Vom Orientalismus zum Ozeanismus

Gabriele Dürbeck untersucht die Stereotypen in der deutschen Südseepublizistik

Von Claus-Michael SchlesingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claus-Michael Schlesinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer Studie „Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815-1914“ untersucht Gabriele Dürbeck einen umfangreichen Korpus bisher wenig bearbeiteter Texte der deutschen Südseepublizistik. Die Auswahl des Korpus orientiert sich dabei nicht an literarischer Bedeutung der Texte oder Autoren, sondern ist einer sozialgeschichtlichen Perspektive geschuldet, die sich für populärwissenschaftliche und proto-ethnologische Textstrategien ebenso interessiert wie für publizistikgeschichtliche Entwicklungen. Neben Adelbert von Chamissos „Reise um die Welt“, mehreren Texten der Memoirenliteratur und Abenteuerromanen zählt dazu insbesondere die Zeitschrift „Globus“, an deren Veränderungen im Erscheinungsverlauf die Studie die Verschiebungen in der deutschen Südseepublizistik exemplarisch zeigen kann. Insbesondere interessieren Dürbeck die inner- und außertextuellen Authentifizierungsstrategien der Autoren und der einzigen Autorin (lediglich einer der Abenteuerromane ist von einer Autorin geschrieben), die Strategien und Techniken der Wissenschaftspopularisierung, wobei hier ebenso die Funktion der populären Texte für die Ausdifferenzierung einer erst im Entstehen begriffenen Anthropologie eine Rolle spielen, sowie der Gebrauch von Stereotypen des Fremden bezogen auf die indigenen Bewohner der Südseeinseln.

Methodisch bedient sich die Studie nach eigener Aussage eines „pragmatischen Eklektizismus“, der sich hauptsächlich aus Elementen der komparatistischen Imagologie, der Hermeneutik des Fremden sowie einem Diskursbegriff, der der discourse analysis angelsächsischer Provenienz näher ist als der Diskursanalyse Michel Foucaults, speist. Terminologisch verwirrend ist in diesem Zusammenhang der Bezug zur Interdiskursanalyse Jürgen Links im kurzen Methodenteil der Studie, von dem die Autorin den Begriff Interdiskurs ohne dessen begriffliche Voraussetzungen übernimmt. Neben den beiden Interdiskursen des Rousseauismus und Darwinismus werden sieben Diskurse identifiziert – Missionierung und Anti-Missionierung, der geografische, ethnografische, wirtschaftlich-koloniale, antikolonialistische sowie der touristische Diskurs – die als stabile Kopplungen von Redegegenständen und „Regularitäten der Rede“ die untersuchten Texte zu je unterschiedlichen Anteilen dominieren. Von Link übernommen wird auch der Begriff des Kollektivsymbols, der allerdings in den Materialstudien selbst nicht mehr auftaucht, was für die Studie kein Nachteil ist, aber falsche Erwartungshaltungen weckt.

Hintergrund der Einzelstudien ist eine im theoretischen Teil der Studie entwickelte Ozeanismus-These. Dürbeck skizziert ein „Diskursfeld Ozeanismus“, das sich aus den genannten Diskursen samt Interdiskursen zusammensetzt. Begrifflich und argumentativ orientiert sich die Studie dabei am von Edward W. Said geprägten Begriff des Orientalismus. Dabei referiert Dürbeck zwei Kritikpunkte am Konzept Saids, erstens die Generalisierung eines monolithischen Westens und zweitens die auf das Verhältnis von Frankreich und England zum arabischen nahen Osten beschränkte Perspektive, die unter anderem der Vorannahme einer geografisch bedingten räumlichen Kohärenz geschuldet ist. Damit sei bei Said, so Dürbeck, die „grenzüberschreitende geopolitische Realität Europas und des Ostens nicht erfasst“.

Die Übertragung des Orientalismus-Begriffs auf einen anderen Raum, die Südsee, legt nahe, die entsprechende Kritik auch an den Ozeanismus-Begriff Dürbecks anzulegen. Denn ähnlich wie Said geht Dürbeck von einem kohärenten Südseeraum aus, der primär geo- und ozeanografisch bestimmt ist. Diese implizite Vorannahme verhindert dabei die Frage nach der Entstehung dieser Kohärenz, die gerade kolonialgeschichtlich betrachtet nicht so evident ist, wie es der Blick auf eine physische Weltkarte suggeriert. Es müsste historisch gezeigt werden, wie ein kohärenter, unterscheidbarer Raum „Ozeanien“ oder „Südsee“ geografisch, ethnografisch, naturkundlich, wirtschaftlich, geopolitisch und nicht zuletzt literarisch überhaupt erst konstituiert wird und welche möglicherweise disparaten Elemente dadurch einen gemeinsamen Raum erhalten. An den wechselnden Rubrizierungen des „Globus“ lässt sich das Spiel dieser Einteilungen gut nachvollziehen. So deutet beispielsweise die Einführung einer Rubrik „Deutsche Schutzgebiete“ im Jahr 1885 darauf hin, dass geografische Unterschiede in einem kohärenten kolonialen Herrschaftsraum eingeebnet werden.

Die anschließende Feststellung Dürbecks, die Südsee fungiere als Gegenbild Europas, wiederholt ebenfalls die Argumentation Saids, ohne dabei auf die Unterschiede innerhalb Europas einzugehen. Und anders als der Orient, der im 19. Jahrhundert als andere Kultur mit eigener Geschichte wahrgenommen wird, ist die Südsee, so ließe sich vermuten, im 19. Jahrhundert für die Deutschen/Europäer ohne eigene Kulturgeschichte und wird, im Anschluss an Rousseau, als Natur verhandelt, mit wichtigen Implikationen für einen daran entwickelten Kulturbegriff.

Die Studie fokussiert bei der Textanalyse stark die definierten Diskurse, was dazu führt, dass andere analytische Aspekte, wie etwa Gender-Fragen, zum Teil weiter entwickelt werden könnten. Ein Beispiel: Wenn Chamisso in seinem Reisebericht von der Gastfreundschaft und Ursprünglichkeit der Hawaiianer (sic) schwärmt, die dem Fremden die eigene Frau zum sexuellen Geschenk machen, das nicht abgelehnt werden dürfe, dann steckt in dieser Konstellation nicht nur eine rousseauistische Idealisierung (so Dürbeck), sondern ebenso die Affirmation eines vermeintlich universalen Patriarchats. Gleiches gilt für die Beschreibung der samoanischen Frau als idealer Ehefrau für den deutschen Mann in einem Globus-Artikel, der Mischehen zwischen weißen Männern und samoanischen Frauen befürwortet. Dürbeck sieht hier als Funktion des Texts die „Werbung für die Attraktivität der samoanischen Frauen, die bei einem zukünftigen Besitz des Landes zur Verfügung stünden“.

In der zitierten Textstelle geht es dabei um die samoanische Frau im Kollektivsingular. Vor dem Hintergrund der topischen weiblichen Konnotation der Insel ließe sich eine solche Beschreibung der samoanischen Frau als pars pro toto der Insel lesen, wobei diese weitergehende Gender-Dimension des Texts durchaus an die kolonialen Fantasien des deutschen Reichs unter dem Gender-Aspekt zurückgebunden werden könnte. Die Vernachlässigung solcher Aspekte mag damit zusammenhängen, dass die Studie vorwiegend die Stereotypen des Anderen und Fremden in den Texten untersucht und die Inszenierungen des Selbstverständlichen – also des weißen wilhelminischen Manns – in den Hintergrund treten.

Insgesamt bietet die Studie aufgrund der Aufbereitung des umfangreichen Untersuchungsmaterials vielfältige Anschlussmöglichkeiten für weitere Forschung. Der textanalytisch und sozialgeschichtlich orientierte Ansatz, der neben den Texten auch personelle und organisatorische Verflechtungen von Zeitschriften, Autoren, Verlagen und Wissenschaft sowie unterschiedliche Erscheinungsformen des Exotismus in den Blick nimmt, führt trotz der genannten methodischen Irritationen und Probleme zu einem umfangreichen Bild der deutschen Südseepublizistik insbesondere während der Hochzeit der deutschen Kolonialbestrebungen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Titelbild

Gabriele Dürbeck: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutsche Südseeliteratur 1815-1914.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007.
388 Seiten, 84,95 EUR.
ISBN-13: 9783484351158

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