Helden der Willenlosigkeit

Ingos Stöckmanns Studie zur „Gründung der literarischen Moderne“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Moderne zählt zu den interessantesten und darum auch meist untersuchten Epochen der Literaturgeschichte. Weniger Beliebtheit erfreut sich hingegen der Naturalismus. Ingo Stöckmann widmet seine ebenso umfangreiche wie innovative Studie „Der Wille zum Willen“ beiden und befasst sich mit der Bedeutung des Naturalismus für die „Gründung der literarischen Moderne“. Diesen Gründungsvorgang führt er mit den – bislang verborgenen und vom Verfasser nun aufgedeckten – „Modernisierungsleistungen“ der „Selbstanwendung des Willens“ eng, was angesichts des – einem Wort Georg Simmels entliehenen – Titels wenig wundert.

Stöckmanns Interesse gilt dem „transzendentalen Bedingungsgefüge“ zwischen den „naturalistischen Textwelten“ und den „‚organischen’ Leistungen des Willens“, die ihnen dem Autor zufolge nicht nur die Bedingungen ihrer Darstellung sondern auch ihren „thematischen Gehalt“ liefern. Zustimmend zitiert der Autor Samuel Lubinskis „Bilanz der Moderne“ (1904), die in den Protagonisten der naturalistischen Literatur „Held[en] der Willenlosigkeit“ sieht, deren primäre Eigenschaft in einer „mimosenhafte[n] Empfänglichkeit für Stimmungsschwankungen“ bestanden habe. Damit markiere Lubinski „eine Art transzendentale Struktur“, welche die „Rede- und Schreibbedingungen“ der Texte des Naturalismus bestimme.

In welchem Zeitraum die Moderne die Bühne der literarischen Kunst genau betrat und eroberte, ist in der Forschung nicht ganz unumstritten. Stöckmann datiert ihre Genese in die letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts und weist dem Naturalismus eine „Schlüsselfunktion“ für deren Entstehung zu. Dabei bestreitet er durchaus nicht die von der bisherigen Forschung in Anschlag gebrachten Erkenntnisansprüche, hinsichtlich „Realitätserfassung und phono-photographische[r] Detailtreue, Gegenstandsreferenz und ‚objektive[r]‘ Mimesis“ des Naturalismus, sondern richtet seinen Blick vielmehr auf die Grundlage dieser Art naturalistischer Realitätserfassung qua Literatur und macht sie in einer „Schicht von apperzeptiven Fragestellungen“ aus, die das, „was ‚mimetisch‘ oder ‚photographisch repräsentiert werden soll“, an die „Strukturen seiner Wahrnehmung und kognitiven Synthese“ bindet.

Anders als manch andere Untersuchung betont Stöckmann den fundamentalen Unterschied, der zwischen dem literarischen und dem wissenschaftlichen Diskurs bestehe. Zugleich verweist er jedoch ganz ausdrücklich auf die „strukturbildenden Leistungen“, die nichtliterarisches Wissen der Literatur bietet. Dabei geht es ihm darum zu belegen, dass der Naturalismus „all die Aporien“, die seine Epoche „in das Licht der historischen Vergeblichkeit tauchen“, inkorporiert „und in einen Prozess konzeptioneller Revisionen überstellt“. Verfolge man diesen Ansatz, erweise sich der Naturalismus als das Movens der Moderne.

Daher habe die naturalistische Literatur als „eine Form uneigentlicher Moderne“ zu gelten, die an der Herausbildung eines „genuin modernen Diskurses über die Moderne“ teil hat. Nur uneigentlich modern sei der Naturalismus aufgrund der „programmatisch antimoderne[n] Richtung“ seiner Sozialromane, deren „narrativ erzeugte Gemeinschaften“ jedoch sehr wohl ein „konstitutiv[er] Teil eines seinerseits modernen Diskurses“ seien. So habe sich diese Moderne in zwei „gegenstrebige“ Momente geteilt, die Stöckmann als „Material- und Systemaspekt“ bezeichnet. Während auf der materialen Ebene all die bekannten „sentimentalischen Einsprüche“ gegen die Moderne vollzogen werden, bietet die „Systemdimension“ Stöckmann zufolge „grundsätzliche Thematisierungsmöglichkeiten“ der Moderne, und zwar ganz unabhängig von der Frage, „ob der Diskurs das Modernisierungsgeschehen als sentimentalischen Verlust einer sozialen Natur oder als Zuwachs systemischer Abstraktionen thematisiert“. Dies ermögliche dem sozialen Roman des Naturalismus eine „spezifische Artikulation“, die es ihm erlaubt, „die auf der Systemebene angelegte Disjunktion so [zu] verknüpf[n] und [zu] ‚ideologisier[en]‘, dass Gemeinschaft und Gesellschaft nicht nur eine sentimentalische Verlaufsform annehmen, sondern zudem als gegenläufige Wertbesetzungen erkennbar werden.“ Der Autor kann für sich in Anspruch nehmen, mit diesen Überlegungen eine „historische Reflexionslage“ in die Diskussion eingebracht zu haben, die von dem in der Forschung weithin favorisierten „binären Schematismus ‚Moderne‘ versus’ Gegenmoderne […] begrifflich nicht bewältigt werden kann.“

Dem Naturalismus, so Stöckmann weiter, eigene eine „literaturgeschichtliche Signatur“, die „all das, was ihm gemeinhin als kognitive und literarische Schwäche angelastet wird, vielmehr als Symptom einer über sich hinausreichenden Bewusstseinslage erweist“. Damit habe es der Naturalismus nachfolgenden Entwicklungen ermöglicht, ihn zu transzendieren, indem sie an ihn anknüpften.

Eine besondere „Koinzidenz“ macht Stöckmann zwischen der naturalistischen Literatur und Arthur Schopenhauers Willensmetaphysik aus, die im Naturalismus „allgegenwärtig“ sei. Der naturalistische Rekurs auf den Willens- und Weltenverneiner sei „von einem narrativen Problem her motiviert“ und „als forcierter Versuch zu lesen“, „den Erfahrungsdruck der Moderne erzählerisch, das heißt mit Rückgriff auf geeignete narrative Schemata zu bewältigen.“

Nun erinnert der Titel des vorliegenden Werkes zwar eher an das Wort vom „Willen zur Macht“ des Schopenhauer-Renegaten und Daseins-Apologeten Nietzsche. Doch wie Stöckmann wohl nicht ganz zu unrecht meint, beschränkte sich der Naturalismus weitgehend darauf, die „sprachlichen Gesten“ des Dionysos-Jüngers nachzubilden, ohne den „Sinngehalt“ von dessen „Spätphilosophie“ zu begreifen. Zu den wenigen Literaten des 19. Jahrhunderts, denen dies gelungen sei, rechnet Stöckmann Leo Berg, dessen Nietzscheanismus erkennen lasse, wo die „konzeptuellen und affektiven Wurzeln der späteren Avantgardebewegungen“ zu suchen und zu finden sind: „In einem Willen, der seiner eigenen Vergesellschaftung zustrebt, weil er in die grenzenlose Fülle des Wirklichen und Möglichen fortan kommensurable Bindungen und stilfähige Fixierungen treibt.“

Sehe man von einem „residualen Überleben in philosophiegeschichtlichen Rekonstruktionen“ ab, sei der Wille im kulturellen Diskurs der vorletzten Jahrhundertwende bereits „erkennbar abgesunken“, resümiert Stöckmann. Seine Funktion als „Leitbegriff“ für humanities wie Psychologie und Anthropologie habe er mit fortschreitenden Forschungserfolgen und der Empirisierung etwa der Psychologie verloren. Hinzu kamen Begriffs- und Paradigmenwechsel, in deren Rahmen Termini wie „Triebregungen“ und „Verdrängungsenergien“ den Begriff „Wille“ ersetzten.

Im Ganzen versteht es Stöckmann, seine Darlegungen zu plausibilisieren. Dies gilt insbesondere für seine grundlegenden Thesen. Gleichwohl kann man im einzelnen nicht jeder seiner Aussagen zustimmen. So war der Philosoph Philipp Mainländer ein selbständiger philosophischer Kopf und nicht etwa ein bloßer „Schopenhauer-Apologet“. Ebenso wie die beiden anderen noch heute als Pessimisten nicht ganz unbekannten zeitgenössischen Schopenhauerschüler Eduard von Hartmann und Julius Bahnsen hat er durchaus ein eigenes System entwickelt. Jeder der drei warf das seine gegen dasjenige Schopenhauers in die Wagschale. Eduard von Hartmann eine hegelianisierende „Philosophie des Unbewussten“, Bahnsen seine einander auf immer und ewig widerstreitenden „Willenshenaden“ und Mainländer darin ganz dessen Antipode eine „Philosophie der Erlösung“, der zufolge sich Gott über den Umweg in individuelle Einzelwillen zu zerfallen vom leidigen Dasein befreit.

Des Weiteren sei angemerkt, dass es nicht ganz unbedenklich ist, Theoretiker Lektüre- und Interpretationsverfahren zuzuschreiben, die erst nach deren Tod entwickelt wurden. Stöckmann tut dies zumindest in einem Falle, wenn er konstatiert, dass „seit Georg Lukács immer wieder […] ‚selbstdekonstruktive‘ Züge“ in Zolas „Docteur Pacal“ „vermerkt“ worden seien. Es muss bezweifelt werden, dass der Marxist Lukács mit diesem Befund einverstanden gewesen wäre.

Abschließend noch eine letzte, etwas grundsätzlichere Bemerkung. Angesichts der ausdrücklich geäußerten Absicht, um der „angestrebte[n] Rekonstruktionsbreite“ willen eine „möglichst breite Erschließung des Textmaterials“ vorzunehmen, sticht umso mehr ins Auge, wie selten Stöckmann Werke von Schriftstellerinnen heranzieht. Auf den mehr als dreiundzwanzig Seiten des Quelleverzeichnisses kann man die aufgelisteten Schriften von Autorinnen wahrhaftig an einer Hand abzählen: Es sind ihrer fünf. Und gerade mal zwei von ihnen sind literarische Werke: „Ellen von der Weiden“ (1900) aus der Feder der seinerzeit zu Recht überaus erfolgreichen Schriftstellerin Gabriele Reuter und Anni Bocks vergessener Roman „Der Zug nach Osten“ (1898). Mit keinem der beiden Titel befasst sich der Autor näher. Bei den drei weiteren Quellen handelt es sich um kurze Zeitschriften-Artikel von Lou Andreas-Salomé, Marie Herzfeld und Irma von Troll-Borostyáni.

Titelbild

Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 - 1900.
De Gruyter, Berlin 2009.
561 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110212457

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