Versöhnung mit der Endlichkeit

Craig Thompson breitet in seinem illustrierten Roman „Blankets“ eine gewaltige erzählerische Fläche aus

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Graphic Novels wollen respektabel sein; sie zehren aber auch vom Status des Abseitigen und profitieren von ihm: Er verschafft ihnen Freiraum für das Abseitige, für das Gemeine, das Verzweifelte, die Demütigungen und die Qual, um die es in ihnen häufig geht.

Graphic Novels sind auch das Medium für coming of age-Geschichten. Man könnte sie, in Anlehnung an einen klassischen Begriff, als den Missbildungs-Roman der Gegenwart bezeichnen. Zeichner erzählen von ihrer verkorksten Kindheit, die sie in ihrer verrückten Jugend unbewusst verarbeiten, und mit der sie in ihrem peinlichen Twenty- oder Thirty-Something-Dasein leben müssen. Dass das letztere peinlich ist, das entgeht vielen Autoren leider. Weil sie selber oft weder alt noch reif sind oder vielleicht einfach nur, weil ihnen die Distanz zu sich selbst fehlt, sind die Übergänge von schmerzhafter hin zu lustvoller Selbstgeißelung fließend. Zwischen kritischer Selbstsicht einerseits, dem sich Suhlen in den persönlichen Idiosynkrasien andererseits und der Strategie, sein eigenes Versagen als besonderen Gewinn auszugeben zum Dritten, liegt häufig nur der Hauch einer Hemmung.

„Blankets“ handelt von der Kindheit und der Jugend eines bestimmten Menschen, der genau so heißt wie der Autor. Wie es sich für eine Graphic Novel gehört, erzählt „Blankets“ immer mehr als der Text in den Panels, bebildert sie nicht nur die Sprechblasen und den Erzähltext. Die sehr klaren Schwarz-Weiß-Bilder erzählen auf knapp 600 Seiten von den Gefühlen der Protagonisten, von ihren Vorstellungen, Phantasien und Ängsten. Die Welt wird nicht bloß abgezeichnet, sondern ist bevölkert und dynamisiert durch das Seelenleben der Menschen. Räume dehnen sich und werden verzerrt, und in den dunklen Winkeln leben die Angstgestalten der Kindheit. Aber „Blankets“ ist keine surreale Graphic Novel.

In seiner Kindheit musste Craig mit seinem jüngeren Bruder in einem Bett schlafen. Weil seine Eltern nur wenig Geld hatten, hatte dies auch zur Folge, dass sie im Winter im ungeheizten Zimmer froren und über keine teure Sport-Kleidung und -Ausstattung für den Wintersport verfügten. Craig war das Spottobjekt für seine Mitschüler, und es brauchte seine Zeit, bis seine Haut hierfür dick genug war. Seine Mitschüler sind jocks und goons, wie aus den Liedern der Dead Kennedys: Sportler und Rednecks, die mit Muskeln und Sexerlebnissen protzen, saufen, auf die Jagd gehen und gerne mal Angehörige von Minderheiten aufmischen.

Craigs Eltern sind strenge Christen, die ihre Söhne im Sinne der Kirche erziehen, zu der sie jeden Sonntag gehen: körper-, sinnen- und lustfeindlich, emotional abhängig machen, moralisch erpressen, Angst und schlechtes Gewissen einflößen, um dies dann ausbeuten zu können, die Seele brechen.

Im Lauf der Jahre lernt Craig die anderen Jugendlichen zu erkennen, die auch nicht dazugehören. Ähnlich wie er selbst sind sie Punk oder Grunge, aber auch bei ihnen bleibt er Außenseiter, weil er weder raucht noch trinkt. Nicht nur hier zeigt sich, inmitten aller Dissidenz, die Tiefe der christlichen Prägung. Als Jugendlicher lernt er im alljährlichen Wintercamp Raina kennen, eine äußerst attraktive Gleichaltrige, in die er sich verliebt. Doch erst als er sie einige Zeit später in ihrer Heimat für zwei Wochen besucht, gestehen sie sich ihre Liebe. Wie sehr er ein Außenseiter ist, das merkt er, als er mit Raina deren Schule besucht: Sie ist auch eine Außenseiterin – hat aber, im Gegensatz zu ihm, Freunde. Hier, in der etwas größeren Stadt, ist Grunge zwar auch Subkultur, aber als ihr Angehöriger ist man nicht allein, sondern hip. Craig will aber nicht Teil einer Kultur sein.

Es ist möglich, dass sich hier der christliche Narzissmus regt, den beispielsweise der Psychoanalytiker Tilman Moser aus eigener Erfahrung in seinem Buch „Gottesvergiftung“ darlegt: Sich alleine zu fühlen und für das, was man vertritt, verspottet und verfolgt zu werden, das bringt einen näher zu Gott. Das Leiden ist wie eine Investition in ein eigenes Häuschen mit Garten im Himmelreich. Es ist einer der vielen Deals, die die Religiösen eingehen, und die ein Treibsatz für ihren Glauben sind: Handel mit Gott darf man nicht betreiben; also müssen sie den Deal verleugnen; sie bekommen ein schlechtes Gewissen und werden unsicher wegen ihres Grundverständnisses von Glauben; also müssen sie sich umso mehr abmühen. Dieses perpetuum mobile funktioniert wirklich.

Die langen Haare, für die Craig zu Beginn seiner Pubertät als schwul bezeichnet wird, – man findet sie auf jedem Jesus-Bild. Und als sein Kopf mit den Jahren immer schmaler und markanter wird, ähnelt er dem Heiland tatsächlich. Aber wie Jesus zu sein und sich ständig zu fragen, was Jesus wohl getan hätte und sich dabei ständig schlecht zu fühlen, weil Jesus so sehr für einen gelitten habe, dies rächt sich.

„Blankets“ handelt zum größten Teil von Craigs Kindheit mit seinem Bruder Phil und der Beziehung zu Raina sowie den mit ihr assoziierten Problemen der Adoleszenz. Vor der ersten Nacht in Rainas Bett – in der tatsächlich nur ein Schlafen bei und nicht ein Schlafen mit stattfindet – fallen ihm zwei Seiten lang Bibelsprüche gegen die Fleischeslust ein. Und auch Jesus schaut auf ihn von Rainas Zimmerwand herab, zwischen den vielen Postern von Dinosaur Jr., den Pixies, den Violent Femmes und anderen. Die Rettung vor der Bibel gelingt ihm mit der Bibel, und zwar mit der üblichen Notausfahrt, dem Hohelied Salomos: Raina ist also von göttlicher Anmut, ihr Körper ist ein Tempel und so fort. Am Ende des dicken Bandes differenziert Thompson äußerst fragwürdig zwischen gutem Sex einerseits und bösem andererseits. Halbnackt in erregter Umarmung droht er mit Raina im Taumel der Fleischeslust nach unten ins Dunkel stürzen, wo Monster und Dämonen mit schnappenden Kiefern und sichelnden Krallen warten. Doch zwei lichte Engel heben sie rechtzeitig wieder empor.

Vielleicht aber geht es Thompson nicht darum, seinen Sex vor und mit dem Christentum zu salvieren und gegen Sex in toto abzusetzen, sondern von bestimmten Formen der Sexualität zu unterscheiden, die nicht einfach in genere verabscheut werden, weil sie körperlich und sinnlich sind, sondern weil sie bestimmter Kritik verfallen, wie beispielsweise das frauenverachtende Kraftgeschwätz seiner ‚normalen‘ Mitschüler, das zwischen verdrängten Ängsten und Aggressivität oszilliert. Des Weiteren deutet Thompson an, dass sein Bruder und er von ihrem Babysitter missbraucht wurden. Vielleicht ist die biblisch inspirierte Lobpreisung von Rainas Körper nicht der klägliche Versuch, seine ‚schmutzige Begierde‘ zu adeln, sondern inbrünstiger Ausdruck eines endlich gefundenen Glücks: einer Erfahrung, in der geistiges Ideal und physisches Erleben sich glücklich miteinander vereinigen. „So oft ihr aus diesem Kelch trinkt, es ist nie genug“, kombiniert Thompson geschickt eine Stelle aus 1. Korinther 11,26 mit einer anderen aus Haggai 1,6. Diese Lust unstillbarer Begierde wiederholt sich später, als er als junger Erwachsener in der Großstadt endlich alle Bücher lesen kann, die er will.

Es sind diese gegenläufigen Strömungen in „Blankets“, die die besondere Qualität dieser Graphic Novel ausmachen. Die Liebe zwischen Craig und Raina wird groß und pathetisch ausgebreitet, mit all der Selbstüberschätzung, wie nur 16-jährige Außenseiter mit einem sado-masochistischen Verhältnis zu ihrem Narzissmus sie entwickeln können. Und dann wird diese Liebe aber auch ganz schnell beendet – wenn auch nicht in erzählter Zeit, wohl aber in Erzählzeit. Thompson schildert auch kein großes Leiden, so wie man es erwarten könnte, ja müsste, wenn man sich den epischen Romantizismus anschaut, mit dem die Liebesgeschichte aufgebaut und gelebt wurde.

Ebenso unvermittelt und ruhig vollzieht sich auch Craigs Abschied von der christlichen Welt, nachdem er die Bibel mit kritischer Bibel-Lektüre immanent überwand. Nur nebenbei wird eine ‚Glaubens-Auszeit‘ von sieben Jahren erwähnt und diskret in wenigen Bildern ein Leben in New York skizziert, in dem Craig den alltäglichen Umgang mit vielen attraktiven Frauen genießt, deren Auftreten bestimmt nicht den Moralvorstellungen seines Elternhauses entspricht. So groß das Leiden unter der christlichen Erziehung war und ist – so unspektakulär steigt Craig aus. Man kontrastiere dies mit den frühen Strips von Daniel Clowes, die vor introvertierter Aggressivität vibrierten, bevor sie in Depression („Like a velvet Glove cast in Iron“, 1993) und selbstdarstellerisches Selbstmitleid („David Boring“, 2000) umschlugen. Für Thompson ist mit der Darstellung der Kindheit alles gesagt; es braucht nicht, dass ein junger Erwachsener nochmal nachtritt.

Aber: Craig (und vielleicht auch Thompson?) denkt nicht darüber nach, wieso Raina Schluss machte. Clowes hätte sich in Selbstzweifeln gewälzt und – pubertär naheliegend – quälende Vermutungen über seine Unzulänglichkeit als ‚Mann‘ angestellt. Und letzteres ist bei Craig offensichtlich: Er traut sich nicht, sich Raina zu nähern, die lange genug wartet, bis sie schließlich jedes Mal alles initiiert. Thompson lässt Craig einen schnellen Ausstieg aus dessen Liebe finden, der typisch ist, und den der Leser schon von früher her kennt: Craig verbrennt alles, was ihn an Raina erinnert, so wie er früher schon alle seine Zeichnungen verbrannte, zum einen weil sie vor Gott eine profane Beschäftigung seien, zum anderen weil sie ihn an eine Kindheit erinnern, an die er sich nicht erinnern möchte. Dieser glaubenswahnsinnige Rigorismus, für den das Feuer Reinigung verspricht, und den Thompson nur ansatzweise in Frage stellt, lässt erschrecken.

Das Verhältnis des Graphic Novel-Zeichners zu seiner Tätigkeit ist oft ein schwieriges und wird von ihm mitunter selbst reflektiert. Zum einen ist das Zeichnen eine Möglichkeit für den Zeichner, seinen frustrierenden Alltag zu verarbeiten, zum anderen kann er ihm auf diese Weise entfliehen. Zeichnen bedeutet aber auch, sich zurückzuziehen. Es ist eine Beschäftigung, die sich dem Zeichner in einer Welt eröffnet, die ihn nicht akzeptiert, gleichzeitig aber auch die einzige, die ihm bleibt. Alleine zuhause kann einen niemand auslachen oder verprügeln. Der Weg, den er aktiv und gestalterisch beschreitet, ist auch nur der einzige, den er als Ausweg noch sieht. So ist die Bereicherung, die der Zeichner durch seine Tätigkeit erfährt, auch eine Verarmung. Denn ursprünglich möchte er an der Welt teilhaben und zu ihr gehören. Zumindest geben dies diejenigen offen zu, die ihr Zeichnen auch als Symptom eines Scheiterns in Erinnerung behalten, und nicht ihr Leiden verdrängen und den Ausdruck ihres Leidens kompensatorisch aggressiv hypostasieren. Chris Ware geht diesem Mechanismus und der zugehörigen Legitimationsstrategien obsessiv nach, vor allem in seinen beiden „Date Books“ (2003 und 2007). Clowes ridikülisiert in seiner frühen Kurzgeschichte „Art School Confidential“ (die dann im gleichnamigen Film aufging) und in „Pussey!“ (2006) die Hoffnung des Comics zeichnenden nerds, eines Tages mit Comics so viel Erfolg zu haben, dass man alle Frauen haben könnte, und in dem Strip „Ink Studs“ die Selbsttäuschung, dass Comic-Zeichner doch die eigentlich coolen Typen und Babe-Magnets sein müssten.

Was den Zeichner vor der Welt schützt und was ihn gegen die Welt stärkt, das ist auch das, was den Zustand perpetuiert, dem er (einst) entfliehen wollte, das ist das, was ihn immer mehr zum nerd macht. Er geht dem nach, was ihn ausschließt, gestaltet es und kehrt es nach außen. In „Blankets“ wird Craig schon früh zum Perversen stigmatisiert, indem seine Lehrerin ihn vor der Klasse für sein Gedicht tadelt, in dem er all seine Feinde zu Koprophagen machte.

Auch für Craig ist das Zeichnen seit seiner Kindheit eine Flucht aus der Misere. Wenn er zeichnete, dann waren dies „die einzig wachen Momente meiner Kindheit, in denen ich das Gefühl hatte, das Leben sei heilig und lebenswert.“ Doch sein Hobby wird von seiner Sonntagsschullehrerin verworfen, weil Gott mit der Schöpfung die Welt schon gestaltet habe. Wie sehr Unglück und Zeichnen zusammenhängen, erfährt er, als Raina ihn bittet, eine Wand ihres Zimmers künstlerisch zu gestalten: Es fällt ihm nichts ein. Anders war es, als sie noch getrennt waren und sie seine Muse war. Nun aber ist er bei ihr und glücklich. Erst als er sich in ihrer Gegenwart wieder einsam fühlt, gelingt ihm ein Bild.

Doch was geschrieben oder gezeichnet ist, das ist ist für Craig auch sinnlich. Die „durchgedrückten Buchstaben auf der Rückseite“ in Rainas Briefen werden genau über einem Bild von Rainas nacktem Rücken beschrieben. Waren ihre „l“s für ihn „verlockend geschwungene Bögen“, so ihre „f“s „l“s, „die abstürzten, anstatt sich mit dem nächsten Buchstaben zu verbinden.“ Und zwar stürzt der Strich gerade zwischen Craigs Beine zu seinen emsigen Händen. Einmal masturbiert er und dann ejakuliert er auf eines seiner Zeichenpapiere. Bildet sein Sperma ein verwackeltes „R“? Auf jeden Fall windet er sich danach in den Qualen eines schlechten Gewissens.

Eines der Themen und Motive, die sich durch den ganzen Band ziehen, sind die Decken aus dem Titel des Buchs. Die Decken, das ist zum einen die Bettdecke, die Craig mit seinem jüngeren Bruder teilen musste, und die sie sehr tief miteinander verband. Zweitens ist es die Decke (ein richtiger amerikanischer Familien-Quilt), die Raina für Craig nähte, und die er als einziges Erinnerungsstück nicht verbrannte. Drittens stehen die „Blankets“ für die Schneedecke, die im Winterlager und bei Raina zuhause die Landschaft verschönert. Es ist dies viertens aber auch ein Weiß, das Craig zufolge das Hässliche der Welt verhüllt, das, vulgär-christlich-platonisch gesprochen, „eitel“ schön ist und betrügt, indem es verhüllt. Während der Schnee schmilzt, schwindet auch Craigs und Rainas Liebe.

Am Ende merkt Thompson an, während er durch eine unberührte Schneelandschaft stapft und übersehbar als Gleichnis für seine Zeichenkunst, „wie befriedigend es ist, auf einer weißen Fläche Spuren zu hinterlassen. Eine Karte meiner Bewegung anzufertigen“. Es könnte sein, dass er verwundert zu dem Textkasten aufschaut, der den letzten Satz von „Blankets“ komplettiert: „und sei sie auch noch so vergänglich.“ Denn hier findet sich endlich die Versöhnung desjenigen, der das sprirituelle Heil suchte, mit der Endlichkeit.

Titelbild

Craig Thompson: Blankets. Ein illustrierter Roman.
Aus dem Amerikanischen von Claudia Fliege.
Carlsen Verlag, Hamburg 2009.
592 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783551749079

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