Hilfreiches Kompendium

Das von Ingo Breuer herausgegebene Kleist-Handbuch stellt Leben, Werk und Wirkung des Dichters dar

Von Barbara StieweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Stiewe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Thomas Mann 1954 seinen Schriftstellerkollegen Heinrich von Kleist, den Sprössling einer alten preußischen Adelsfamilie, als einen „der größten, kühnsten, höchstgreifenden Dichter deutscher Sprache, ein[en] Dramatiker sondergleichen, – überhaupt sondergleichen, auch als Prosaist, als Erzähler, – völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend“, würdigte, war dieser bereits in den Dichter-Olymp aufgestiegen.

Kleist selbst, der sich verzweifelt, (scheinbar) gescheitert – denn standesgemäße Karrieren zuerst im Militär, dann in den Wissenschaften und zuletzt in der Literatur waren ihm nicht gelungen – und in ständigen Geldsorgen mit gerade 34 Jahren 1811 am Kleinen Wannsee in Berlin das Leben nahm, konnte von späterem Ruhm und Wertschätzung seiner Person und seines Werkes noch nichts ahnen. Ein beachtlicher Teil seines umfangreichen Œuvres war zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen beziehungsweise auf die Bühne zu bringen, richtete es sich doch gegen vorherrschende Wertsetzungen, Denkströmungen und ästhetische Kategorien. Erschwerend hinzu kamen Dissonanzen mit Johann Wolfgang von Goethe, dem verehrten ‚Dichterfürsten‘ in Weimar, die wohl auch dafür sorgten, dass Kleist auf dem literarischen Markt nicht Fuß fassen konnte.

Gerade das „Unzeitgemäße“ des Autors und seiner Texte, ihre Unkonventionalität, Exzentrik und Radikalität in Sprache und Bildlichkeit, nicht zuletzt ihr Anti-Klassizismus begründeten im Fahrwasser Friedrich Nietzsches seit etwa 1911 eine nachhaltige Rezeption. Noch heute gehört Kleist zu den meistdiskutierten Autoren und ist nicht aus dem Lehrkanon von Schule und Universität wegzudenken. Seine vielschichtigen und bisweilen rätselhaften Texte sind bis heute von erstaunlicher Aktualität und laden zu (auch methodisch) vielfältigen Interpretationen ein, was allerdings auch zu einer kaum noch überschaubaren Kleist-Forschung geführt hat.

Schon deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass sich im Vorgriff auf den 200. Todestag im kommenden Jahr der Metzler-Verlag entschieden hat, das – man könnte fast sagen – längst überfällige Handbuch zu diesem ‚Klassiker‘ (der aus literaturgeschichtlicher Perspektive natürlich kein Klassiker war) zu publizieren und Ingo Breuer als Herausgeber gewinnen konnte, einen profilierten Kenner der Kleist-Forschung. So ist ein bestens aufbereitetes Nachschlagewerk von beeindruckender Informationsdichte entstanden, das schlaglichtartig wesentliche Aspekte von Kleists Leben, Werk und Wirkung beleuchtet und sich insbesondere an Studenten, Lehrer und Dozenten zur ersten Orientierung richtet. Dabei wird der Leser behutsam vom Allgemeinen zum Besonderen geleitet und allmählich auf Spezialinformationen vorbereitet.

Das umsichtig konzipierte Buch gliedert sich in acht Großkapitel, an denen ausgewiesene Wissenschaftler mitgearbeitet haben. Einem sehr knapp gehaltenen Abriss über Leben und Werk folgen im umfangreichen zweiten Kapitel, dem eigentlichen Schwerpunkt des Bandes, konzise Überblicksartikel zu den wichtigsten Werken beziehungsweise Textkorpora (Angesichts der regen Produktionstätigkeit Kleists versteht es sich von selbst, dass nicht alle seiner Texte mit einem eigenständigen Eintrag bedacht werden konnten). Unter der etwas missverständlichen Überschrift „Konfigurationen: Epochen und Autoren“ versammelt das Handbuch in (literar-)historischer Reihung Einträge zu Denkern, historischen Epochen und mentalitätsgeschichtlichen Strömungen, deren Einfluss auf das Kleistsche Œuvre nachzuweisen ist. In den beiden folgenden Kapiteln stehen systematische Aspekte des Werkes im Vordergrund. Zunächst die „Kontexte“, also die „Quellen, Diskurse, kulturelle[n] Codes“, die sein Entstehen begünstigten, im Anschluss daran die „Konzeptionen“, also wiederkehrende „Denkfiguren, Begriffe und Motive“. Dem gegenüber liegt in den vorletzten Kapiteln der Fokus auf der literaturwissenschaftlichen Forschung – zuerst werden methodologische beziehungsweise literaturtheoretische Ansätze vorgestellt, mit denen die gegenwärtige Literaturwissenschaft Kleists Texten neue Aspekte zu entlocken sucht, dann wird die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte seit dem Todesjahr 1811 im deutschsprachigen Raum (einschließlich der Medien Bühne, Film, Hörspiel und der Schule) sowie in anderen Nationalliteraturen behandelt. Der Band schließt mit einem nützlichen Anhang, der neben einer Auswahlbibliografie und einer Liste ausgewählter Kleist-Forschungsstätten ein Autorenverzeichnis und Personenregister enthält.

Breuers Kompendium wird in allen Belangen der Etikettierung als „Handbuch“ gerecht und stellt sich als hilfreiches Nachschlagewerk zu (vergleichsweise) kleinem Preis dar, das auch Studierenden in den neuen modularisierten Studiengängen zu empfehlen ist. Dem Leser wird kompakt und verständlich Grundlagenwissen zu Kleists Leben, Werk und Wirkung auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstands vermittelt; die einzelnen Einträge weisen durchgehend ein beachtliches Niveau auf. Zudem werden alle Aufgabenbereiche der Literaturwissenschaft einbezogen – von der Literaturgeschichtsschreibung über die Editionswissenschaft, Interpretation, Theorienbildung bis hin zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte einschließlich der Literaturkritik – und auch aktuelle Diskurse innerhalb der Germanistik wie etwa Adeligkeit und Literatur oder Emotionalisierung aufgegriffen.

Trotz des äußerst positiven Gesamteindrucks gibt es Optimierungsmöglichkeiten hinsichtlich der Benutzbarkeit. So irritiert es, dass die Artikel zu Kleists Werken nicht einheitlich strukturiert sind; zu erwarten wären neben Angaben zum Inhalt und zu gängigen Interpretationen, die sich in allen Einträgen dieses Kapitels finden, zumindest kurze Anmerkungen zur Entstehung, Überlieferung und Rezeption des jeweiligen Textes beziehungsweise Textkorpus (mit Hinweisen, an welcher Stelle diese Aspekte vertieft werden, um lästige Wiederholungen zu vermeiden). Dies wäre umso hilfreicher, da der Band kein Werkregister besitzt und viele Texte in den systematischen Kapiteln exemplarisch herangezogen werden – gänzlich unverzichtbar ist es bei der Informationssuche zu Titeln, die nicht eigens berücksichtigt werden wie „Katechismus der Deutschen“ oder „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“. Ein Sachregister wird ebenfalls vermisst. Störend sind Fehler wie „Kürfürsten“, „immer wider“, „Medient-heorie“, „Französische Revolution 1989“ und so weiter. Dazu kommen fehlende Apostrophe und unterschiedliche Zitationen der Werktitel in verschiedenen Artikeln. Diese Flüchtigkeiten sollen aber den äußerst positiven Gesamteindruck des Bandes, der alle Anforderungen eines Standardwerks erfüllt, nicht schmälern.

Titelbild

Ingo Breuer (Hg.): Kleist Handbuch. Leben - Werk - Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2008.
495 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476020970

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