Ist die Postmoderne ein Reflex auf den Holocaust?

Über Veronika Zangls Studie „Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen – Tatsachen – Geschichten.“

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Shoah nicht darstellbar sei, dies wird gerne und immer wieder behauptet. Man kann die Positionen hierzu grob in drei Kategorien einteilen: Die einen sagen, man dürfe die Shoah nicht darstellen. Sie meinen eigentlich, dass man es auch nicht könne, ziehen sich aber auf die Pietät gegenüber den Opfern zurück, zu deren Fürsprechern sie sich ungefragt machen. Sie sind sehr selten, werden aber von all denen, die die Shoah ‚kontextualisieren‘ oder ‚exemplarisieren‘ wollen, als meinungsbildende, erdrückende Übermacht dargestellt. Im Grunde ist diese Position eine Spezialität des bundesdeutschen Philosemitismus der 1980er-Jahre; einige seiner Vertreter wechselten später die Seiten und warnten dann mit dem Gestus des besserwissenden Renegaten vor dem, was sie früher propagierten. Wer sagt, dass man die Shoah nicht darstellen dürfe, der sagt noch nichts darüber, ob es möglich ist. Diese Frage lassen sie grundsätzlich offen, auch wenn sie sie nie positiv beantworten würden.

Die nächsten meinen, man könne die Shoah nicht darstellen, weil dies generell unmöglich sei. Diejenigen, die dies dann aber auch zu begründen suchen, anstatt sich nur hinter den üblichen Zitaten von Theodor W. Adorno und Elie Wiesel (der, im Gegensatz zu Adorno, hierzu auch inhaltlich etwas zu sagen wusste und seine Position stets gleich selbst wieder in Frage stellte) zu verschanzen, die bewegen sich dann aber meist schnell in Richtung der Position, dass es lediglich noch nicht möglich sei, die Shoah darzustellen.

Als drittes gibt es dann noch diejenigen, für die die Darstellung der Shoah ein technisches Problem (wenn auch ein großes und nicht zu vernachlässigendes) ist, das bislang noch nicht gelöst sei. Es gebe aber keinen Grund, warum es generell nicht lösbar sein soll.

Zu der dritten Gruppe gehören die interessanteren Autoren – wenn denn erkennbar ist, dass sie sich mit der Problematik und dem Gegenstand beschäftigt haben. Die Autorin der vorliegenden Arbeit gehört eingeschränkt zu dieser Gruppe. Sie kennt „die endlos wiederholten Hinweise auf das Nicht-Darstellbare“, und die Darstellbarkeit des Holocaust ist für sie „ein ‚technisches‘ Problem“. Doch birgt ihr Buch einige Probleme.

Dringen wir zunächst zum Kern vor, zur inhaltlichen Bestimmung dessen, wodurch die Darstellung der Shoah problematisch sein soll: Erstens entwirft man seine eigenen Erlebnisse immer innerhalb eines bereits bestehenden Rahmens. Der eigene Beitrag zum kulturellen Gedächtnis muss mitteilbar sein und als sinnstiftend angenommen werden. Die Bilder müssen in einen gesellschaftlich konstituierten Interpretationsrahmen aufgenommen werden. Jüdischen Shoah-Überlebenden stellen sich unter diesen Voraussetzungen aber besondere Probleme. Ein kollektiver Deutungsrahmen entfällt bei ihnen. Zum einen, weil sie von ihren Verfolgern zwar als Angehörige eines Kollektivs angesehen wurden, sie sich selbst meist aber nicht mit ihren Mit-Opfern identifizieren konnten. Zum anderen verunmöglichten die Deutschen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern weitgehend erfolgreich eine Gruppenbildung durch permanenten Terror.

Zweitens muss es Berührungspunkte geben zwischen dem narrativen Rahmen des Ereignisses und der darauf folgenden gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg interessierte sich die Welt aber kaum für die Erzählungen der Überlebenden.

Drittens unterband der permanente Terror der Deutschen die Möglichkeit der Opfer, sich auf eine Welt hin zu entwerfen. Das Leid, das den jüdischen Opfern von den Deutschen zugefügt wurde, konnte nicht als eigenes Schicksal umgestaltet werden. Das Leben vor der Verfolgung steht in keinem Zusammenhang mit der Verfolgung; und im Lager selbst war Selbstbestimmung weitgehend oder total verunmöglicht. Die Möglichkeit der Reflexion – im Sinne der Spiegelung des Selbst – war verhindert, denn das Subjekt konnte sich nicht von sich selbst distanzieren, weil es in seine körperliche Not gebannt war.

Viertens waren die Opfer auf das bloß Physische reduziert, so dass das Leiden nur körperlich erinnert, nicht aber sprachlich ausgedrückt werden kann. Auch war Sprache auf die reine Faktizität reduziert, gab es keine Möglichkeit mehr, sich in den Bereich der Imagination zu flüchten.

Fünftens versagte die Sprache: Wörter passten nicht mehr auf das, was sie bezeichnen sollten. Hunger, Durst und Schmerzen waren im Lager so sehr gesteigert, dass für diese neuen Zustände der Entbehrung neue Wörter benötigt scheinen, weil die alten zu schwach sind.

Sechstens müsste eine Repräsentation des Geschehens immer eine Gestaltung der Vernichtung sein, und dies integriert man nicht gerne in seine Biografie.

Siebtens soll die totalitäre Wirklichkeit die Möglichkeit von Erfahrung verhindert haben.

Wie können und wozu werden angesichts dieser Schwierigkeiten noch Überlebenden-Berichte geschrieben? Diese Berichte sind keine klassischen Autobiografien, denn deren Kontinuität und Sinnstiftung werden durch die Erfahrung des Holocaust verunmöglicht. Deswegen sind sie zunächst nur „Berichte, die die Evidenz der Ereignisse bezeugen“. Trotzdem sollen sie gleichzeitig „eine Narration der Selbst-Gestaltung und der Subjekt-Setzung“ sein, die den Holocaust „in den menschlichen Bereich zurückholen“. Mit ihnen versuchen die Überlebenden, „sich wieder in eine Welt von Bedeutungen einzuschreiben, retrospektiv eine Wirklichkeit zu um- und zu beschreiben, die sich der Sprache durch den radikalen Ausschluss aus der sprachlichen Gestaltung entzog“.

Die Punkte eins bis sechs leuchten ein und sind vor allem aus dem Werk von Lawrence L. Langer und Terrence Des Pres bekannt. Diese beiden Autoren finden sich in Zangls Literaturverzeichnis, doch bezieht sie sich kaum auf sie. Dies ist schade, denn dann könnte ihr Vorgehen um einiges systematischer, komprimierter und verständlicher sein. So kondensiert wie in der obigen Auflistung ist ihre Argumentation nicht. Es gibt einige Kapitel, deren Zusammenhang mit dem argumentativen Kern der Arbeit nicht klar wird, und in denen einige Thesen nur wiederholt und variiert werden. Und mit Punkt sieben ist die Autorin dann bei den fragwürdigen Argumenten. Denn mit der angeblichen Tatsache, dass totalitäre Regime die Erfahrung verunmöglichten, bezieht sie sich auf Thesen von Hannah Arendt, die nicht begründet sind, dafür aber gut taugen, deutsche Täter zu exkulpieren (auch wenn Arendt dies im Fall Adolf Eichmanns nicht vorgehabt haben mag). Zangl überträgt diese These von der Täter- auf die Opfer-Seite, aber auch hier wird sie nicht plausibler.

Und dies bringt uns zur allgemeinen Ebene, zu der zweierlei gesagt werden muss: Zum einen, dass Zangl eine Reihe von Autoren (neben Hannah Arendt vor allem Cornelius Castoriadis, Jacques Lacan, Giorgio Agamben, Judith Butler und Imre Kertesz) unkritisch verwendet. Das heißt, sie bedient sich der Werke dieser Autoren, um ihre eigene Sicht zu untermauern, indem sie deren Aussagen unvermittelt als absolute Sätze einführt, als wäre ihr der Unterschied nicht bekannt zwischen dem Satz ‚Die Person XY ist der Ansicht, dass…‘ und dem Satz ‚Fakt ist, dass …‘. Weil hier ein Unterschied besteht und man nicht – wie Zangl – bestimmte Standpunkte unter der Hand als absolute Sätze einführen sollte, ist die häufig als langweilig verschrieene methodische Selbstbeschränkung akademischer Arbeiten eben auch ein zufällig-glückliches Korrektiv. ‚Die Aspekte A und B im Werk von C im Zeitraum von D bis E‘ mit etwas zu vergleichen, was ähnlich umrissen ist, das ist zwar nur Referat, aber so lange man nicht in der Lage ist, seine eigenen Ansichten auf ein festes philosophisches Fundament zu stellen, ist es immer noch besser, aus diesem Grund (aber auch eben nur aus diesem) weiterhin konjunktivisch zu schreiben.

Zum anderen geht es in Zangls Arbeit nicht, wie der Titel suggeriert, um die Poetik nach dem Holocaust. Die üblichen Übersichtswerke zur Holocaust-Literatur von Lawrence L. Langer, Alvin Rosenfeld und Zoë Vania Waxman sowie die ersten Versuche zur quantitativen wie qualitativen Auswertung von mündlichen Überlebenden-Zeugnissen durch Langer und Jonathan C. Friedman helfen hier weiter. Dass Zangl nicht ein Kompendium eines inzwischen uferlosen Sujets vorgelegt hat, das sei ihr nicht angelastet. Aber es wäre gut, wenn sie auf ihre Auswahl poetischer Werke reflektiert und diese begründet hätte. Ihre Selektion ist einerseits schmal und gängig, andererseits heterogen: Charlotte Delbo und Imre Kertész passen nicht zusammen; so eminent wichtige Werke wie das eher schmale und unbegreiflicherweise kaum beachtete von Ida Fink kommen gar nicht vor. Man kann seit Längerem beobachten, dass Überlebenden-Zeugnisse je nach Beweis-Absicht ausgewählt werden, so dass diese immer das passende Stichwort respektive den benötigten ‚Beleg‘ für die eigenen gesellschaftstheoretischen Vorannahmen liefern; Zangl macht hier leider keine Ausnahme. Ihre Gewährsmänner erklären einige ihrer fragwürdigen Thesen, die eine unterschiedlich große Rolle in ihrem Buch spielen.

So sieht sie mit Arendt und deren inferiorem Nach-Verwerter Agamben bestimmte Vorbedingungen und Elemente des Holocaust fortbestehen. Die Verhinderung von Erfahrung bestehe im „Verlust des Orientierungssinnes im Bereich des Wirklichen“ fort – auch jenseits des Totalitarismus. Denn dieser Verlust präge – und hier ist sie dann ganz bei Martin Heidegger und Kertész – „das wissenschaftliche Denken des ‚offenen‘ Westens“. Postmodern und postneomarxistsch ausgedrückt, könnte man in diesem Sinne dann auch sagen, dass die Situation verhinderter Erfahrung im Nationalsozialismus sich nur graduell in ihrer „Intensität“ von der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) der Gegenwart unterscheide.

Dieses kulturkritische Ressentiment variiert Zangl in dem Vorwurf, dass in ‚der Moderne‘ das politische Handeln unter den „Prämissen des Herstellens“ stehe. Fatalerweise, denn so habe ein Geschichtsbewusstsein Einzug gehalten, das „die Vorstellung der Machbarkeit von Geschichte […] impliziert.“ Das Vokabular und die Prämisse stammen von Arendt (aus „Vita Activa“), und eben deswegen ist es merkwürdig, dass Arendt-Epigonen in letzter Zeit dazu neigen, mit Arendt die „Hybris“ (so Julia Schulze Wessel) der Idee zu kritisieren, dass Geschichte von Menschen gemacht werden könnte. Denn Arendt will in ihrem philosophischen Hauptwerk „Das Leben des Geistes“ den Willen vor der geistesgeschichtlichen Tradition retten und in ihren diversen theoretischen Schriften zur Politik letztere vor dem unsinnigen Vorwurf der Künstlichkeit. Wer die ‚Hybris der Machbarkeit von Geschichte‘ anprangert, der propagiert wohl, sich der angeblichen Unausweichlichkeit des Verhängnisses zu unterwerfen und diese Subordination als überlegene Wahl und Einsicht zu verkaufen.

Zangl variiert dieses Ressentiment weiterhin, indem sie den Holocaust ebenso gängiger- wie leichtsinnigerweise mit ‚der Verwaltung‘ in Zusammenhang bringt. Das „Grauen der Kontinuität“ der Verfolgung sei von Überlebenden häufig in der „erneuten Verwaltung der Person“ erfahren worden. Auch wenn Überlebende wie H.G. Adler und Kertész ihr Schicksal in diesen Schema interpretierten, so bedeutet dies noch nicht, dass sie damit Recht hatten. Ihr Verwaltet-Sein dürfte das geringste Problem von Getto-, Konzentrations- und Vernichtungslager-Insassen gewesen sein. Zangl sollte statt dessen lieber selber auf ihre weitgehend „verwaltete Sprache“ (Karl Korn) achten: „problematische Subjektpositionen“, ist ein fürchterlicher kulturwissenschaftlich-akademischer Euphemismus für die Lage, in der ein Auschwitz-Häftling sich befand. Und man sollte sich fragen, ob nicht eher in solchen Stilblüten das „Grauen der Kontinuität“ steckt, weil es die Realität der Shoah abwehrt.

In „Die große Reise“ beschreibt Jorge Semprun, wie er nach der Befreiung aus dem KZ Buchenwald in die Stadt hinabgeht und dort ein Wohnhaus betritt, von dem aus man – so vermutet er – das KZ müsste sehen können. Die Frau des Hauses, die ihn noch nicht als Ex-Häftling identifiziert hat, zeigt ihm das Haus, unter anderem auch das Wohnzimmer, das die Frau als „gemütlich“ bezeichnet. „Genau im Rahmen eines der Fenster“ dieses Zimmers, so Semprun, „zeichnet sich der viereckige Krematoriumsschornstein ab. Ich stehe und blicke hinüber. Ich wollte sehen, jetzt sehe ich. Ich möchte tot sein, aber ich sehe, ich lebe und sehe.“ Wenn die Bewohner abends im Wohnzimmer saßen, dann müssen sie die Flammen gesehen haben, die aus dem Schornstein schlugen. Als Semprun danach fragt, verweist die Frau sogleich auf ihre beiden Söhne, die im Krieg gefallen seien. Aus dieser erschütternden Stelle, die das Entsetzen des Überlebenden darüber, dass die Deutschen Vernichtung und Gemütlichkeit auch außerhalb der Lager integrierten, mit der reflexhaften Schuldabwehr der Täter und Zuschauer vereinigt, macht Zangl eine „Unmöglichkeit der Begegnung der Blicke“. Das ist schön postmodern und exkulpatorisch zugleich formuliert: Wo Blicke sich einfach nicht begegnen können (und die Frage nach dem Warum nicht gestellt wird), da gibt es weder Täter noch Opfer noch Zuschauer.

Es passt zum postmodernen Jargon, dass einige von Zangls Sätzen keinen Sinn ergeben. Nehmen wir uns nur zwei Beispiele vor: „Das Ungeheuerliche der Repräsentation, und damit auch der Erinnerung, beruht auf der stets stattfindenden Verschiebung, sobald die im und auf dem Körper sich manifestierende Überschreitung ins Abstrakt-Allgemeine transzendiert wird.“ Der in den Geisteswissenschaften grassierende Stil der Nominalphrasen, der schon formal jeden Gedanke erstickt, weil er ihm im Satz keinen Raum zur Entfaltung gibt, ist hier noch das geringste Problem. Aber was mag der Satz bedeuten? Das Ungeheuerliche beruht auf einer Verschiebung? Was wird denn wohin verschoben? Zangls Sätze davor und danach geben hierüber keinen Aufschluss. Und eine Überschreitung wird dann auch noch überschritten? Gehen wir über zum nächsten Beispiel: „Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Formen des Nicht-Menschlichen, der mithin auf der Möglichkeit oder Unmöglichkeit zur Entscheidung beruht, perpetuiert die Kluft zwischen Tätern und Opfern unter dem Vorzeichen von Einschluss und Ausschluss.“ Ist es mehr als Tautologie, wenn ein Unterschied zwischen Opfern und Tätern eine Kluft zwischen ihnen perpetuiert?

Der Philologe Alfred Behrmann hat in seinen konstruierten „Zehn Unterhaltungen über Kunst und Konvention“ angemerkt, dass leider nicht das „fatale Geschwätz“ als anstößig empfunden wird, „das vielmehr als aufklärerisch begrüßt wird, sondern der Vorsatz, eine Wolkigkeit durch Präzision zu widerlegen.“ Wieso sollte man also nicht auf den Erfolg der Methode Agambens vertrauen?

Aber mit dem Stil hat es bei Zangl nicht sein Bewenden, denn auch mit der Faktenbasis von Geschichte wird recht frei umgegangen. Es ist für eine Autorin, die sich mit Überlebenden-Zeugnissen befasst, schon recht peinlich, die wahrscheinlich nicht ohne Grund äußerst beliebte falsche Behauptung Agambens nachzubeten, wonach die Überlebenden der Vernichtungslager die Vernichtung nicht bezeugen könnten. Entsprechende Zeugnisse liegen aber vor, auch in poetischer Form.

Wird bei dem einen Aspekt ein Mangel an Authentizität erfunden, so wird Claude Lanzmann vorgeworfen, „in geradezu besessener Weise“ „[d]em Wirklichen oder Authentischen so nahe wie möglich“ kommen zu wollen. Durch die „ausschließliche Fokussierung auf die Zentren der Vernichtung“ habe er „sakrale Orte des Gedächtnisses“ kreiert. Man kann darauf hinweisen, dass Lanzmann genau das Gegenteil vorführt, nämlich dass Authentizitäts-Strategien bei der Shoah scheitern. Er bemüht sich um das, was Zangl einfordert, nämlich die „Einbildungskraft als gestaltende Kraft“ zu stärken. Man sollte aber auch darauf hinweisen, dass Zangl nicht nur mit ihrer Lanzmann-Kritik einige Elemente und Standards des akademischen Antizionismus und der angeblich verbotenen „berechtigten Israel-Kritik“ versammelt – wenn auch vermutlich ahnungslos.

Mit Moshe Zuckerman, Ronit Lentin und Peter Novick warnt sie – mit deutlichem Blick auf Israel – vor einem „Shoah-Mythos“, der die Shoah selbst ersetzen und die Geschichte in eine „Zweck-Mittel-Relation“ überführen könnte. Der Holocaust werde dann zu einer der vielen „Legitimationserzählungen“ umgeschrieben und der Opferstatus gesellschaftspolitisch interpretiert, das heißt für Machtinteressen verwertet. Dabei sei es fatal, sich als geschädigte Gruppe zu definieren, wenn man doch eigentlich keine gemeinsamen Gruppenmerkmale aufweist, denn dies „hätte paradoxerweise eine nachträgliche Anerkennung der Nürnberger Gesetze zur Folge“. Genau mit solchen Scheinargumenten rufen die jüdischen Kronzeugen der „berechtigten Israel-Kritik“ dazu auf, den Staat Israel aufzulösen. Wenn Menschen, die Juden sind oder zu Juden erklärt werden, die Nürnberger Rassengesetze ernst nehmen, dann sind sie nicht selbst Rassisten wie die Nazis, wie Zangl ihnen unterstellt. Denn sie glauben nicht zwangsläufig daran, dass Menschen nach biologischen Merkmalen kategorisiert werden könnten. Aber sie tun gut daran, zur Kenntnis zu nehmen, dass es Menschen gibt, die sie zu Juden erklären, weil sie diesen zu Opfer fallen könnten. Und dann würde es ihnen wenig nützen, ob sie sich selber als Juden begreifen oder ob sie die Nürnberger Rassengesetze anerkennen oder nicht. Sie müssen nur wissen, dass sie zu einer Gruppe von Menschen gehören, die durch den Wahn vieler Menschen bedroht sind. Und sie müssen sich rechtzeitig dagegen wehren.

Und dabei gibt es auf der anderen Seite in Zangls Arbeit eine Reihe von Ansätzen, die dem oben angerissenen Gedankengut ihrer theoretischen Gewährsmänner entgegensteht. Es finden sich beiläufige Bemerkungen über die Lebens- und Sterbensbedingungen von Juden in den Lagern, die nicht nur in der deutschen Literatur äußerst selten sind. Sehr fein und bestimmt differenziert sie zwischen einer Reduktion der Häftlinge auf „die Funktionen des Lebendigen“ und auf das Animalische. Letzteres verwirft sie zurecht und erhebt damit Einspruch gegen die Kulturkritiker, die die Lager für ihre Misanthropologie meinen nutzen zu können. Ein KZ ist für sie nicht ein ‚Raum der Ordnung‘ oder ‚der Verwaltung‘, sondern vor allem der „unablässige[n] Folter“. Und wenn man dies begriffen hat, dann wird man nicht mehr die Häftlinge anstelle der Täter anklagen. Äußerst klar spricht sie von der „von den Nationalsozialisten inszenierte[n] Verquickung [der Verfolgten] mit der Macht auf den unterschiedlichsten Ebenen der Gettos und Lager“, und beendet damit die spätestens seit Arendts „Eichmann in Jerusalem“ hin und her wogende Debatte über die Korrumption der Opfer durch die Täter, über die angebliche „Grauzone“, in der Opfer zu Tätern geworden seien.

Neben historischen Detailfragen nimmt sie sich auch theoretischer Grundsatzfragen an. Die Besinnung auf ‚das Gedächtnis‘ sei vor allem in Zeiten der Krise zu beobachten, wenn Gewissheiten wegbrechen. Des Weiteren zeige dieser Trend das Ende der Geschichte und des humanistischen Geschichtsverständnisses an. Die Konjunktur des Gedächtnis-Begriffs ist demnach keine besonders feinsinnige kulturwissenschaftliche Neuerung, sondern zum einen ein alter Hut und zum anderen Ausdruck von Ratlosigkeit.

Vor allem aber sind Zangls Überlegungen zum Zusammenhang von Holocaust und Postmoderne bedenkenswert. Ihr zufolge ist die Wirklichkeit desto entschiedener in Frage gestellt worden, je mehr der Holocaust das Bewusstsein zu prägen begonnen hat. Die Postmoderne stellt sich so als ein Nachklapp zur Erfahrung der Shoah dar. Die von der Postmoderne konstatierte und immer wieder vorgenommene Dezentrierung des Subjekts sei in den KZs bereits vorgenommen worden. Den von der Postmoderne verkündeten und gefeierten „Tod des Subjekts“ stellt sie dem Tod des Subjekts in Auschwitz gegenüber. Die Debatte um diesen Tod lasse sich auf die Auseinandersetzungen mit dem Holocaust „zurückführen“. Die „vermeintliche Entlarvung des Sujekts als sprachlich verfasstes“ verweise „auf einen zentralen Mechanismus der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik“.

Auch wenn Zangl die Postmoderne explizit nicht deavouieren will und sie ihr eine „Suche nach einem verlorenen Subjekt“ unterstellt, so lohnt es sich doch zu fragen, in welche Richtung ihre oben zusammengestellten Überlegungen weitergehen könnten: Ist die Postmoderne ein Reflex auf den Holocaust? Wiederholt die Postmoderne dann nicht die Vernichtung des Holocaust und setzt diese als Theorieprogramm fort? Und sind die Überlebenden, die mit ihren Berichten wieder eine „Narration der Selbst-Gestaltung und der Subjekt-Setzung“ versuchen, dann nicht der Widerpart zur Postmoderne und werden von ihr deswegen so schmählich behandelt? Wir warten gespannt auf die Arbeit, die hier weitermacht.

 

Titelbild

Veronika Zangl: Poetik nach dem Holocaust. Erinnerungen - Tatsachen - Geschichten.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2009.
230 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783770544677

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