Das Erbe annehmen?

Zwei Sammlungen zur DDR-Lyrik belegen: Was von „drüben“ kam, gehört mit zum Besten, was die deutsche Nachkriegsliteratur zu bieten hat. Nun muss dieses Erbe auch angenommen werden

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Novemberausgabe der Literaturbeilage der „Zeit“ widmete der DDR-Literatur ihren Aufmacher. Anlass waren zwei Anthologien mit DDR-Lyrik und ein Lexikon zur Literatur der DDR, die im Herbst vorgelegt worden waren. Das Fazit des von Alexander Cammann verfassten Essays mag politisch vielleicht wenig wünschenswert, literaturhistorisch aber dürfte es immerhin diskutabel sein: Die DDR „produzierte vielleicht nicht immer die bessere, aber allemal die aufregendere deutsche Literatur.“

Cammann lobte die Vielfalt der DDR-Literatur, ihren spröden Reiz, ihren ästhetischen Anspruch, ihre abenteuerlichen Geschichten, ihre Schönheit, ihre bösen Schicksale und die intensiven Leseerlebnisse. Die von Cammann und der „Zeit“-Foto-Redaktion herangezogenen Zeugen lassen sich in der Tat nicht einfach abtun, nicht nur, weil sie zu Teilen in den Westen gegangen sind, sondern auch weil ihre Texte einen literarischen Kosmos eröffnen, der sich – zwanzig Jahre nach Öffnung der Mauer – langsam zu verschließen droht: Thomas Brasch, Heiner Müller, Uwe Johnson, Sarah Kirsch (deren „Sound“ besonders hervorgehoben wird), Stephan Hermlin, dem auch ein Skandal nichts hat anhaben können, Peter Hacks, der jüngst wiederentdeckte Werner Bräunig, Wolfgang Hilbig und Brigitte Reimann. All diese Autorinnen und Autoren sind Repräsentanten einer eigenständigen und erstaunlichen Literaturlandschaft, die zwar unter Kuratel stand, sich dennoch aber auf einen offenen Horizont hin auszurichten verstand, den einer besseren Gesellschaft im Sozialismus.

Diese Namen zu nennen, dabei aber zahlreiche andere zu verschweigen ist dem Umstand geschuldet, dass die DDR-Literatur vielgestaltig und hochrangig ist, jede Auswahl also zwingend ungerecht ist: So fehlen in den „Zeit“-Fotobeilagen Abbildungen von Christa Wolf etwa, Christoph Hein oder Erwin Strittmatter (der unverwüstliche Erfolgsautor der Ex-DDR), Inge Müller, Durs Grünbein. Bert Papenfuß-Gorek, ja, auch Sascha Anderson, Inge Müller oder gar Peter Huchel, Wolf Biermann und Bertolt Brecht. Die Namen fliegen einem zu, – und mit ihnen Texte, Lektüren, Erinnerungen, Skandale, Empörungen und Ernüchterungen.

So etwas ist man heute nicht mehr gewöhnt. Vor allem die Skandale und Aufregungen sind in diesem Falle von anderem Kaliber als heutzutage, so scheint es.

Die Stürme finden nur noch im Wasserglas statt, die Skandale wirken merkwürdig flau (wen interessiert ernsthaft, ob eine 17-Jährige von einem Blog-Schreiber abgekupfert hat, von dem vorher noch niemand groß Notiz genommen hat). Die Literatur ist zwar ungemein produktiv, aber sie zieht sich in die Unterhaltung und ins Spartenprogramm zurück. Und gerade die Lyrik und ihre Produzenten kommen aus den Klagen über ihre vermeintliche neue Marginalität nicht mehr heraus.

Jüngster Beleg: Der französische „Dichter“ Jacques Roubaud erhielt in der politischen Monatszeitung „Le monde diplomatique“ Raum, um seiner Klage über den Bedeutungsverlust der Lyrik Ausdruck zu geben. Die Schuld daran suchte Roubaud beim „Freien Vers“ und bei der Dominanz des Textbegriffs vor dem der Dichtung, er sah die Lyrik zudem in der öffentlichen Aufmerksamkeit von Hiphop, den Poetry Slams und der Lautdichtung verdrängt. Dass Lyriker überhaupt noch überlebensfähig seien, hänge nicht zuletzt damit zusammen, dass Lyrikveranstaltungen meist billiger zu organisieren seien als andere Literatur- oder Kulturevents.

Ganz anders die Dichter-Wertschätzung, die noch aus dem viel kritisierten Bericht Christa Wolfs von der Lesung ihrer Protagonistin in „Was bleibt?“ erkennbar wird (auch wenn es sich um eine Prosaautorin handeln mag). Auch das in Wolfgang Emmerichs Geschichte der DDR-Literatur zitierte Statement Jurek Beckers schlägt in diese Kerbe, sah Becker doch in der Kombination von Freiheit und Beliebigkeit einerseits, Bedeutung und Zwang andererseits die Systemdifferenz von BRD und DDR aufgehoben.

Lässt man solche Systemvergleiche beiseite– zumal die DDR-Literatur nach einer Phase heftiger Ablehnung in der Bundesrepublik breite Aufnahme fand –, dann sind Breite, Qualität und Variantenreichtum der DDR-Literatur unübersehbar. Das bezieht sich nicht nur auf diejenigen Autorinnen und Autoren, die auf Distanz zum DDR-Sozialismus gingen und, soweit sie noch in der DDR lebten, dort starken Repressalien unterlagen. Die Isolation Peter Huchels und der Druck auf Wolf Biermann sind nur Beispiele, denen zahleiche weitere hinzuzufügen wären.

Aber eben nicht nur die oppositionelle Literatur, sondern auch Texte, deren Autoren sich grundsätzlich mit dem sozialistischen Experiment und seiner staatlichen Verfassung auf deutschem Boden identifizierten, sind bemerkenswert. Peter Hacks und Volker Braun, ja, auch Christa Wolf sind hier die herausragenden Namen.

Naheliegend verweisen die Herausgeber beider Lyrik-Anthologien auf die Marginalität der systemkonformen Literatur. Der „sozialistische Biedermeier“, dem Kurt Bartsch ein bissiges Gedicht gewidmet hat, lässt sich auch literarisch finden. Der sozialistische Dichter Kuba, mit bürgerlichem Namen Kurt Barthel, ist nicht zuletzt dadurch in die Literaturgeschichte eingegangen, dass er die Vorlage für Brechts berühmtes Gedicht auf den 17. Juni 1953 schrieb, nicht für die Qualität seiner Texte. Aber wer würde es einer Literatur übel nehmen wollen, dass sie auch schwache und lässige Texte hervorgebracht hat? Davon ist niemand freizusprechen, auch nicht die Literatur der alten Bundesrepublik – wenn man etwa an das Gesamtwerk Kristiane Allert-Wybranietz’ erinnern darf.

Dass die Texte einerseits die Erwartungen erfüllen, die man an die DDR-Literatur stellt, andererseits jedoch immer wieder aus deren Grenzen ausbrechen, ist dabei eine Erkenntnis, die nicht ganz unverhofft am Ende der Lektüren steht, die die beiden Anthologien ermöglichen. Die Literatur des Aufbruchs, der Ankunft, der Liberalisierung, Bitterfelder Weg und neue Subjektivität, die Revolten der Politlyriker um Biermann und die der Szeneautoren des Prenzlauer Bergs – alles das ist vorhanden, und ist zugleich ungemein überraschend.

Selbst bekannte Texte werden – nochmals gelesen – in ein neues Licht getaucht, durch die Lektüre nach zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig Jahren Abstand, durch ihren Kontext, durch die Fokussierung auf das historische Phänomen DDR.

Dabei formulieren die beiden Anthologien unterschiedliche Ansprüche, die sich nicht nur im Umfang widerspiegeln. Naheliegend hat ein Band, der 100 Gedichte vorstellt (was für vierzig Jahre lyrische Produktion immerhin eine anständige Zahl ist), anderes vor, als ein Band, der 500 präsentiert.

Der von Klaus Wagenbach und Christoph Buchwald herausgegebene schmalere Band ist als Leseausgabe konzipiert, als Einführung und Überblick. Im Zentrum der Überlegungen, der beiden Herausgeber, steht allerdings ein literaturpolitisches Programm, das – nebenbei bemerkt – seine denkwürdige historische Dimension hat, das nämlich des Erbes: „Die Lyrik der DDR gehört zu unserem Erbe, ob wir wollen oder nicht“, konstatieren sie, und verweisen darauf, dass dieses Erbe nun, nach 20 Jahren, neu gesichtet werden sollte.

Zentrales Argument ist dabei, dass die Autoren der DDR mit großem Ernst und großer Sorgfalt ihrer Arbeit nachgingen. Sorgfältiger seien sie mit ihrem Handwerk umgegangen, sie hätten bewusst die Tradition der deutschen Lyrik rezipiert und genutzt, um das eigene Werk zu pflegen. Und das aus gutem Grund, denn sie hätten mit einem Publikum zu rechnen gehabt, dass sorgfältig, aufgeschlossen und interessiert gelesen habe, auch Sperriges, auch Langes, auch Ungewohntes. Man habe Zeit gehabt, und die Literatur ernst genommen, der Staat wie die einzelnen Leser. Und das ist in der Tat eine andere Basis auch für die Lyrik als in der Bundesrepublik, die in ihren Autoren oft nur die aufmüpfigen Kritikaster gesehen hat.

Das mag man akzeptieren oder nicht, die Auswahl, die Wagenbach und Buchwald präsentieren, bestätigt in jedem Fall, dass die DDR-Lyriker ihr Arbeiten sehr bewusst und sehr konzentriert, eben nicht als beliebiger subjektiver Ausdruck, sondern als bewusste Intervention in Literatur, Kultur und Politik ihres Staates sahen.

Die Texte, die sie abdrucken, sind in einigermaßen chronologischen Abteilungen zusammengestellt, in die einzelne Gedichte eingefügt sind, die aus anderen Zeiträumen stammen, allerdings in den jeweiligen anderen Zusammenhang gehören. Dass die Herausgeber lediglich die anachronistischen Texte, nicht jedoch den Kontext datieren, ist zumindest erst einmal irritierend.

Betörend ist jedoch, dass sie – neben dem unvermeidlichen Reiner Kunze – zwei Gedichte von Volker Braun und Peter Hacks in einem Epilog versammeln, der (auch aus der Distanz) Grandioses versammelt, in diesem Fall von Hacks: „und in großer Ruhe / Sehn wir nachher beim Glenfiddichtrinken / Hinterm Dachfirst die Epoche sinken.“

Heinz Ludwig Arnold und Hermann Korte hingegen gehen in ihrem deutlich umfangreicheren Band gleich aufs Repräsentative. Sie beanspruchen, eine „repräsentative Auswahl“ von DDR-Gedichten vorzustellen, nehmen aber DDR-Lyriker, die ihr Land verlassen hatten, ebenso dazu wie die zehn Jahre Nachklang zur DDR.

Repräsentativität können sie auch deshalb beanspruchen, weil sie nicht auf eine willkürliche Auswahl, sondern auf eine Auswertung von Lyrikerstausgaben und auf Veröffentlichungen der Zeitschriften „Sinn und Form“ und „neue deutsche literatur“ zurückgreifen. Die Gedichte sind chronologisch zur Erstpublikation oder dem Jahr, in dem sie geschrieben wurden, geordnet, was andere Einsichten in die thematischen Entwicklungen der DDR-Lyrik ermöglicht.

Erkennbar werden die Verschiebungen, die in der Geschichte der DDR-Lyrik wie in der der DDR erkennbar sind: Aber die Offenheit zu Beginn, die im sozialistischen Staat anfangs vor allem eine historische Chance, später einen Versuch, hinter den man nicht zurückfallen wollte, sieht, vergeht nicht ganz. Selbst ein regimekritischer Autor wie Biermann schreibt Texte, in denen das Ziel des sozialistischen Staatswesens anerkannt wird, so wenig Hoffnung auch auf Änderung bestehen mag. Diese grundsätzliche Identifikation mit der sozialistischen DDR bleibt für viele Autoren bis zum Ende prägend, für einige darüber hinaus, ohne dass dies an der Seriosität ihrer Arbeit irgendwelche Zweifel zuließe.

Auffallend auch die prägenden Gestalten des Bandes (wie auch des von Wagenbach und Buchholz herausgegebenen): Bechers Nationalhymne ist für beide Bände bedeutend, Wagenbach und Buchholz stellen die Hymne, die in den späten Jahren nicht mehr gesungen wurde, gar ihrem Band voran. Natürlich sind Brecht und Huchel für die frühen Jahre dominant, Biermann, Sarah Kirsch oder Günter Kunert für die 1960 und 1970-Jahre, bevor dann die Neomodernen der Prenzlauer-Berg-Szene das Szepter übernehmen.

Naheliegend wächst die Zahl der unbekannteren Autoren, je weiter in die Vergangenheit oder je näher wir der Gegenwart kommen. Eine Lyrikerin wie Barbara Köhler, die zu den bedeutenden experimentellen Autorinnen der Gegenwart gehört, ist in beiden Bänden vertreten – aber wer kennt sie außer wenigen Spezialisten, und dann auch: Wer schätzt sie?

Aber darauf kommt es nicht an. Denn Arnold und Korte setzen auf die Idee des frischen Textes, auf die neue Lektüre, die nicht mehr verstrickt ist in den Debatten und Auseinandersetzungen der jeweiligen Gegenwart. Die Texte verlieren dabei – aus ihrem Kontext gerissen – vielleicht an ihrer ursprünglichen Brisanz. Zugleich haben sie jedoch eine unerhörte Chance, dass sie nämlich einen neue Referenzraum erhalten, der nicht mehr nur identisch ist mit diesen vierzig Jahren DDR, sondern mit einer modernen Gesellschaft, die unabhängig vom politischen System auf ihre Mitglieder wirkt. So gesehen sind beide Bände nicht nur als mehr oder weniger repräsentative Übersichten zu verstehen und zu nutzen, sondern auch als Leseauftrag, dem man mit großer Freude folgen darf.

Titelbild

Christoph Buchwald / Klaus Wagenbach (Hg.): 100 Gedichte aus der DDR.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
168 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132222

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Titelbild

Heinz Ludwig Arnold / Hermann Korte (Hg.): Die Lyrik der DDR. Anthologie.
Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold und Hermann Korte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
448 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783100015334

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