten Erfahrungen gelten lassen, alle anderen Personen erklärt er im Vorwort sicherheitshalber für „frei erfunden“.

Ob lückenhaft oder umfassend, wahrhaftig oder geflunkert, auf jeden Fall beweist sich Andruchowytsch hier als flamboyanter Erzähler der eigenen Lebensgeschichte – einer Geschichte, die unter einem gütigen Stern zu stehen scheint. „Ich finde, wir haben unheimliches Glück im Leben, stimmt’s?“ erkennt bereits der kleine Juri. Auch wenn dieses Lebensglück zuweilen getrübt wurde oder gar auf der Kippe stand, blieb es dem Poeten doch treu. Selbst die grauenhafte Militärzeit hindurch ließ es sich nicht abschütteln. Durch dieses Gespräch nehmen wir Anteil an einem Leben, das „nichts als bloße Einbildung von jemandem (ist), der die ganze Zeit brennt“.

Titelbild

Juri Andruchowytsch: Moscoviada. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
223 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3518418262

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Titelbild

Juri Andruchowytsch: Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
388 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420119

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