Melancholie

Volker Risch liest Siri Hustvedts Roman „Die Leiden eines Amerikaners“

Von Sandra RührRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Rühr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sehen die Leiden eines Amerikaners aus und wer ist damit konkret gemeint? Die Antwort hierauf lässt sich dann geben, wenn man die Geschichte, die im gleichnamigen Roman Siri Hustvedts erzählt wird, kennt. Doch betrachtet man das Hörbuchcover, das der Buchvorlage des Rowohlt Verlags entlehnt ist, glaubt man die Antwort bereits vorab zu kennen: Rolltreppen, die hinauf und hinab führen, als Symbol für gemeinsame Einsamkeit. Hier sind Menschen versammelt, die sich nicht in die Augen blicken, die einander fremd sind und bleiben. Insgesamt sechs Personen bildet das Hörbuchcover ab, doch der Betrachter fokussiert das nachdenklich, vielleicht auch melancholisch blickende Gesicht einer jungen Frau. Die Leiden eines Amerikaners verwandeln sich damit in die personifizierte Einsamkeit. Auch das Cover der amerikanischen Originalausgabe geht in eine ähnliche Richtung, allerdings ist hier die Isolation durch die Weite der Natur, die lediglich von einem einzelnen Gebäude unterbrochen wird, versinnbildlicht.

Die somit bereits im Cover angelegte Grundstimmung intensiviert sich noch beim ersten Klang der Stimme Volker Rischs. Sanft und beinahe zerbrechlich wirkend stimmt er an: „Wir haben alle Geister in uns.“ Während über den Sprecher nur wenig mehr bekannt ist als dass er sowohl im Theater als auch in Film und Fernsehen mitwirkte, weiß man über die Autorin der Buchvorlage, Siri Hustvedt, wesentlich mehr. Man sollte Hustvedt allerdings nicht darauf reduzieren, die Frau von Paul Auster zu sein. Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie hat norwegische Wurzeln, was auch in den aktuellen Roman mit einfließt. Sie hat einen Bachelor in Geschichte, den Master in Anglistik und promovierte über Charles Dickens.

Ihre Romane zeichnen sich durch detaillierte, miteinander auf vielfältige Weise verwobene Geschichten aus, die um Familien kreisen, jedoch zugleich in das aktuelle Geschehen eingebettet sind. „Die Leiden eines Amerikaners“ kann als Trauerarbeit Hustvedts interpretiert werden, denn ebenso wie die Hauptfigur ihres Romans hatte sie drei Jahre zuvor ihren Vater verloren. Der Roman lässt sich außerdem als Vorarbeit sehen zu ihrem aktuellen Sachbuch „Die zitternde Frau“, das im Januar 2010 ebenfalls beim Rowohlt Verlag erschienen ist. Geht es dort um die Erkenntnissuche der Autorin sowie eine Zusammenstellung neuropsychiatrischer Fragen, ist die Zielsetzung von „Die Leiden eines Amerikaners“ eine andere.

Hier wird das Seelenleben eines Amerikaners thematisiert. Im Fokus steht der amerikanische Intellektuelle mit seinen Problemen. Erik Davidsen, die Hauptfigur, repräsentiert dieses Milieu. Er berichtet von einem besonderem Jahr in seinem Leben, einem Jahr, in dem vor allem drei Ereignisse mit rätselhaftem Charakter herausragten. Da ist zum einen der Briefnachlass des Vaters, der nach dessen Tod auftaucht und ein Geheimnis in dessen Leben offenbart. Zum anderen wird seine Schwester Inga von einer Unbekannten verfolgt, die wiederum etwas aus dem Leben von Ingas verstorbenem Mann zu wissen scheint. Und zum dritten hütet auch seine jamaikanische Untermieterin ein Geheimnis, das ihn selbst in Gefahr bringt.

„Ich bin so einsam“ hört man den Ich-Erzähler Erik gleich auf der ersten CD sagen. Dieser Satz ist symptomatisch, denn Erik sagt ihn stellvertretend für alle Figuren des Romans. Diese verbergen ihre Einsamkeit hinter einer Fassade. So beispielsweise Eriks Vater, der sein gesamtes Leben kategorisiert und in den Schubladen seines Arbeitszimmers aufbewahrt. Jede Kleinigkeit repräsentiert seine Persönlichkeit, ohne jedoch alles preiszugeben. So hat er bis zum Schluss selbst seinen Tagebüchern nicht alles anvertraut, sodass Erik und Inga sein Geheimnis aufdecken müssen. Auch Ingas verstorbener Mann gestand einmal, dass er nicht lebt, um zu schreiben, sondern dass es sich genau umgekehrt verhält.

In der Lesung von Volker Risch werden die Leiden eines Amerikaners auf eine Person projiziert: Eriks Leiden steht im Zentrum, dies äußert sich darin, dass er sich nicht zugehörig fühlt, er beschreibt sich selbst als der „aus der Art Geschlagene“. Dieser einzelne im Fokus Stehende benötigt kein Stimmen-Szenario. Vielmehr behält Rischs Stimme die melancholische Grundstimmung bei und variiert nur selten. Allerdings wird nicht nach festen Regeln inszeniert: Während ein Kindergesang der kleinen Eggi tatsächlich andeutungsweise gesungen wird, ist die verzweifelte, überschnappende Stimme von Eriks Schwester nicht auf die Sprechweise übertragen worden. Es handelt sich somit nicht um ein Theaterstück für die Ohren, dies hätte bei der behandelten Thematik unglaubhaft klingen können. Es geht vielmehr um das Aufspüren eines Ichs in all seinen Facetten. Hierfür wird dem Sprecher Risch lediglich eine Mittlerfunktion zwischen Vorlage und Hörer abverlangt, die er bravourös meistert.

Wesentliche Motive bei „Die Leiden eines Amerikaners“ sind Fotografie und Psychoanalyse. Gemeinsam ist beiden, dass sie bewusst ausgewählte Einzelaspekte in Momentaufnahmen festhalten. Fotografien lassen sich dabei verändern, im schlimmsten Fall verfälschen. Die Psychoanalyse hingegen nähert sich, um in tiefer verborgene persönliche Geschichten vorzudringen. Im Roman bekommt das Medium der Fotografie etwas Bedrohliches, die Psychoanalyse ist in Erik, dem Psychoanalytiker personifiziert. Beide Elemente spiegeln wider, worum es Hustvedt in ihren Werken geht: Die Außensicht genügt ihr nicht, diese kann oft Rätsel aufgeben und muss hinterfragt werden. So möchte sie in ihrem neuesten Buch verstehen, warum sie seit dem Tod ihres Vaters bei öffentlichen Auftritten plötzlich von heftigen Zitteranfällen geplagt wird. Ein solches Hinterfragen kann gelingen, indem ins Innerste geblickt wird, wie es mit Hilfe der Psychoanalyse geschieht. Dass auch dies nur einen Teilbereich zu offenbaren vermag, zeigt Hustvedt wiederum in ihrem neuesten Buch, indem sie verschiedenste psychologische Ansätze einander gegenüberstellt. Die Vorstufe ist bereits in „Die Leiden eines Amerikaners“ angelegt. Dort kann Erik in das Seelenleid anderer blicken, doch ist er nicht in der Lage, seine eigene Krise zu bewältigen. Vor allem dann, wenn er sich mit sich selbst intensiver auseinandersetzt, muss er „Ringkämpfe mit sich selbst“ ausfechten.

Volker Rischs Stimme drückt das Lebensgefühl einer Zeit aus. Und doch gibt Hustvedt Hoffnung: „Reinkarnation. Nicht nach dem Tod, sondern hier, wenn wir leben.“ Es geht also darum zu verstehen, dass jegliches Leiden, egal welcher Form, ein Ende haben kann, wenn man das Leben in all seinen Facetten zulässt. Dies ist ein hoffnungsvolles Motto für einen sehr ernsthaften Roman.

Bei der Hörbuchversion handelt es sich um eine autorisierte Lesefassung, ein Hinweis darauf, dass gekürzt wurde. Hierdurch wurden Erzählstränge verdichtet, doch zugleich führt dies dazu, dass einige der Figuren sehr plötzlich auftauchen, ohne vorher eingeführt worden zu sein. Dies ist beispielsweise der Fall bei der jamaikanischen Untermieterin Miranda und ihrer Tochter Eggi. Unklar bleibt auch das abrupte Auftauchen einer Journalistin, die im Leben von Ingas verstorbenem Mann herumstochert, nachdem dieser schon einige Jahre tot ist. Teilweise vernimmt der Hörer ein dezentes Blätterrascheln als Hinweis darauf, dass der Sprecher das Manuskript vor sich liegen hat und in einem Studio einliest. Schöner wäre es gewesen, der zarten Stimme Rischs ohne diese Ablenkung zu folgen.

Titelbild

Siri Hustvedt: Die Leiden eines Amerikaners. 6 CD.
Gelesen von Volker Risch.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anna Hartwich.
Argon Verlag, Berlin 2008.
438 min, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783866104914

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