Freiheit und Ökonomie

Roberto Simanowski unterzieht die digitalen Medien einem Kulturtest und gelangt dabei zu einer differenzierten Einschätzung

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Landläufig gilt das Anything Goes als Zentralmotto der Postmoderne. Unter dem Primat des Internets wird es ergänzt durch ein kräftiges Quest for Excitement: der Suche nach Spaß und Öffentlichkeit. Die Erlebnisgesellschaft fordert Tribut. Damit einher geht ein grundlegender Zwiespalt, den längst auch die Pioniere der digitalen Medien empfinden. Geert Lovink, dem man zuletzt eine Abneigung ihnen gegenüber nachsagen kann, ortet in seinem Buch „Zero Comments“ (2007) einen „digitalen Nihilismus“ als Quintessenz des Blog-(Un-)Wesens. Indem in Blogs der Glaube an Wahrheit und universelle Werte verloren gegangen sei, agierten sie als „dekadente Artefakte, die den Schritt von der Wahrheit ins Nichts wagen“. Das Zitat findet sich in Roberto Simanowskis Buch „Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft“.

Der Germanist, Historiker und Medienwissenschaftler Simanowski forscht darin den digitalen Äußerungsformen nach, die von der Erlebnisgesellschaft zu deren Sättigung inszeniert werden. In den späten 1990er-Jahren weckte das Internet konservative Ängste und progressive Hoffnungen. Erstere erklärten sich aus der grundlegenden Abneigung gegen mediale Neuerungen und kulturindustrielle Produkte (Neil Postman). Letztere bezogen sich auf postmoderne Diskurse, welche die Subversion des geltenden Geschmacks oder die Entgrenzung des Wissens anstrebten (Pierre Lévy). Brechts „Rede über die Funktion des Rundfunks“ (1932) schwebte im Diskursraum. Dabei sollten Oberflächen- und Tiefenästhetik, also Form und Sinn, gleichermaßen zu ihrem Recht kommen, im Idealfall ineinander aufgehen. Simanowski fragt nun nach, wie aktiv die digitale Interaktivität tatsächlich ist, und wie persönlich; wie sehr die neuen Medien auch neue „ästhetische Erfahrungen“ schaffen; wie weltbürgerlich und basisdemokratisch sich die offene Partizipation ausnimmt; oder wie stark die digitalen Medien von ganz anderen Interessen vereinnahmt werden (Stichwort Datenscreening und Werbemüll).

Der Autor, wie Lovink kein Internet-Verächter, verpflichtet sich eingangs zu einer sachlich abwägenden Position, dessen primäres Anliegen die „Praxis einer Hermeneutik der digitalen Medien“ ist. Es dauert freilich nicht lange, da scheint seine Skepsis überhand zu nehmen. „Die List der Kulturindustrie […] liegt ästhetisch in der Aufmerksamkeitsverschiebung (weg vom Verstehen des Werks hin zu seiner Funktionsweise) und politisch im Bündnis mit der direkten Demokratie (Jedermannkünstler) bei gleichzeitiger Entpolitisierung des öffentlichen Raums (durch Verstopfung mit Privatem).“

Ob die legendäre Jennifer Ringley (jennicam.org) sich aus purer Lust exhibitionierte, oder dem unfreiwilligen Exhibitionismus ab 1996 mit Absicht entgegentrat, bleibt hier offen. Der Selbstdarstellungskult weckte auf jeden Fall früh ökonomische Interessen, die mit den konfektionierten Plattformen à la Myspace und Facebook jetzt erst richtig in Erfüllung zu gehen scheinen. Was hier passiert, subsummiert Simanowski unter „Datenpornographie“. Die User geben sich im Internet höchst freizügig, ganz ohne Zwang. Im Gegenteil: Die ursprüngliche, idealisierte Geschenkökonomie verwandelt sich zusehends in eine „moderne Variante der Sklaverei“, indem freiwillige Zuträger umsonst den Benefit der Plattformbesitzer vermehren. Derart wird die idealisierte „Kultur der Mitgestaltung“ förmlich pervertiert.

Auch politisch sind Fragezeichen angebracht, wie das Lovink-Zitat signalisiert. Für fundamentale Schwarzseher wie Andrew Keen bietet das sogenannte Web 2.0 reichlich Material, das belegt, wie Blogs in Banalitäten versinken und einen „Kult der Amateure“ pflegen. Solche Kritik ist berechtigt, und greift dennoch zu kurz, wie Simanowski anmerkt. Zum Gegenbeweis lassen sich einerseits zahlreiche Experten-Blogs anführen, in denen Kenner der Materie ohne publizistische Fesseln berichten können; andererseits entstehen immer wieder neue, originelle Formen, in denen Echtheit und Inszenierung manchmal subversiv durcheinanderkullern. Derlei kommt 1. dem User-Spass entgegen, und stärkt 2. den Kunst- und Performancecharakter. Zu letzterem zieht es Simanowski vor allem.

Mit den digitalen Medien obsiegen die Bilder, mit dem Effekt einer „Angst, dass das Interesse am Text verloren geht“. Nach dem mittlerweile verblassten Hypertext-Hype Ende der 1990er-Jahre hat sich diese Angst insofern bewahrheitet, als in der Medienkunst der Text zur Randerscheinung wurde: als Ausgangsmaterial für bildhafte Inszenierungen etwa. Sprache wird in Bilder transferiert. Dennoch behält der Text als kontextualisierende Information ihren Wert, beispielsweise wenn es um die „Ästhetik der Täuschung“ geht. Gruppen wie „The Yes Men“ oder etoy.com haben das System der „Ultrazweckentfremdung“ (Guy Debord) zur Kunst erhoben. Ihre Aktionen sind repräsentativ für „Cultural Jamming“ oder „Digital Hijacking“. Mit einer gefakten Webseite (www.gatt.org) verleiteten The Yes Men 2000 einen Konferenzveranstalter dazu, angeblich einen hochrangingen Vertreter der Welthandelsorganisation GATT einzuladen. Das intendierte Missverständnis nutzten die Yes Men für eine reale Performance, die im Tohuwabohu von Lüge und Wahrheit endete. Die Realität wurde umgedreht und in eine Kunst-Performance „entführt“. Für Simanowski besonders reizvoll daran ist die Tatasache, dass diese Aktion „nicht im kunstinternen Diskurs verbleibt, sondern den spektakulären Auftritt politisch funktionalisiert“. Im besten Fall evoziert sie so reale Folgen, beispielsweise einen Kurszerfall an der Börse, wozu andere Aktionen der Yes Men oder von etoy.com führten.

Simanowski gibt in seinem Buch einen Überblick über die künstlerischen Möglichkeiten, welche die digitalen Medien eröffnen. Er strebt dabei nicht die Vollständigkeit an, vielmehr will er beispielhaft den Blick auch für andere mediale Inszenierungen schärfen. Breiten Raum nehmen dabei drei Themen ein, die sich als Spielfläche für künstlerische Interventionen und Aktionen geradezu anbieten: Überwachung, Sex / Gender und globale Gesellschaft. Sie alle stehen für Trennungen, die sich digital auflösen lassen. Insbesondere die Surveillance Society weckte seit jeher die künstlerische Kreativität, sei es um digitale Barrikaden zu überwinden, sei es um Überwachungstechniken für künstlerische Zwecke zu nutzen. Anders als bei George Orwell, bemerkt Simanowski, wirkt die Überwachung „bidirektional“: Big Brother überwacht die Handys, aber er muss sich von unzähligen Handys auch überwachen lassen.

Der Text unterliegt dem Visuellen. Das gilt nachgerade auch im Bereich der sexuellen Inszenierung im Netz. Cybersex erregt die Fantasien, und Avatare ermöglichen rollenspielerisch neue Selbstrepräsentationen. Damit werden literarische Träume digital erneuert – allerdings weit weniger wirkmächtig als etwa in Nicholson Bakers Romanen „Vox“ und „Fermate“, wie Simanowski betont. Dies liegt wohl auch darin, dass sexuelle Inszenierungen oft bloß Vorurteile zementieren.

Analog zu den Text-Bildtransfers erzeugt der Exhibitionismus im Internet auch Bild-Bild-Transfers. Simanowski verweist in dem Zusammenhang auf die großformatige Fotoserie „Nudes“ von Thomas Ruff. Dieser verfremdet Nacktbilder aus dem Internet künstlerisch durch Unschärfen, Vergrößerung etc., um sie so auf neue Weise sichtbar zu machen. „Man könnte [diese Fotos] als einen kritischen Kommentar zum visuellen Ausverkauf des Sexuellen in der Erlebnisgesellschaft lesen“.

Mit dem Internet geht eine Utopie in Erfüllung, zumindest dem Wortsinn nach: Nicht-Ort. Ob es auch die Hoffnungen von Pierre Lévys „Kosmopädie“ einlöst, bleibt fraglich. Nicht zu vergessen ist: „Was sich da als Technologie der Transnationalität vorstellte [Ende der 1990er-Jahre], lässt andere von ‚Cybercolonisation‘ sprechen“. Simanowski versteift sich nicht auf ein Deutungsparadigma, sondern wägt sorgsam ab. Gegenüber den theoretischen Utopien, die sich mit dem Internet verbinden, bleibt er eher reserviert, dafür lässt er sich von Kunstinszenierungen überzeugen, in denen sich „Ästhetik der Präsenz“ und künstlerische Erkenntnis miteinander verbinden. Simanowski besteht zum Schluss explizit „auf den Einschluss des Denkens ins Lustprinzip der Erlebnisgesellschaft“ – aus der wir uns, bei aller Skepsis, weder ganz verabschieden können noch wollen.

Titelbild

Roberto Simanowski: Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft. Kultur-Kunst-Utopien.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008.
304 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783499556968

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