Negatives Programm zur Verteidigung der Freiheit

Wolfgang Sofskys „Das Buch der Laster“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Fantasie“, sagte Kant einmal, „ist unser guter Genius oder unser Dämon.“ Nach der Lektüre von Wolfgang Sofskys „Das Buch der Laster“ muss man sagen: Sie ist vor allem unser Dämon. Denn abgesehen von der Hinterlist, die ohne Realitätssinn kaum ihr Ziel erreicht, scheint es kein Laster zu geben, bei dem die Einbildungskraft nicht Regie führte: Dem Neid malt sie das Glück der anderen aus; der Maßlosigkeit imaginiert sie unbegrenzte Wonnen. Die Torheit will ihr Luftschloss nicht verlassen, und der Grausamkeit beschert sie immer neue Einfälle, ihre Opfer leiden zu lassen.

Die Wiederbelebung antiker oder christlicher Morallehren ist in der Post-Spaßgesellschaft auffallend „in“: Schon vor drei Jahren beschrieb Gerhard Schulze die westliche Moderne aus der Sicht verbiesterter Kirchenväter; diese Saison erzählt Eva Menasse von den „Lässlichen Todsünden“ ihrer Figuren. Wolfgang Sofsky, der Göttinger Spezialist für die Nachtseiten des Menschen, von dem viel beachtete Standardwerke über den Holocaust und die Formen der Gewalt stammen, hält es jedoch weniger mit Gottes Ge- und Verboten als mit Aristoteles’ Lehre von den in der goldenen Mitte zwischen falschen Extremen zu findenden Tugenden.

Das weitaus meiste von Menschen angerichtete Übel auf der Welt geschehe nicht, so Sofsky, weil jemand wie Mephisto das Böse um des Bösen willen anstrebe und auch nicht aufgrund von Genen, Erziehung oder neuronalen Defekten. Sondern aufgrund von menschlich-allzumenschlichen Schwächen, die dem Bösen erst die Tür öffnen, wie etwa die Gleichgültigkeit. Weshalb Sofsky seine schwarze Anthropologie nun um eine „Kritik der Laster“ erweitert, durch die „manche Wege zur Gewalt“ versperrt werden könnten – als „ein bescheidenes, negatives Programm zur Verteidigung der Freiheit“.

Daran erinnert zu werden, dass der Mensch frei und für sein Tun und Lassen selbst verantwortlich ist, ist immer begrüßenswert – auch wenn Zweifel bleiben. Reicht es wirklich aus, etwa Amokläufe wie zuletzt in Winnenden allein auf eine Mischung aus Selbstmitleid und Zorn zurückzuführen, statt nicht auch soziale Faktoren zu berücksichtigen oder die von Sofsky abgelehnte Frustrationstheorie zu bemühen? So pessimistisch Sofsky für die Menschheit als Ganzes ist, dem Einzelnen traut er durchaus zu, dem Laster abzuschwören und fürderhin Minerva und Prudentia, den Göttinnen der Weisheit und Klugheit, zu folgen.

Ein bisschen „Haltung“ und „Charakter“, die innere Freiheit und Distanz zu den eigenen Neigungen verschaffen, wären dazu allerdings nötig. Eigenschaften, wie sie etwa dem „Trägen“ fehlen: „Die natürliche Stellung des Trägen ist das Liegen. In seiner ganzen Länge berührt der Körper die weiche Unterlage. Er streckt sich, die Spannung löst sich, er entfernt sich aus der Welt […] Die Hände falten sich vor dem Bauch, der Kopf bewegt sich immer gemächlicher, die Gedanken schweifen ab, Wille und Vorsatz vergehen, auch im Sitzen gewinnt die Einbildungskraft allmählich die Oberhand.“

In 18 Kapiteln analysiert Sofsky die verschiedenen Laster von der Feigheit bis zur Habgier, vom Starrsinn bis zum Hochmut. Am Anfang steht die phänomenologische Beschreibung des jeweiligen Typus: mikrosoziologische Nahaufnahmen, die vor allem durch ihre Konzentration auf die leiblichen und emotionalen Aspekte faszinieren. Interessanterweise verzichtet Sofsky nahezu gänzlich auf die Nennung naheliegender Namen oder Beispiele aus Geschichte, Film oder Literatur (wer denkt bei obigem Zitat nicht an Gontscharows Romanfigur Oblomov?). Ebenso bleibt die historische Perspektive ausgeblendet. Von wenigen Hinweisen abgesehen wie dem, dass der Hochmut in christlichen Zeiten als Todsünde gegen Gott galt, interessiert sich Sofsky für die Geschichte seiner Laster nicht.

Was zunächst wie ein Mangel erscheint, erweist sich bald als spezifische Stärke dieser gewohnt gestochenen, apodiktischen, von keinerlei Unsicherheiten angekränkelten Protokollprosa. Tatsächlich sind die Beispiele doch da: als mal mehr, mal weniger versteckte Fingerzeige wie die brennenden Akten des von einer Masse gestürmten Gebäudes im Kapitel „Zorn“, die natürlich auf den Brand des Wiener Justizpalastes 1927 und damit zugleich auf das Buch „Masse und Macht“ von Sofskys Lehrmeister Elias Canetti verweisen. Sofsky spielt mit dem Wissen des Lesers, erinnert durch die Abstraktion von allen Namen und konkreten historischen Bezügen jedoch zugleich an die Überzeitlichkeit der Laster.

Die Geschichte interessiert den Autor nicht, wohl aber die Gegenwart. Wo immer der Autor zeigt, wie die heutige Gesellschaft bestimmte Laster fördert, folgt man ihm gern: Eine Fahrt in der U-Bahn wäre ohne ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit gar nicht erträglich. Wenn einer Gesellschaft die Arbeit ausgeht, wird systematisch Trägheit produziert. Und der Zwang der Politik, Mehrheiten zu finden, fördert die Feigheit, wo mutige Entscheidungen nötig wären, und die Anpassung an die breite Masse, also das Laster der Vulgarität.

Zum Ärgernis werden Sofsyks Ausführungen jedoch dort, wo sich hinter ihnen selbst vulgäres Gedankengut verbirgt. Schon in seinem letzten Buch „Verteidigung des Privaten“ drängte sich einem der Eindruck auf, Sofsky habe einen Streit mit der für einen unerschrockenen Gewaltforscher vielleicht allzu banalen deutschen Wohlfühlgesellschaft auszufechten, der dem Leser herzlich egal sein könnte, würde er nur privat bleiben. Nun sollen in der repräsentativen Demokratie, die bei Sofsky „repräsentative Oligarchie“ beziehungsweise „oligarchische Eliteherrschaft“ heißt, die Streitforen rar geworden sein, soll „noch niemals die Macht vom Volke ausgegangen“ sein, fördere die „moderne Verbands- und Eliteherrschaft“ eine „Friedhofsruhe“, bis eines Tages „die Statue der Repräsentation vom Sockel gestürzt wird“.

Ein verzweifelter Aufruf zur Göttinger Revolution? Hinter Sofsyks politischen Einlassungen verbirgt sich stets die Unterscheidung zwischen dem Individuum und einer „Machtelite“, den „staatlichen Amtsträgern, Funktionären und Exekutoren“, denen gegenüber das Ohnmachtsgefühl des Privatgelehrten groß sein muss. So groß, dass Sofsky im Kapitel „Habgier“ sogar die astronomischen Bankerboni entschuldigt, für die nicht etwa „persönliche Niedertracht“, sondern „die Eigendynamik systemischer Zwänge“ verantwortlich sei (so viel zu Freiheit und Verantwortung des Einzelnen) – für Sofsky ein Nichts gegenüber der „Raffgier der größten Institution, welche die Geschichte hervorgebracht hat: den modernen Steuerstaat“.

Titelbild

Wolfgang Sofsky: Das Buch der Laster.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406591358

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