Ein cervantesker Ritterroman und vier frivole Verserzählungen

Eine Fortsetzung der Werke Christoph Martin Wielands in der historisch-kritischen Ausgabe

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Oßmannstedter Ausgabe der Werke Wielands, die Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma herausgeben, enthält der Textband 7.1 zwei Werke: den Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva“ und die Rokokodichtung „Comische Erzählungen“.

Der „Don Sylvio“, erstveröffentlicht 1764, spielt in Spanien, es gibt häufige Bezüge auf Cervantes’ „Don Quijote“, den Wieland als Ausgang für seine Variationen verwendet. Die Hauptfigur Don Sylvio wird gar als Landsmann des Ritters von Mancha bezeichnet.

Don Sylvio ist ein intelligenter kaum Achtzehnjähriger, der nach dem Tod seiner Eltern von seiner Tante großgezogen wird. Er entwickelt eine ausgeprägte Liebe zu Feenmärchen und Ritterromanen und findet ein Medaillon mit dem Porträt der schönen Donna Felicia, in deren Bild er sich verliebt. Mit seinem Diener Pedrillo begibt er sich auf die Suche nach der heftig umschwärmten Donna Felicia. Die beiden erleben einige märchenhafte Abenteuer mit Feen, einem Laubfrosch, einem Sommervogel, einem grünem Zwerg und mit Grasnymphen.

Als Don Sylvio auf das Schloss einer reichen und schönen Witwe gelangt, findet er in ihr endlich die Angebetete. Er will sich jedoch nicht abfinden mit der Abwesenheit des Schwärmerischen in einer realen Beziehung. Als Kur wird ihm die Geschichte von Prinz Biribinker verabreicht. Diese sehr umfangreiche Geschichte, die beinahe das gesamte sechste Buch des Romans einnimmt, ist für Sylvio anfangs glaubhaft. Als ihm jedoch das Märchenhafte darin offenbart wird, siegt schließlich seine Ratio.

Jedoch entrückt diese Heilung Don Sylvio allein der Fiktionalität des Lebens: die Welt der Märchen wird substituiert durch ein reales Märchen. Die Realität folgt der Logik der Phantasie. Der Untertitel des Romans deutet dies bereits an: „Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht“.

„Don Sylvio“ greift einen Mitte des 18. Jahrhunderts geführten Diskurs auf, der das Überordnungsverhältnis zwischen Natur und Kunst verhandelt. Wielands aufklärerischer Gestus wird von ihm selbst auf ironische Weise unterlaufen: „die Ratio kann die Schwärmerey nicht steuern, es kömmt darauf an, eine friedliche Koexistenz zu erzeugen“.

Ein Merkmal des Romans ist seine Intertextualität, die sich in der Auseinandersetzung Wielands mit Laurence Sternes „Tristram Shandy“ und „Don Quijote“ von Cervantes äußert: woran erinnert ein Baum, den der Abenteurer für einen Riesen hält?

Para- und Metatextualität sind beispielsweise im „Nachbericht“ des Herausgebers erkennbar, der durch ein Missgeschick die Position eines Vorworts einnimmt. Darin gibt es einige wenige editorische Notizen, es werden Hinweise auf die Komik in der Erzählung gegeben, und die Erzählung selbst wird als allegorische Parabel mit unter anderem dem Ziel „Umsturz des Glaubens“ bezeichnet. Vergleichbar dem „Don Quijote“ wird die erzählerisch verantwortliche Instanz aufgelöst, indem der Herausgeber ein spanisches Manuskript und dessen vorgeblichen Übersetzer als nicht verifizierbare Instanzen zwischenschiebt. Als weitere Instanz gibt es einen Abschreiber. Dessen Glaubwürdigkeit hinsichtlich der Wahrhaftigkeit der Erzählung wird bereits durch den offenkundigen Fehler infrage gestellt, der das Nachwort zum Vorwort macht.

Auf den Nachbericht folgen zwei Teile mit insgesamt sieben Büchern. Auf den Seiten 335-338 sind Druckfehler gelistet, dies nach Seiten und Zeilen, wobei die Seitenangaben bis 592 reichen. Der Erzähler des Romans ist allgegenwärtig. Nachdem die Tante die Erziehung Sylvios übernommen hat, stellt er dazu psychologische Betrachtungen an. Die Erzählung ist durchsetzt mit seinen Reflexionen, die er bisweilen als eigene Abschnitte einschiebt und darin abschwächt zu „unmaßgeblichen Gedanken“ oder „Abschweifungen“. Mit dieser Form der Textualität steuert der Erzähler seine Erzählung und damit auch deren Rezeption.

Indem Wieland seinen Sylvio zu einem fleißigen Leser von Märchen macht, die ihn die Welt entlang des Märchens interpretieren lassen, sein Denken über die Welt bestimmen, den Übergang zwischen der Fiktion und der Realität verwischen, führt Wieland einen Diskurs, der von (heutiger) Tagesaktualität ist. Ersetzen wir die Märchen durch Computerspiele, erzeugen wir sicher keine vollständige Kongruenz, gleichwohl aber eine temporale Überlagerungsmöglichkeit, die den Freunden des Cross-Mapping vielleicht nicht ohne Reiz erscheinen dürfte. Offenbar nimmt jede Zeit die Existenz von Medien an, die im Grenzbereich tatsächliche oder behauptete unerwünschte Wirkungen bei ihren Nutzern (zuzüglich individueller und gesellschaftlicher Folgekosten) verursachen.

Wielands Comische Erzählungen von 1765 handeln auf frivole Weise vom Liebesleben antiker Gottheiten. Die vier „scherzhaften Gedichte“ („Das Urtheil des Paris“, „Endymion“, „Juno und Ganymed“, „Aurora und Cephalus“) führen zu Einsichten, die unter christlicher Perspektive wenig akzeptabel erscheinen. Der Name des Verfassers wurde erst zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung bekannt. In ihnen arbeitet Wieland in der Tradition französischer Verserzählungen, die er mit – vor allem philosophischen und ästhetischen – Reflexionen durchsetzt. Die Verserzählungen stehen naturgemäß nicht im Brennpunkt der Wahrnehmung durch Forschung und Öffentlichkeit wie Wielands Prosatexte.

Die Oßmannstedter Ausgabe der Werke Wielands wird in Teilbänden veröffentlicht. Spätestens zwei Jahre nach Erscheinen eines Textbandes (für Teilband 7.1 also 2011) soll ein Apparatband folgen, erst dann wird sich der Band im Umfeld des Anspruchs einer historisch-kritischen Ausgabe bewerten lassen. Ob für einen Preis von rund 160 Euro noch ein Schutzumschlag, vielleicht gar ein Schuber möglich gewesen wären, darüber kann ich nur mutmaßen.

Titelbild

Klaus Manger / Jan Philipp Reemtsma (Hg.): Wielands Werke. Band 7.1. Text. Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva / Comische Erzählungen.
Bearbeitet von Nikolas Immer.
De Gruyter, Berlin 2009.
458 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110221589

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