Literarische Wege zur Darstellung des Neuen

Zur Neuauflage von Anna Seghers Erzählungen zwischen 1950 und 1957

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anna Seghers (1900-1983) war 1947 aus ihrem mexikanischen Exil nach Deutschland zurückgekehrt, zunächst nach West-Berlin. Obwohl die Schriftstellerin zu dieser Zeit noch auf ein vereintes Deutschland hoffte, wählte sie 1950 Ost-Berlin als ihren neuen Wohnort. Sie war der Ansicht, nur hier würde ein wirklicher Neuanfang stattfinden. Trotzdem fühlte sich Seghers auch im sozialistischen Nachkriegsdeutschland zunächst fremd, aber durch ihre Arbeit und Sprache war sie mit ihrem Herkunftsland verbunden geblieben.

Im November 1949 erschien Anna Seghers Roman „Die Toten bleiben jung“. In den Jahren bis zur Veröffentlichung ihres nächsten Werks „Die Entscheidung“ schrieb sie mehrere Erzählungen, in denen sie die unterschiedlichsten Gegenwartsthemen gestaltete.

Nun liegen in der Werkausgabe des Aufbau Verlages diese Erzählungen in einem Band vor. Den Auftakt bildet der Zyklus „Die Linie“. In diesen drei Erzählungen, die alle historische Themen aus dem Klassenkampf (zum Beispiel den Partisanenkampf) behandeln, führt Seghers den Leser zu den wichtigsten Schauplätzen ihres bisherigen Lebens und Schreibens zurück – China, Frankreich und die Sowjetunion. Die Geschichten sind Josef Stalin gewidmet, der damals noch als Garant für sozialistischen Fortschritt stand.

In „Cristina – Mexikanische Novelle“ (1950), ihrer ersten mexikanischen und karibischen Erzählung, schildert Seghers das Leben eines einfachen mexikanischen Mädchens, das elternlos und arm ist, aber nach schweren Schicksalsschlägen zur Geborgenheit zurückfindet. In „Die verlorenen Söhne“ und „Die Tochter der Delegierten“ setzte sich die Autorin mit der Eltern-Kind-Problematik von Parteiarbeitern auseinander. In „Der Mann und sein Name“ (1952) gestaltete Seghers dagegen die allmähliche Wandlung eines ehemals aktiven Nazi zum bewussten Sozialisten.

Die drei kurzen Texte des Zyklus „Die Kinder des zweiten Weltkrieges“ handeln von den Auswirkungen des Krieges auf Kinder. Mit einer knappen und nüchternen Sprache werden die seelischen Leiden von Kindern durch ihre Kriegserlebnisse geschildert. Mit „Der erste Schritt“ erschien 1953 der erste Band von ausgewählten Erzählungen, die später in der zweibändigen Sammlung „Der Bienenstock“ veröffentlicht wurden. Die 24 kurzen Texte berichten in Reportageform von verschiedenen Männern und Frauen aus allen Ländern und unterschiedlichsten Milieus. In „Die Rückkehr“ (1953) versuchte Seghers das Thema des Heimkehrers aus der Kriegsgefangenschaft zu gestalten. Die Arbeit an dieser „verdammten deutschen Novelle“ bereitete ihr allerdings allerlei Verdruss und Parteikritik, so dass sie die Erzählung mehrfach überarbeitete.

1953 erschienen auch sechs Kurzgeschichten unter dem Titel „Friedensgeschichten“ in Buchform, die bereits drei Jahre zuvor in Zeitschriften abgedruckt waren. Seghers wandte sich hier der unmittelbaren DDR-Wirklichkeit zu und betrachtete vor allem den gesellschaftlichen Neuanfang. Jede der Geschichten beleuchtete die beginnende Bewusstwerdung des Menschen, vor allem die der Dorfbewohner.

Seghers wollte in die Breite wirken und auch solche Leser erreichen, die bisher kaum zu Büchern gegriffen hatten. Daher bediente sie sich einer einfachen Erzählsprache und verzichtete bewusst auf große Gesten der sozialistischen Propaganda. Der Anhang des Bands versammelt abschließend noch drei kurze, bisher unveröffentlichte Erzählungen, die Seghers später nicht in ihren Erzählband „Der Bienenstock“ aufnahm.

Der Zeitraum von 1950 bis 1957 waren schwierige Jahre für die Autorin. In den ersten Jahren nach dem Krieg galt sie in Ost und West noch als die große Schriftstellerin der Gegenwart. 1947 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis. Doch bald wurde es im Westen still um sie. Der Kalte Krieg breitete sich im politischen und kulturellen Leben aus und sie wurde als „DDR-Staatsdichterin“ diffamiert.

Außerdem kehrte ihr Ehemann, der ungarische Soziologe László Radványi, der sich später Johann-Lorenz Schmidt nannte, erst 1952 aus dem Exil zurück und musste sich zahlreichen Verhören der Staatssicherheit unterziehen. Trotz dieser Atmosphäre von Angst und Misstrauen vertrat Anna Seghers in ihren Erzählungen der 1950er-Jahre stets die Parteilinie. Aber sie prangerte auch Verrat und Intrigen an: Die Erzählungen bieten damit eine einzigartige und realistische Sicht auf das Nachkriegsdeutschland.

Titelbild

Anna Seghers: Erzählungen 1950-1957. Werkausgabe II/4.
Herausgegeben von Bernhard Spies und Helen Fehervary.
Aufbau Verlag, Berlin 2009.
474 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783351034658

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