Darf es einen „Handel mit der Gerechtigkeit“ geben?

Eine schleichende Kulturrevolution

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Der Gesetzgeber: Das klingt beeindruckend, furchteinflößend und mächtig. Die Legislative – also diejenigen, „die das Gesetz tragen“ – ist eine jener drei voneinander unabhängigen „Gewalten“, die den modernen Staat ausmachen, neben der Exekutive und der Judikative. So lernten wir es in der Schule: Die Legislative sei zuständig für die Gesetzgebung, also die Beratung und Verabschiedung von Gesetzen im inhaltlichen und formellen Sinn sowie für die Kontrolle der Exekutive und der Judikative. In repräsentativen Demokratien bilden die Parlamente die Legislative, in Staaten mit Elementen direkter Demokratie tritt im Einzelfall auch das Volk als Gesetzgeber auf.

Einfacher formuliert: Neben den Mitgliedern der Länderparlamente sind die derzeit 622 Mitglieder des 17. Deutschen Bundestags Der Gesetzgeber, zumindest der wichtigste, der unser aller Leben reguliert. Bei dieser großen Zahl von Individuen ist es nicht vorstellbar, dass sie alle das Gleiche wollen. Schon gar nicht, weil diese vielen Menschen in regelmäßigen Abständen durch unsere Stimmzettel ausgetauscht werden. Der Gesetzgeber erlässt zuweilen Gesetze, an deren politische Absichten der ausgetauschte Gesetzgeber nicht einmal erinnert werden will. Und zuweilen kritisiert der ausgetauschte Gesetzgeber eben das, was der Gesetzgeber kurze Zeit vorher beschlossen hat. Viele Beispiele könnte man aktuell nennen, so den sogenannten „Bologna-Prozess“, das sogenannte „Hartz-Konzept“ oder die vielfältigen gesetzgeberischen Maßnahmen der Gesundheitspolitik. Vieles davon ist im öffentlichen Bewusstsein präsent, manches geschieht im medialen Schatten und entzieht sich somit der breiten Diskussion. Erst wenn man persönlich betroffen ist, wird einem so manche gravierende Widersprüchlichkeit des Gesetzgebers bewusst.

Von einer solchen schleichenden Veränderung einer der Säulen unseres Gesellschaftssystems soll hier berichtet werden. Sie kommt einer Kulturrevolution nahe, ohne dass diese allgemein wahrgenommen worden ist. Es geht um nichts Geringeres als die prinzipielle Veränderung unseres Rechtssystems. Es geht zugleich um das Spannungsverhältnis individueller Rechte und staatlicher Interessen.

Zwei Gesetze werden noch schnell verabschiedet

Es waren die letzten Tage des 16. Deutschen Bundestages, der Herrschaft der „Großen Koalition“ von CDU/CSU und SPD. Die Föderalismusreformen waren verabschiedet, eine „Schuldenbremse“ war in die Verfassung eingebaut, die Konjunkturpakete waren geschnürt, eine (erneute) „Gesundheitsreform“ war verabschiedet worden, das geplante „Umweltgesetzbuch“ war gescheitert. Es war Sommer in Berlin, 19,6 Grad im Schatten, die Bundestagswahlen am 27. 09. 2009 standen bevor, als am 29. 07. 2009 zwei Gesetze gleichzeitig verabschiedet wurden, die beide der Verbesserung der Verbrechensbekämpfung dienen sollten: das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“, das erstaunlich schnell, nämlich bereits sechs Tage später, am 04. 08. 2009 in Kraft trat und das „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren“ (2. Opferrechtsreformgesetz), das erst am 01. 10. 2009 in Kraft trat – drei Wochen bevor sich der 17. Deutsche Bundestag am 27. 10. 2009 konstituierte. Bei näherer Betrachtung beider Gesetze bekommt man den Eindruck, als ob das eine Gesetz genau das wegnimmt, was das andere zu geben verspricht. Beide Gesetze tragen die Handschrift von Brigitte Zypries, jener SPD-Politikerin, die in den Kabinetten Schröder II und Merkel I Bundesministerin für Justiz gewesen war und derzeit als Justiziarin der SPD-Bundestagsfraktion wirkt.

Der „Deal“ im Strafprozess wird deutsches Gesetz

Durch den neu eingefügten § 257c der Strafprozessordnung (StPO) wurde die so genannte „Verständigung“ im deutschen Strafverfahren erstmals gesetzlich geregelt. Im Kern besagt dieses Gesetz, dass das Gericht sich „in geeigneten Fällen“ mit den Verfahrensbeteiligten über den weiteren Fortgang und das Ergebnis des Verfahrens „verständigen“ kann. Gegenstand solcher „Verständigung“ dürfen allerdings nur jene Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazugehörigen Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrundeliegenden Erkenntnisverfahren sowie das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Bestandteil jeder Verständigung soll ein Geständnis des Angeklagten sein. Der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung dürfen nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Die Verständigung kommt dann zustande, wenn Angeklagter und Staatsanwaltschaft dem Vorschlag des Gerichtes zustimmen.

Was damit gesetzlich beschlossen wurde, nennt sich umgangssprachlich Neudeutsch „deal“, ein Handel zwischen dem Gericht, dem Angeklagten und der Staatsanwaltschaft. Es handelt sich bei diesem „Handel“ um eine Rechtspraxis, die primär aus dem anglo-amerikanischen Rechtssystem stammt, wie jeder Kenner US-amerikanischer Gerichtsserien im Fernsehen weiß: Der Angeklagte gibt einige der Verbrechen zu, derer er beschuldigt wird, das Gericht lässt die übrigen Anklagepunkte fallen, er wird zu einer reduzierten Strafe verurteilt.

Al(fonso) Capone wurde 1931 bekanntlich nicht wegen seiner Beteiligung am illegalen Alkoholhandel und den damit zusammenhängenden Morden beziehungsweise der Anstiftung zu diesen verurteilt, sondern wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 200.000 Dollar, die er zugegeben hatte. Als der Richter jedoch erklärte, sich nicht an eine vereinbarte Strafmilderung zu halten, zog Capone sein Bekenntnis zurück. Von den 23 Anklagepunkten wurde Capone am 17. 10. 1931 in lediglich fünf Punkten für schuldig befunden, darunter allerdings drei schwere Vergehen, die je fünf Jahre Gefängnisstrafe nach sich zogen.

Was wir bislang nur aus amerikanischen Gangster-Geschichten kannten, ist nun deutsche Rechtswirklichkeit geworden. Der Münchner Strafrechtler Bernd Schünemann, dessen zentrales wissenschaftliches Thema die Kritik an dieser herrschenden Absprachen-Praxis ist, bezeichnet diese Entwicklung als „Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur“ und als „Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz“. Vielleicht muss man es nicht ganz so dramatisch formulieren, aber eine (Rechts-)Kulturrevolution wird man es schon nennen können. Gespräche zwischen Verfahrensbeteiligten, die auf die konsensuale Beendigung einer Hauptverhandlung zielen, finden auch in Deutschland seit mehreren Jahrzehnten in der strafprozessualen Praxis statt, beschäftigen seit über 25 Jahren das juristische Schrifttum und sind seit 1987 Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung.

Wissenschaftliche Untersuchungen zur Existenz von Absprachen in Strafverfahren gehen bis in die 1980er-Jahre zurück und konzentrieren sich überwiegend auf Wirtschaftsstrafsachen. Sie zeigen, dass Absprachen im Hauptverfahren meist außerhalb der öffentlichen Sitzungen stattfinden und – zumindest in Wirtschaftsstrafverfahren – weit verbreitet sind. Inzwischen sind jedoch keine Delikte oder Deliktstypen mehr ausgeschlossen, auch Verfahren zu Gewalt- beziehungsweise Sexualdelikten werden zunehmend häufiger mit Absprachen beendet. Verhandelt wird in der Regel über eine Beschränkung des Prozessstoffs und der Beweisaufnahme, ein (Teil-)Geständnis des Angeklagten und das Strafmaß.

Die nun gesetzlich ermöglichte „Verständigung“ kommt, wie gesagt, zustande, wenn Gericht, Angeklagter und Staatsanwaltschaft dieser zustimmen. Aber, so stellt sich die entscheidende Frage, wo bleiben bei diesen Absprachen die Interessen der Opfer von Verbrechen?

Bei der Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht im Verfahren gegen Ludwig-Holger Pfahls, jenen ehemaligen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und ehemaligen Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium, der wegen Vorteilsannahme und Steuerhinterziehung vor dem Augsburger Landgericht angeklagt war, waren wir Bürger das Opfer, vor allem aber das Prinzip der Gerechtigkeit. Am 12. 08. 2005 war Pfahls zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Wie der Vorsitzende Richter Hofmeister sagte, war dem früheren Staatssekretär im Rahmen eines „Deals“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung diese Strafe in Aussicht gestellt worden, falls er ein Geständnis ablegte. Die Strafe konnte, da sie zwei Jahre überstieg, zwar nicht von vorneherein zur Bewährung ausgesetzt werden, jedoch wurde Pfahls bereits kurz nach dem Urteil im September 2005 nach 13,5 Monaten Haft – der Hälfte seiner Gefängnisstrafe unter Anrechnung der Zeit in Auslieferungs- und Untersuchungshaft – auf Bewährung entlassen.

Wenn wir absehen von Wirtschaftsdelikten, bei denen solche „Deals“ immer häufiger praktiziert werden, und uns jenen Delikten zuwenden, bei denen es um weniger abstrakte Opfer, sondern um sehr konkrete Menschen geht, denen schlimmes Unheil angetan wurde, regt diese nunmehr gesetzlich legitimierte Praxis zum kritischen Nachdenken an.

Stellen Sie sich vor, Sie wären das Opfer jener Verbrechen geworden, die mit der Entführung des Hamburger Sozialforschers Jan Philipp Reemtsma im Frühjahr 1996 verbunden waren. Lesen Sie nach, was er in der literarischen Verarbeitung jenes Martyriums der 33tägigen Geiselhaft in seinem Buch „Im Keller“ (1997) geschildert hat. Man stelle sich vor, es hätte schon damals ganz legal jenes Instrumentarium gegeben, das es nun durch die Verfahrensänderung von Zypries Gesetz geworden ist. Die Verbrecher Thomas Drach und seine Mittäter hätten beispielsweise „gestanden“, illegal Waffen besessen und getragen zu haben und während der Fahrt mit dem Entführten die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn übertreten zu haben, und wären dadurch zu einer verminderten Strafe verurteilt worden. Natürlich ist das eine Überzeichnung der Sachlage, aber es soll den Kern treffen: Darf es einen „Deal“ zu Lasten des Opfers geben? Darf dieser damit begründet werden, dass es „prozessökonomisch“ so viel schneller geht, zu einem Urteil zu gelangen? Darf es zu einer „Verständigung“ zwischen Gericht, Angeklagtem und Staatsanwaltschaft kommen, weil es „zu schwierig“ oder gar „zu aufwendig“ – sprich: zu teuer – ist, die Beweise zu liefern?

Reemtsma, der damals als Nebenkläger im Angesicht seiner Peiniger Gerechtigkeit suchte und sich mit dem praktizierten Recht zufriedengab, hat 1999 einen viel zitierten Aufsatz geschrieben, der sein Anliegen – und das vieler anderer Verbrechensopfer– auf den Punkt bringt: „Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters.“

Die gestärkten Rechte der Verbrechensopfer

Damit zu jenem zweiten Gesetz, das exakt diese Forderung zu erfüllen scheint: das „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren“. Die dahinter stehende Diskussion über die Stellung des Opfers im Strafverfahren ist alt und soll hier nicht ausführlich rekonstruiert werden. Die vielfältigen Forderungen nach einer grundsätzlichen Stärkung der Opferrechte und die Forderungen der Opferschutzorganisation „Weißer Ring e.V.“, der sich 1967 gründete, wurden bereits 1986 vom Bundesjustizministerium unter der damaligen Leitung von Hans Engelhard (FDP) aufgenommen und teilweise im Opferschutzgesetz vom 18. 12. 1986 umgesetzt. Dies führte zu einer grundlegenden Reformierung der Stellung des Opfers im Strafverfahren, das von seiner allein passiven Rolle als „Beweismittel“ befreit und zum aktiven Verfahrensbeteiligten gemacht wurde. Wichtigste Errungenschaften waren die relativ umfassenden Informationsrechte (inklusive des Rechts auf Akteneinsicht), die Belehrungspflichten, das Recht auf anwaltlichen Beistand und die Abkopplung der Nebenklage von der Privatklagebefugnis. Das Opfer hatte beim Vorliegen einer „Katalogtat“ nach § 395 StGB – besonders schwere Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit, gegen die persönliche Freiheit – die Möglichkeit, sich als Nebenkläger aktiv am Prozess zu beteiligen.

Gerade im Bereich des Jugendstrafrechtes wurde das Opfer zunehmend als Subjekt mit Eigeninteressen wahrgenommen. Am 30. 08. 1990 wurde nach erfolgreichen Modellprojekten der sogenannte „Täter-Opfer-Ausgleich“ (TOA) im Bereich des Jugendstrafrechts gesetzlich verankert. Wenn beide Seiten – Täter und Opfer – zustimmen, können Maßnahmen zur außergerichtlichen Konfliktschlichtung umgesetzt werden, die dem Opfer eines Verbrechens das Gefühl der „Entschädigung“ für das erlittene Unrecht vermitteln. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. 10. 1994 fügte den TOA im neuen § 46a StGB als Strafmilderungsgrund in das allgemeine Strafrecht ein. Um eine Durchführung des TOA in jedem Stadium des Verfahrens zu ermöglichen, wurden mit dem Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des TOA am 20. 12. 1999 die Regelung im StGB prozessual durch die neuen §§ 155a und 155b StPO ergänzt.

Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ von 26.01.1998 sollten vor allem weibliche Opfer besser geschützt werden. Um Rückfalltaten zu verhindern, wurde unter anderem die Führungsaufsicht ausgeweitet und die Unterbringung in sozialtherapeutischen Anstalten häufiger vorgesehen. Die Sicherungsverwahrung wurde bereits nach der ersten Rückfalltat ermöglicht.

Zeitgleich wurde das 6. Strafrechtsreformgesetz verabschiedet, das die Strafrahmen bei Verletzung höchstpersönlicher Rechte drastisch erhöhte. Dadurch sollte das bislang bestehende Missverhältnis zwischen höheren Strafen bei Verletzung von finanziellen Interessen und milderen Strafen bei Verletzung der körperlichen Integrität ausgeglichen und der Werteordnung des Grundgesetzes angepasst werden.

Als nächster bedeutender Schritt hin zu einem besser funktionierenden Opferschutz kann das Zeugenschutzgesetz vom 30. 04. 1998 gesehen werden, das am 01. 12. 1998 in Kraft trat. Der Katalog des § 395 StPO wurde um mehrere Delikte erweitert und somit die Nebenklageberechtigung ausgedehnt. Durch die Neufassung des § 397a StPO konnten Verletzte ab sofort eine anwaltliche Vertretung auf Staatskosten beantragen. Neu eingeführt wurde zudem die Möglichkeit, die Vernehmung von Verletzten unter bestimmten Voraussetzungen per Videoaufnahme in den Sitzungssaal zu übertragen und den Opfern somit die Konfrontation mit dem Täter zu ersparen. Dies ist vor allem für Kinder und Opfer von Sexualdelikten von großer Bedeutung. Mit dem Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetz vom 11. 12. 2001 wurden die bisher länderspezifischen Regelungen zum Schutz gefährdeter Zeugen im Strafprozess vereinheitlicht, das Zeugenschutzprogramm auch auf Angehörige gefährdeter Zeugen ausgeweitet und besondere Maßnahmen wie etwa das Verschaffen einer Tarnidentität geregelt.

Zur weiteren Stärkung von Gewaltopfern wurde in Zusammenhang mit dem „Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen“ am 11. 12. 2001 das Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Das Gesetz bewirkt, dass zukünftig der Täter die gemeinsame Wohnung zu verlassen hat und nicht wie bisher das (in den meisten Fällen weibliche) Opfer. Der Schutzbereich wurde von der Ehe auf jede häusliche Gemeinschaft erweitert und das Opfer bereits vor der Androhung von Gewalt geschützt.

Zur Umsetzung der durch einen EU-Rahmenbeschluss vereinbarten Verbesserungen verabschiedete der Bundestag am 24. 06. 2004 das Opferrechtsreformgesetz, das am 01. 09. 2004 in Kraft trat. Verbesserungen erfolgten vor allem durch Reduktion der Vernehmungsanzahl, indem die Staatsanwaltschaft befugt wurde, direkt beim Landgericht Anklage zu erheben und so den Instanzenzug zu verkürzen.

Seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte der Opferschutz schließlich durch das angesprochene 2. Opferrechtsreformgesetz. Darin wurde der Katalog des § 395 StPO ein weiteres Mal erweitert, sodass die Nebenklage nun auch beispielsweise Opfern von Zwangsheirat offen steht. Auch die Möglichkeit der Bestellung eines kostenlosen Opferanwalts wurde ausgedehnt, beispielsweise auf Opfer von Körperverletzungsdelikten und schwerem Stalking, soweit sie von schweren Tatfolgen betroffen sind. Zudem wurden die Aufklärungspflichten des Gerichts über die Rechte der Verletzten verschärft.

„Absprachen“ gegen Opferinteressen?

Nehmen wir einen realen Fall, um auf die bereits angedeutete Spannung zwischen den beiden genannten Gesetzen aufmerksam zu machen: Eine Studentin hatte sich nach schmerzhaftem Ringen mit sich selbst dazu entschlossen, ihren ehemaligen Freund wegen Vergewaltigung anzuzeigen. Das Landgericht Münster verurteilte den jungen Mann wegen sexueller Nötigung im besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten. Der Bundesgerichtshof hob jedoch die Verurteilung auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts.

Der Angeklagte hatte mit seiner früheren Freundin gegen deren Willen den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss vollzogen. Das Landgericht sah hierin einen besonders schweren Fall der sexuellen Nötigung im Sinne des § 177 Abs. 2 StGB und hat die Strafe dem erhöhten Strafrahmen der Vorschrift (2 Jahre bis 15 Jahre) entnommen. Für eine Anwendung des Abs. 1 oder „erst recht“ für die Annahme eines minderschweren Falles nach Abs. 5 sah das Gericht keinen Raum. Dem ist der BGH nicht gefolgt. Vielmehr sei erheblich strafmildernd zu werten, dass der Angeklagte vor der Tat eine langjährige, intime Beziehung mit dem Tatopfer hatte, es auch nach der Trennung wiederholt zu einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen war, das Tatopfer dem Angeklagten kurz vor Mitternacht nur mit einem schwarzen String-Tanga bekleidet die Wohnungstür geöffnet und diesen hereingelassen hatte, das Maß der Gewaltanwendung „im unteren Bereich“ lag. Die Strafrahmenwahl des Landgerichts und die konkrete Strafzumessung seien unter Berücksichtigung aller Umstände nicht nachvollziehbar, zumal den aufgezeigten Strafmilderungsgründen keine auch nur entfernt gleichgewichtigen Strafschärfungsgründe gegenüberstünden. Es sei nicht plausibel dargelegt worden, warum keine noch bewährungsfähige Strafe in Betracht komme. (siehe das Urteil des BGH)

Ist es völlig auszuschließen, dass die gestärkten Rechte der Nebenklägerin nach dem „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Strafverfahren“ (2. Opferrechtsreformgesetz) durch das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ wieder zurückgenommen werden? Erfahrungsgemäß ist es außerordentlich schwierig, Fälle von Vergewaltigung oder der sexuellen Nötigung nach Beendigung einer längeren Partnerschaft sachgerecht zu beurteilen. Das gilt erst recht, wenn die Beendigung der Beziehung etappenweise verläuft und es wiederholt zu einvernehmlichen „Rückfällen“ in sexuelle Geschehnisse kommt. Könnte es also passieren, dass die erneute Verhandlung vor dem Landgericht Münster mit Hinweis auf eben diese prozessualen Schwierigkeiten und unter Berufung auf die jetzt geltende Absprache-Regelung einen „Deal“ mit dem Angeklagten, seiner Verteidigung und dem Staatsanwalt abschließt, der die eigentlich gestärkten Rechte des Opfers missachtet, ungeachtet der ermöglichten Nebenklagerolle? Zwar kann die Nebenklägerin an einer eventuellen Absprache beteiligt werden, sie hat jedoch kein Recht auf eine solche Beteiligung. Im Rahmen der Hauptverhandlung muss allenfalls der wesentliche Inhalt einer stattgefundenen Absprache mitgeteilt werden.

Wir wissen derzeit zu wenig über das Verhältnis dieser beiden gleichzeitig verabschiedeten Gesetze in der Praxis. Um diese defizitäre Situation zu verbessern, führt die „Kriminologische Zentralstelle e.V.“ (KrimZ) als zentrale Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder für den Bereich der Strafrechtspflege im Auftrag des „Weißen Rings e.V.“ eine wissenschaftliche Untersuchung zum Spannungsverhältnis zwischen Urteilsabsprachen und Opferinteressen durch.

Das im Juli 2009 begonnene Forschungsprojekt geht der rechtspolitisch hochaktuellen Frage nach, „ob und in welcher Hinsicht Opferinteressen durch die Praxis der Verständigung im Strafverfahren tangiert werden.“ Diese Frage wird mit einer Befragung von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten bearbeitet, die Erfahrungen auf dem Gebiet der Nebenklage haben. In einem zweiten Schritt soll eine Befragung von Opfern durchgeführt werden, die an einem Strafverfahren teilgenommen haben, das mit einer rechtskräftigen Verurteilung abgeschlossen wurde.

Der Gesetzgeber sollte sich um diese Ergebnisse kümmern. Vielleicht korrigiert er dann seine Rechtspolitik erneut. Es ergibt einfach wenig Sinn, wenn der Staat auf der einen Seite seine Rechte in Sachen Anklage- und Bestrafungsmonopol mit seinen in ihren fundamentalen Rechten verletzten Bürgern teilt, indem er sie neben der Staatsanwaltschaft als Nebenkläger zulässt, um ihnen diese Rechte – nicht zuletzt „aus Kostengründen“ und „Prozessökonomie“ – wieder wegzunehmen. Oder war das die Absicht, an jenem 29. 07. 2009 im heißen Berlin?