Im Spinnennetz der Kommunikation

Über Tim Parks’ Roman „Träume von Flüssen und Meeren“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tim Parks, der englische Romancier ist seit seinen Romanen „Schicksal“ (2001), „Doppelleben“ (2003) und „Stille“ (2006) auch bei uns bekannt und hat einen neuen Roman vorgelegt. In diesem Roman „Träume von Flüssen und Meeren“ geht es vordergründig um den überraschend in seiner indischen Wahlheimat verstorbenen Anthropologen, Biologen und Kybernetiker Albert James.

Dieser lebt mit seiner Frau Helen, einer Ärztin, in Neu-Delhi, ohne dort jedoch als Wissenschaftler tätig zu sein, obwohl er abseitige Untersuchungen zur Anthropologie durchführt und an einem Spinnenprojekt arbeitet. Aber auch Helen lebt ein merkwürdiges Leben. Sie arbeitet seit Jahren unentgeltlich in Krankenhäusern der Dritten Welt und jetzt hier in Neu-Delhi. Wovon sie lebt, ist ebenso unklar wie ihr Verhältnis zu ihrem Sohn John. Dieser Sohn, selbst ambitionierter Biologie-Doktorand in London und ohne Einkommen, wird von der Mutter über den Tod des Vaters informiert und fliegt daraufhin überstürzt zur Beerdigung nach Neu-Delhi. Dort bekommt er jedoch weder Erklärungen über den plötzlichen Tod noch über mögliche Erkrankungen des Vaters, vielmehr schickt ihn seine Mutter, angeblich auf Wunsch des Vaters, nach der Einäscherung zu indischen Sehenswürdigkeiten wie dem Taj Mahal. Sie will offensichtlich Gesprächen aus dem Wege gehen.

Zur Beerdigung trifft überraschend auch der amerikanische Journalist Paul Roberts ein, der eine Biografie über Albert James schreiben will. Zwischen diesen Akteuren sowie einigen Nebenfiguren spielt sich das Romangeschehen ab. Obwohl verstorben, ist Albert James, der aber kein so großer Wissenschaftler wie das reale Vorbild Gregory Bateson ist, der Kristallisationspunkt, um den sich wie in einem Spinnennetz alles rankt. Nicht zufällig war das letzte Forschungsprojekt von Albert James die Untersuchung von Spinnennetzen. Dieses Spinnennetz wird quasi zur Metapher für die Vernetzungen der Personen in dem Geschehen. Alles ist miteinander verknüpft, ohne dass es jedoch zu einer klaren Struktur und damit Transparenz kommt. Wie in einem Kriminalroman wird nach der Identität und den Beziehungen von Personen gefahndet. Dass daneben auch die Liebesverstrickungen der Personen eine nicht unwesentliche Rolle spielen, macht die Geschichte noch spannender und lesenwerter.

Dabei kommt dem Ort der Handlung, Delhi, ebenfalls eine große Bedeutung zu. Der Leser erfährt ganz nebenbei Einiges über die Probleme in Neu-Delhi, über die Angehörigen verschiedener Kasten, die Armseligkeit des Alltags, ohne dass hier ein exotisches Bild von Indien herbeigezaubert würde. Beeindruckend fremdartig ist die Figur des Anthropologen Albert James. In einem kurzen Vorwort hat Tim Parks davor gewarnt, sich falsche Hoffnungen zu machen, in dem Roman etwas über die Arbeit von Gregory Bateson, dem realen Vorbild für Albert James, zu erfahren. „Leser, die etwas über seine bemerkenswerte Arbeit erfahren möchten, sollten auf keinen Fall das vorliegende Buch konsultieren, denn die hier erzählte Geschichte ist frei erfunden.“

Trotzdem fließt vieles von Batesons Theorien beziehungsweise Ideen in das Buch ein. Denn es geht um Fragen der Kommunikation beziehungsweise Nichtkommunikation, wie kommunizieren Menschen in Gruppen untereinander und wie verändert sich die Kommunikation und das Verhalten der Menschen, wenn jemand in der Familie stirbt? So wie im Roman Albert James stirbt und damit alles auslöst. Helen, seine Frau, ist durch den Tod zunehmend verunsichert, zumal sie ihm ja bei seinem Suizid geholfen hatte. Sie scheint im Verlaufe des Geschehens erkannt zu haben, dass nicht nur Albert in seinem Forscherleben gescheitert ist und nichts erreicht hat, sondern auch ihr eigenes Leben mit seinem Tod sinnlos geworden ist. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis bleibt ihr nur der eigene Suizid, sie wird tot in ihrem armseligen Zimmer aufgefunden.

Ganz sicher ist dies aber alles nicht. Vieles bleibt in diesem Roman vage, es spricht einiges für den Selbstmord, aber sicher ist niemand. So bleibt auch die Frage offen, ob Albert James tatsächlich eine 40 Jahre jüngere indische Freundin hatte. Es gibt Aussagen von Bekannten, Briefe, aber es bleibt letztlich ein Rest Unsicherheit. Damit korrespondiert auch die These Alberts, dass ein Eingreifen in eine Situation diese nur noch verschlimmert, aber nicht bessert. Dem Verständnis entspricht auch Indien als Romanschauplatz, weil hier exemplarisch vorgeführt wird, wie man staunend einerseits beeinflusst und auch abgelenkt wird von dem alltäglichen Geschehen, aber andererseits nicht eingreifen kann, um etwas zu verändern, denn man würde alles nur noch verschlimmern und verwirren.

Am Ende des Romans kehrt John mit seiner Freundin Elaine, die ihm nach Delhi nachgereist ist, nach London zurück und beschließt, irgendwann einmal die Biografie seines Vaters zu schreiben. Der Leser wird angeregt, über diese vielen Aspekte im Roman nachzudenken. Nicht zuletzt auch über sich selbst und über seine Kommunikation mit anderen und deren Unzulänglichkeit an sich und über seine Sicht des ihn umgebenden Geschehens. Dies ist nicht wenig für einen darüber hinaus spannend erzählten und klug arrangierten Roman über einen Wissenschaftler und die Wissenschaft, der den Leser neugierig macht.

Titelbild

Tim Parks: Träume von Flüssen und Meeren. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker.
Verlag Antje Kunstmann, München 2009.
512 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783888975790

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