Extreme Emotionen hinter erzählerischer Kälte

Narrative Bewältigung des Entsetzlichen in Thomas Manns „Luischen“ und „Anekdote“

Von Denise Dumschat-RehfeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Denise Dumschat-Rehfeldt

Programm

Warum werden „Luischen“ und die „Anekdote“ hier zusammen behandelt? Es bestehen einige Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Erzählungen aus Thomas Manns Frühwerk. Im Mittelpunkt stehen jeweils eine femme fatale und deren schwacher Ehemann. Sie ist um die Dreißig, er etwa vierzig Jahre alt. Die Eheleute passen in beiden Fällen nicht recht zusammen. Ihre Ehe ist kinderlos, also unproduktiv, genealogisch unnütz und findet wahrscheinlich sexuell nicht statt. In beiden Erzählungen besteht überdies eine Dreierkonstellation: In „Luischen“ wird diese von Christian Jacoby, Amra und Alfred Läutner gebildet, in der „Anekdote“ von Ernst Becker, Angela und ihren begeisterten Anhängern. Die Ehemänner sind dabei ausgeschlossene Dritte einer sexuellen beziehungsweise erotischen Beziehung der Ehefrauen mit den jeweils anderen.

Beide Geschichten laufen auf eine „grausame Entschleierung“ und folgenreiche Erkenntnis anlässlich eines von den Eheleuten organisierten Festes hinaus. In „Luischen“ legt Christian Jacoby eine Maskerade an, die den Kern seiner Persönlichkeit trifft und die Einsicht in das bösartige Treiben seiner Frau okkasionell herbeiführt. In der „Anekdote“ wird Angela Becker ihre Maske von ihrem Ehemann Ernst heruntergerissen, der die begeisterte Gesellschaft zwingen will, die tatsächliche, verworfene Existenz seiner Frau zu erkennen.

Es geht um nichts weniger als leidenschaftliche und verletzte Liebe, Ehebruch, Selbsterniedrigungen, Sehnsüchte und öffentliche Blamagen. Aus solchen Motiven werden durchaus auch Soap Operas oder Telenovelas gestrickt; sie sind kitschtauglich. Thomas Mann transponiert sie in den Bereich des Grotesken und Bizarren. Er überzieht alles ein bisschen und es werden zwei soziale Tode und ein physischer Tod gestorben. Dabei hat der Erzähler das Grauen im Griff. Die Texte sind nicht einfach nur grell.

Nachdem „Luischen“ entstanden war, schrieb Thomas Mann an Otto Grauthoff: „[Ich finde] jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu geben“. Diesen Formen und Masken sind die nun folgenden Analysen gewidmet. Wie erreicht Thomas Mann erzählerisch, dass – wie es im Gespräch über Vampirismus in E.T.A. Hoffmanns „Die Serapions-Brüder“ heißt – „das Grauenhafte nicht ausarte ins Widerwärtige und Ekelhafte“?

Stück I: Der schrecklich traurige Koloss – „Luischen“

Die im Vergleich zur „Anekdote“ von der Forschung etwas stärker beachtete Erzählung „Luischen“ liefert ein Ehedrama um den liebenden, sich jenseits der Schmerz- und Geschmacksgrenze selbst erniedrigenden Rechtsanwalt Jacoby und dessen schöne, dümmlich-bösartige Frau Amra.

Thomas Mann selbst bezeichnete „Luischen“ als eine „sonderbare[] und hässliche[] Geschichte, wie sie meiner jetzigen Welt- und Menschenanschauung entspricht“. Der hier vorgeführte Mensch – oder tierische ‚Humanoide‘ – Christian Jacoby ist lächerlich und furchtbar, er erregt Mitleid und stößt zugleich ab. Seiner Verletzung durch Amra, seiner grauenhaften Selbsterniedrigung und Peinlichkeit auf der inhaltlichen Ebene tritt ein dominantes Erzählen gegenüber. Der Text wird in seiner Gemachtheit und Kalkuliertheit ausgestellt. So beginnt er auch schon: „Es giebt Ehen, deren Entstehung die belletristisch geübteste Phantasie sich nicht vorzustellen vermag. Man muß sie hinnehmen, wie man im Theater die abenteuerlichen Verbindungen von Gegensätzen wie Alt und Stupide mit Schön und Lebhaft hinnimmt, die als Voraussetzung gegeben sind und die Grundlage für den mathematischen Aufbau einer Posse bilden.“

Dem Leser wird gleich bewusst gemacht, dass er es mit einem modellhaften Konstrukt zu tun bekommt, das durchaus ein wenig over the top ist und sich einer Posse nähert. Der Leser kann einen derben Spaß in volkstümlicher Manier mit Lied und Tanz erwarten – freilich erzählerisch vermittelt. Und in der Tat finden sich in der erzählten Geschichte Elemente der Satire. Es wird eine komische Aufführung mit Gesang (unter anderem dem typischen Couplet), mit Tanz und Verkleidung erzählt. Die Figuren sind sämtlich possenhaft-grotesk überzeichnet. Jedoch sind sie nicht von niederem Stand, wie es für Possen typisch ist, wenngleich von niederer Moral.

(Der Textaufbau erinnert an das fünfteilige Dramenschema, womit ebenfalls der Theatervergleich zu Beginn der Erzählung aufgenommen wird. Joachim Wich hat „Luischen“ ausführlich hinsichtlich der dramatischen Fünfteiligkeit und ihrer grotesken Verkehrungen untersucht.)

Der Anfang der Erzählung gibt der Geschichte eine Struktur vor – die von extremen Gegensätzen. Das eigentliche Erzählen beginnt dann auch mit der Vorstellung der höchst verschiedenen Eheleute in dieser Versuchsanordnung. Es wird von der gesellschaftlichen Ordnung ausgegangen, indem Amra als „Gattin des Rechtsanwalts Jacoby“ eingeführt wird. Sie ist, „sagen wir mal“ – hier meldet sich der konstruierende Erzähler – dreißig Jahre alt. Eigentlich heißt sie Anna Margarethe Rosa Amalie, was noch nichts Böses ahnen ließe. Das Akronym Amra allerdings exotisiert den Namen und passt besser zu dem südlich-sinnlichen Äußeren und zu der „Persönlichkeit“ dieser femme fatale. Amra ist auffallend schön und sexy. Ihr Geliebter konnte, wie es heißt, ihren „Anlockungen“ nicht widerstehen. Und beim Treffen des Festkomitees entspricht sie in ihrer Aufmachung und mondänen Selbstinszenierung dem Bild der anziehenden und gefährlichen Frau. Ihre Verstandeskräfte halten sich in Grenzen, wenngleich auch nicht genug, um nicht „geneigt zu sein, Unheil zu stiften…“ – die Auslassungspunkte an dieser Stelle lassen einiges Übel erwarten.

Neben Amra tritt Christian Jacoby, ein fetter, widerlicher Koloss. Im Kontrast zu seinen körperlichen Dimensionen steht sein „kleiner Kopf mit den schmalen und wässerigen Äuglein, einer kurzen, gedrungenen Nase“ und einem „winzigen Mund“ zwischen „vor Überfülle herabhängenden Wangen“.

Amra nennt ihn spöttisch „Du gutes Tier –!“ Und der Erzähler ergeht sich ebenfalls in Tiervergleichen: Christian hat einen Rücken wie ein Bär und Beine wie ein Elefant. Für sein spärliches Haupt- und Barthaar findet der Erzähler nur die Bezeichnung „Borsten“. Dies würde neben dem Vergleich mit „einem überfütterten Hund“ eigentlich auch den mit einem Schwein erzwingen. ‚Schwein‘ ist aber auch ein Schimpfwort und würde, expliziert, auch sexuelle Aktivitäten assoziieren, denen Christian ja aber gerade nicht nachgeht. Auf der Bühne wird sich Christian am Schluss mit „Bärentanzschritten“ bewegen und den Kopf „tierisch“ vorschieben. Es werden durchweg Vergleiche außerhalb des Spektrums sexuell konnotierter Tiernamen gewählt. Keinesfalls eignet Christian eine animalische Virilität. Er zeigt die typischen Krankheitserscheinungen Adipöser. Seine Frau und er sind „übrigens“ – wie es scheinbar beiläufig heißt – kinderlos. Dieser Umstand lässt sich mit Impotenz erklären, zumal wenn man ihn damit verknüpft, dass Amra einen Geliebten hat, Christian sie, wie er sagt, über seine Kraft liebt und auf Wunsch seiner Frau im Babykleidchen als effeminiertes Monster auftritt. Im Gegensatz zu Christian Jacobys offenkundigem sexuellen Unvermögen steht die sexualisierte Sprache: Als „unschuldige[n] Spaß“ versucht Christian verzweifelt die „Nummer“ abzutun; Amra und Läutner empfinden „seltsame Schauer“ (Ulrich Weinzierl übersetzt diese als Orgasmus) bei der Planung der vierhändigen Komposition, die das Fest, bei dem dann auch „Bläser und Streicher“ zum Einsatz kommen, auf den „Höhepunkt“ und „Gipfel“ bringen soll.

Zu Christians körperlich-sexueller Impotenz kommt eine wirtschaftliche: Die Jacobys verfügen über „ein gutes Vermögen“, das zum Teil auch Amra in die Ehe eingebracht hat. Christian führt nur eine kleine Kanzlei, vermehrt also das Vermögen offenbar nicht. Er ist überdies, so wörtlich, „im Besitz dieser schönen Frau“ und weiß damit noch nicht einmal zur Repräsentation etwas anzufangen. Er bittet in der Öffentlichkeit beinahe um Verzeihung dafür, als so „widerlicher Mensch“ mit Amra verheiratet zu sein. Und er ist dieser „besorgniserregende[n] Frau“ hoffnungslos in Liebe verfallen. Weinend kniet er mitunter vor – nicht in – ihrem Bett und fleht sie um Treue an, die sie ihm wenigstens aus Dankbarkeit für seine Liebe erweisen solle.

Impotent in mehrerlei Hinsicht, ohne einen Funken Selbstwert, jammernd, sich ‚kriechend selbstverkleinernd‘ (was angesichts der Leibesfülle schon wieder bös-komisch formuliert ist): Als Mann kann Christian Jacoby vor niemandem bestehen. Amra genügt ersatzhalber für ihren Gatten, der eben nicht ihr Mann ist, ein keckes künstlerisches Leichtgewicht.

Das ist alles furchtbar und muss erzählerisch gerettet werden. Der Erzähler ist nicht nur in der Vorstellung der Konstruktion zu Beginn präsent. Gelegentlich verschafft er dem Leser Verschnaufpausen. Thomas Mann selbst weist im Brief an Otto Grauthoff auf die Störung des Erzählflusses durch auktoriale Einschaltungen hin: „Neuerdings passiert es sogar, daß ich bei passender Gelegenheit den Gang der Handlung unterbreche und anfange, mich im Allgemeinen zu äußern, wie z. B. in ‚Luischen‘, wo ich eine kurze, ernsthafte Rede gegen den gecken- und mimenhaften Typus des kleinen modernen ‚Künstlers‘ halte.“ (Dass Thomas Mann auf diese Weise die Figur des Künstlers stärker in den Vordergrund der Wahrnehmung rückt, legt Lesarten ausgehend von der Außenseiterexistenz des Künstlers, über deren Verzerrung bis hin zur Chiffrierung von Homosexualität nahe, wie sie beispielsweise Heinrich Detering entwickelt hat.) Hinzu kommen ironische Kommentare des Erzählers: „[…] gegen eine Frau, welche schön ist und schweigt, ist nichts einzuwenden.“; „Dergleichen empört.“

Amüsant-distanzierend wirkt der inszeniert leidende Erzähler, der seiner Geschichte kaum Herr zu werden scheint. Er zeigt sich durch die Interjektionen „Oh!“ und „Ach!“ oder durch Einlassungen wie die folgende an: „Dieses Benehmen Amras war sicherlich nicht das einer Frau von Sitten. Auch ist es an der Zeit, daß ich mich der Wahrheit entlaste, die ich bislang zurückhielt, der Wahrheit nämlich, daß sie ihren Gatten dennoch täuschte, daß sie ihn, sage ich, betrog und zwar mit einem Herrn namens Alfred Läutner.“ Die Parteinahme des Erzählers für die Moral ist eine nur scheinbare. Zu viel Spaß hat er an der Konstellation. Das wird deutlich am rhetorischen Nachsetzen von „der Wahrheit nämlich“ und dem insistierenden „sage ich“.

Auch der Kitschanfälligkeit trägt der Erzähler Rechnung: „Nun war, um jedes Herz zu erfreuen, der Frühling ins Land gezogen, und Amra hatte einen allerliebsten Einfall gehabt.“ Die abgedroschene Phrase vom ins Land gezogenen Frühling hätte nur noch eine Wendung mit „Lenz“ übertreffen können. Die Kausalität von Frühling und Freude wird hier zuckrig in eine falsche Finalität verkehrt. Das Attribut „allerliebst“ steigert die süßlich-parfümierte Formulierung.

Der Konstruktionscharakter wird im Verlauf der Erzählung immer wieder gezielt in den Hintergrund gedrängt, zum Beispiel dann, wenn der Erzähler anekdotisch zu erzählen vorgibt. So wird Christian Jacobys kriecherisches Verhalten bei Tischgesellschaften zum Exempel für den Typus Mensch, „der sich selbst verachtet, der aber aus Feigheit und Eitelkeit dennoch liebenswürdig sein und gefallen möchte“; und die als wahr unterstrichene peinliche Karambolage mit dem Dienstmann illustriert anekdotenhaft Christians Erbärmlichkeit. Mit der Aussage: „Jedem, der ein Fest zu geben wünscht, […] sind die Lokalitäten des Herrn Wendelin am Lerchenberge aufs beste zu empfehlen.“ lässt sich der Erzähler auf die erzählte Welt ein. Durch die Präsensform entspricht dieser Satz dem Muster der allgemeinen Äußerungen, die die erzählte Welt transzendieren (etwa im Falle des modernen Künstlertypus) oder von denen das Konkrete der erzählten Welt ausgeht. Der Erzähler schaut nicht nur auf den Plan seiner mathematisch strukturierten Posse mit den skurrilen Charakteren. Er führt den Leser schließlich nah an das finale Geschehen heran: „Heute wurden die heranrollenden Wagen schon in der Ferne von farbigem Lichtschimmer begrüßt […]“.

Schließlich wird Christians Auftritt auf dem Fest Nummer für Nummer vorbereitet. Den stärksten Kontrast zum lächerlichen Luischen bildet dabei Herrn Hildebrandts Imitation großer Männer, namentlich Goethes, Bismarcks und Napoleons (letztere mit Blick auf die Körpergröße des französischen Eroberers ein Kalauer). Minutiös wird schließlich Christians abscheulicher Auftritt geschildert und dessen Peinlichkeit für die Betrachter expliziert: „Ging nicht mehr als jemals von dieser jammervollen Figur ein kalter Hauch des Leidens aus, der jede unbefangene Fröhlichkeit tötete und sich wie ein unabwendbarer Druck peinvoller Mißstimmung über diese ganze Gesellschaft legte?“

Christian findet sich plötzlich in zwei Konstellationen als ausgegrenzter Dritter wieder: Er erkennt, dass Amra eine sexuelle Beziehung mit Alfred Läutner hat. Und diese Einsicht ist wohl verbunden mit derjenigen, dass alle von dem Verhältnis wussten – alle bis auf ihn.

In dem Publikum, das im Saal Christian Jacobys Ende zusieht, spiegelt sich der Leser, der wie die Zuschauer in der Erzählung vom Verhältnis zwischen Amra und Läutner weiß.

Drei sind einer zuviel: Der grausige und furchtbar traurige Clown tritt mit lautem Pardauz ab. Was soll man davon halten? Die Menge ist verstört, die Delinquenten Amra und Läutner abwesend – gefühllos. Der Erzähler gibt sich am Schluss gleichgültig gegenüber dem Schicksal Jacobys; der ist nur noch „der dicke Mann“. Amra attestiert der Erzähler ein „Spatzenhirn“ und nimmt ihr damit einmal mehr etwas von dem Schrecken einer boshaften femme fatale.

Der Leser kann sich zurückziehen auf das Achselzucken des Arztes und dessen „Aus.“, das einer ‚Regieanweisung‘ gleichkommt. Es weist auf den Anfang zurück. Alles war nur Theater und eigentlich auch nur eine Posse, teilweise sogar nur erzähltes Aufgeführtes. Katharsis oder Identifikation und Mitleid sind ausgeschlossen und unnötig. Zum Lachen ist einem zwar vielleicht nicht zumute. Es besteht aber zumindest die Möglichkeit der Distanzierung von dem Peingefühl, wenn man sich den Konstruktcharakter des Textes bewusst macht. Auch sein Titel „Luischen“ fokussiert, indem er sich auf die erzählte Aufführung bezieht, Inszenierung und Komposition. Das textuelle Arrangieren und erzählerische Disponieren reflektiert Amras Regieführung und Läutners clevere Komposition. Beides hat Christians Erkenntnis erst möglich gemacht und immerhin fatal gewirkt. Der Leser allerdings kann sich auf das vordergrundierte Erzählen beziehungsweise erkennbare Regieführen des Erzählers konzentrieren, das den Schrecken bannt.

Stück II: Die blendende Show – „Anekdote“

Hinsichtlich literaturwissenschaftlicher Untersuchungen steht die „Anekdote“ deutlich hinter „Luischen“ zurück. Das irritiert schon allein deswegen, weil es so viele Übereinstimmungen zwischen beiden Texten gibt. Teilweise sind sogar Formulierungen identisch.

Vom erzählerischen Rahmen einmal abgesehen, wird in der „Anekdote“ ein Ideal massiv aufgebaut und schließlich zertrümmert. Dies widerfährt der ganz ihrem Namen entsprechend wie ein Engel wahrgenommenen Angela. In den Abendgesellschaften ist sie nicht nur die „Königin der Saison“ (hier deutet sich das Nobilitierungsstreben der Bourgeoisie in der Lebensführung an) und die „Siegerin der Kotillons“, sondern wird sie nachgerade deifiziert.

Der Text ist angereichert mit Worten aus dem semantischen Feld Glaube/Religion und aus der Bibel. Angelas „Anbeter“ empfinden sie als „himmlisch“ und lieben ihr „holdseliges Geplauder“ und „göttlich schalkhaftes Mienenspiel“. Sie gibt der Gesellschaft den „Glauben“ an das Gute und ist die Projektionsfläche aller Sehnsüchte, allen Glücks. „Frauen und Mädchen [beten] sie an“ und Verehrer liegen vor ihr auf den Knien. Ihre Theaterloge und ihre Bude beim Wohltätigkeitsbasar werden mit den vielen „Entzückten“ darin und davor zur Wallfahrtskapelle. Sie ‚ist das Leben‘. Das grenzt an Blasphemie.

Als Ideal ist Angela eine „belebende Macht“ für ihre begeisterte Umgebung. Sie ist „Stachel und Anreiz aller seelischen Energien von seiten des Lebens selbst“. Ohne sie würden die anderen einiges an Lebenslust und -willen einbüßen. Das belebende Verhältnis ist dabei durchaus ein gegenseitiges: Die Gesellschaft wird belebt durch den Kontakt mit Angela: Die Nähe zu ihr treibt den alten Herren das Blut in die Wangen zurück – „sie h[ä]ngen am Leben“. Und Angela ist erst Angela – der Engel – in den abendlichen Gesellschaften, durch die Begegnung mit ihren Bewunderern und durch den Reiz, den sie auf diese ausübt.

In der Frage „Was hülfe es, sie glänzend und wonnevoll zu nennen?“ klingt Matthäus 16, 26 an: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder was kann der Mensch geben, damit er sie wieder löse?“ Der schadvoll Getroffene ist hier nicht Angela, die alle für sich gewinnt, sondern Ernst Becker. Er will das Bild der ‚selig gepriesenen‘, „gottgesegnete[n] Gastgeber“ nicht länger aufrechterhalten. Tatsächlich sei seine Ehe eine „Hölle“ und seine Frau keineswegs ein „Ideal“, sondern nur ein „Idol“, ein Götzenbild. Er schildert, „[w]ie er das alles getragen, getragen habe um der Liebe willen […]“. Die Wiederholung des Partizips „getragen“ insistiert auf dem Bild des Leidenden mit dem Kreuz. Das lässt ihm die Gesellschaft allerdings nicht durchgehen.

Es hat Auffälliges, wenn nicht Verdächtiges an Angela zu bemerken gegeben: „Ernst Becker hatte sie von auswärts mitgebracht […]“. Ihre Herkunft bleibt unklar. Wie in „Luischen“ ist nicht nachvollziehbar, wie es zu der Verbindung des unbedeutenden, zurückhaltenden Mannes und der reizenden Frau gekommen ist. Und „übrigens“ – natürlich – handelt es sich um eine kinderlose Ehe. Beckers vermehren nicht sich, sondern Geld und Bewunderer. Sie nehmen – wie Jacobys – lebhaft am gesellschaftlichen Leben teil. Sie gehören zur „eleganten Gesellschaft“. Ernst Becker ist ein sozialer Aufsteiger: Vom Staatsdienst ist der Jurist „ins Bankfach“ und damit auch in die Bourgeoisie mit ihrer noblen Lebensweise gewechselt. „Als Mitdirektor der Hypothekenbank“ produziert er nichts, verdient aber offenbar gut. Auch hier – wie in „Luischen“ – schlägt der Begriff des Besitzes auf die Ebene der privaten Beziehung durch: „[…] hoffentlich wußte er ihren [Angelas] Besitz zu würdigen“.

Angela tritt als nicht nur sexuell verführerische, blendende Frau auf. Sie schlägt Jung und Alt, Mann und Frau in ihren Bann. Keiner steht jedoch in engerem Kontakt mit Angela, denn man trifft sie kaum „bei nüchternem Tage, sondern immer erst abends zur Zeit des künstlichen Lichts und der geselligen Erwärmung“. Dies versucht man sich mit einer im bürgerlichen Lebenskosmos verträglichen Ursache zu erklären: Sie kümmere sich „offenbar“ um ihren Hausstand. Aber es ist alles ganz anders und Ernst Becker beschließt, dass die Show ein Ende haben muss.

Ich möchte das Grauen illustrieren und Angela Becker als zivilisierte Variante der mythologischen Empusen oder Lamien, Verwandten der Vampire, vorstellen. Dabei handelt es sich um Nachtwesen, die in der Gestalt schöner, aufreizender Frauen junge Männer anlocken, um ihnen das Blut auszusaugen und ihr Fleisch zu verzehren. In einer Erzählung des Philostratos warnt der weise Apollonius seinen Schüler Menippos vor einer Empuse: „Du schöner, von schönen Weibern verfolgter Jüngling hegst eine Schlange an deiner Brust und eine Schlange dich.“ Später entlarvt er die gefährliche Gauklerin: „Die edle Braut hier ist eine der Empusen, die man Lamien und Gestalten des Grauens nennt. Sie trachten sowohl nach Liebesgenuß wie vor allem nach Menschenfleisch und locken diejenigen, die sie verspeisen wollen, durch Liebeslust an.“

Ganz so blutig geht es in der „Anekdote“ nicht zu. Ernst Becker entfaltet folgendes Bild von Angela: „Diese Frau – die dort –, wie falsch, verlogen und tierisch grausam sie sei. Wie liebeleer und widrig verödet. Wie sie den ganzen Tag in verkommener und liederlicher Schlaffheit verliege […] Wie es tagsüber ihre einzige Tätigkeit sei, ihre Katze auf greulich erfinderische Art zu martern. Wie bis aufs Blut [Blut taucht hier nur in der stehenden Wendung auf] sie ihn selbst durch ihre boshaften Launen quäle. […] Wie sie vordem ihn selbst in den Schlund der Verderbtheit hinabgezogen, ihn erniedrigt, befleckt, vergiftet habe.“ In vampirischer Manier wird Angela erst abends aktiv, eben „zur Zeit des künstlichen Lichts und der geselligen Erwärmung“, und erwacht dann zu ihrem „gleisnerischen Leben“.

Ernst Becker konfrontiert die „elegante[] Gesellschaft“ zu allem Überfluss auch mit Angelas außerehelicher Sexualität, die gänzlich unstandesgemäß ist. Die Reihenfolge der genannten Gruppen, aus denen die Sexualpartner kommen, ergibt eine Klimax zunehmender Desozialisiertheit: Diener, Handwerksgehilfen, Bettler. Am Schluss – und hier bekommt er durch die Form der direkten Rede endlich eine Stimme – materialisiert Ernst Becker die Verderbtheit seiner Frau an deren Körper: „[S]ie wäscht sich ja nicht einmal! […] Sie ist schmutzig unter ihrer Spitzenwäsche!“

Angela ist eine ungeheuerliche Konkretion der Idee vom Blendwerk der Maja. Die Entschleierung durch Ernst Becker ist für die begeisterte Gesellschaft das blanke Grauen. Der einzige Ausweg ist die Entfernung. Sofort nach seiner Ansprache wird Ernst Becker von zwei Herren hinausgeführt. Einige Tage danach versucht er den Schrecken zu heilen, den die Gesellschaft durch seine Offenbarung erfahren hat, indem er sich in eine Nervenheilanstalt begibt. Ihm muss nicht wirklich geholfen werden („Er war aber vollkommen gesund […]“), aber den anderen. Der zeitweise Aufenthalt außerhalb der Gesellschaft reicht allerdings nicht aus und Beckers verlassen schließlich die Stadt.

Ernst Becker hat die Illusion der Entsprechung von Name und Bedeutung zerstört und der Gesellschaft ihre Sinnstifterin genommen. Der Abgrund zwischen dem Namen und der Person Angela (Signifikant) und dem, was sie ihren Anbetern bedeutet hat (Signifikat), ist unüberwindbar, der Riss endgültig. Der Glaube an die Erfüllung in der Liebe, an Schönheit, Glück und das Leben ist zum Teufel.

Kommen wir zur Erzählkonstruktion, die zwei – oder zweieinhalb, wenn man so will – Erzählebenen aufweist: Ein nicht näher bestimmter Erzähler erzählt von einer geselligen Runde, in der jemand von einer tatsächlichen Begebenheit erzählte und dabei in weitgehend nur indirekter Rede auch die Erzählung eines Beteiligten an dieser Begebenheit wiedergab. Den Rahmen bildet ein abendliches Gespräch eines Kreises von Freunden. Darin geht es um das Dürsten, die Sehnsucht und die bittere Erkenntnis von der Scheinhaftigkeit des blendenden Lebens. Zur Illustration der philosophischen Frage nach dem Wesen der Sehnsucht und nach der Bedeutung des „Schleier[s] der Maja und seine[s] schillernde[n] Blendwerk[s]“ erzählt einer der Freunde in dieser „beschaulich[en] und ein wenig gefühlvoll[en]“ Runde die Anekdote von Angela Becker. Die ersten drei Sätze der Rahmenerzählung beginnen mit dem Pronomen „Wir“. Das unterstützt den Eindruck einer kleinen vertrauten Runde. Danach wird das Erzählen unpersönlicher – etwa durch die Passiv-Konstruktion „der philosophische Satz war aufgestellt“ und die Einführung des Binnenerzählers als „jemand“.

Der Binnenerzähler stellt Angela Becker sehr positiv vor. Er beginnt mit dem Ausruf: „Hättet ihr Angela gekannt, Direktor Beckers Frau, […] ihr wäret vernarrt in sie gewesen wie ich und alle!“ Auf die Institution Ehe wird wie in „Luischen“ auch gleich zu Anfang hingewiesen. Hier wird sie allerdings fortbestehen, nur nicht unter den Augen der konsternierten Gesellschaft der ungenannten Stadt.

Für die Erzählung des fatalen Festes wechselt das Tempus ins Präsens. Der Binnenerzähler zoomt nah an das Geschehen heran und vermittelt schließlich Ernst Beckers verhängnisvolle Rede, dies allerdings fast ausschließlich in indirekter Form, was eine distanzierende und leicht ironisierende Wirkung hat. Er müsse „sich von der Wahrheit entlasten“, gibt der bleiche Redner an. Dieser Wortlaut erinnert an „Luischen“: Dort entlastet sich der Erzähler der Wahrheit, dass Amra Christian betrog. Mitteilungen solcher Art von einem unbeteiligten Erzähler an den Leser sind unproblematisch und folgenlos. Im Fall der „Anekdote“ ist es aber Ernst Becker, der gegenüber seiner sozialen Umwelt etwas Grauenhaftes an den Tag bringt. Diese Demaskierungen verträgt seine feine Gesellschaft jedoch nicht. Erzählerisch hingegen lassen sie sich handhaben. Der Erzähler der „Anekdote“ erzählt am Schluss nur noch sachlich-unbeteiligt und die Rahmenerzählung unterlegt der Geschichte die Folie einer philosophischen Frage.

Wie in „Luischen“ entsteht Spannung zwischen dem Textcharakter in seiner Konstruiertheit und dem Geschehen in der fiktionalen Welt. Das gibt schon der Titel vor. „Anekdote“ verweist auf den Text als Text, der einer bestimmten Gattung angehört. Das Gattungsschema der Anekdote wird auch durchaus erfüllt: Der intradiegetische Erzähler der Anekdote bleibt anonym. Dieser Unbestimmtheit entgegen wird allerdings mitgeteilt, dass er versichert habe, alles hätte sich tatsächlich so zugetragen. Wenig später betont er selbst: „Auf mein Wort, so war es!“ Die Geschichte hat einen starken Schlusseffekt und läuft knapp und einsträngig darauf zu. Als moralisch-didaktische Lesart käme zunächst die Fassadenhaftigkeit von Ehen in Betracht. Mit Blick auf die philosophische Ausgangsthese, dass „das Ziel aller Sehnsucht […] die Überwindung der Welt“ sei, ergibt sich die Erkenntnis, dass man sich zwischenzeitlich auch gern mit schöner Täuschung begnügt – „Mundus vult decipi“. Solang nur niemand das böse wahre Wort spricht…

Es wird nicht erzählt, ob sich das Gespräch des Freundeskreises nach der Anekdote emotionaler gestaltete als zuvor – „beschaulich und ein wenig gefühlvoll“ ist es davor gewesen.

Schluss

Erkenntnis kann weh tun, unerträglich sein und sogar töten. Besonders schlimm ist es, wenn Liebe im Spiel ist. Das führen „Luischen“ und die „Anekdote“ vor. Die Figuren werden damit nicht fertig. Erzählerisch wird dem Ganzen aber beigekommen. Wir werden nicht überrumpelt wie Christian Jacoby von Alfred Läutners kompositorischem Einfall oder wie Angelas Anbeter von der Ansprache Ernst Beckers. Für uns erfolgt die „grausame Entschleierung“ mit Ansage und wir können uns noch an der Struktur des Textgewebes freuen.

Vorhang

Über die Assoziationskette femme fatale – „La belle dame sans merci“ von John Keats, mit dessen Werk Thomas Mann allerdings erst 1911 bekannt wurde, in dem aber „Manches für [ihn] zu finden“ war – Umsetzungen des Motivs in der bildenden Kunst bin ich zufällig auf den australischen Künstler Matt Benson-Parry gestoßen. Mit dessen Bild, das unter dem Titel „La belle dame sans merci“ in erstaunlicher Zufälligkeit das Verhältnis zwischen Amra und Christian Jacoby zu treffen scheint, möchte ich meinen Vortrag beschließen.