Nützliche Wissenschaft

Carl Heinrich Mercks Reisebericht aus Ostsibirien und Alaska

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des 18. Jahrhunderts waren Ostsibirien und Alaska noch kaum erschlossen, und das heißt auch: noch zwischen potentiellen Kolonialmächten umstritten. Russland, Großbritannien, im Falle Alaskas sogar Spanien waren an einem Gebiet interessiert, über das es nur vage Informationen gab. In dieser Lage gewannen wissenschaftliche Expeditionen politische Bedeutung.

Die Billings-Sarycev-Expedition, die zwischen 1785 und 1795 die riesigen Gebiete Sibiriens nördlich und östlich von Jakutsk, die Küste von Alaska und die vorgelagerte Inselgruppe der Aleuten bereiste, hatte denn auch einen mehrfachen Zweck. Es galt vor allem, mögliche Reisewege und die klimatischen Verhältnisse zu erforschen. Zwar wurde die Hoffnung enttäuscht, eine wenigstens im Sommer schiffbare Passage über sibirische Ströme und das Nordpolarmeer zu finden und so die Peripherie des russischen Reiches ein wenig näher an die Zentrale St. Petersburg anzuschließen. Doch wurden wertvolle Informationen über den Jahreslauf, über die Lage von Flüssen und Bergen und über Windverhältnisse gesammelt. Das Unternehmen trug durchaus dazu bei, dass sich Russland für einige Jahrzehnte bis nach Alaska erstrecken konnte – bis das kaum kontrollierte Gebiet 1867 für den heute lächerlich erscheinenden Preis von 7,2 Millionen Dollar an die USA ging.

Neben praktisch-geografischen Faktoren waren für die Auftraggeber der Expedition auch Erkenntnisse über die Pflanzen- und Tierwelt sowie über die Ureinwohner interessant. Schließlich hatten sich letztere recht energisch und nicht immer erfolglos gegen die russischen Invasoren gewehrt, denen – ortsunkundig und fern der heimatlichen Logistik – trotz waffentechnischer Überlegenheit das Siegen schwerfiel.

Wie wissenschaftliche Erkenntnis und Herrschaftsinteresse zueinander stehen, das wird aus vorliegendem Text nicht deutlich. Das ist kein Zufall: Carl Heinrich Merck, dessen Reiseaufzeichnungen nun erstmals im deutschen Original veröffentlicht sind, reiste weniger als selbstständiger Wissenschaftler denn als Vertreter des russischen Staates. Der Lohn war beträchtlich: Neben 800 Rubel jährlich und einer gesicherten Pension brachte die Expedition Merck den erblichen Adelsstand ein. Die Strapazen entsprachen dem freilich: 1799 starb er, nur 38 Jahre alt; und die Herausgeber seiner Aufzeichnungen mutmaßen, dass die Anstrengungen der zehnjährigen Reise unter extremen klimatischen Bedingungen seine Gesundheit zerrüttet hatten.

Sein Status und sein früher Tod brachte Merck auch um den verdienten Ruhm. Zwar wurde er 1797 zum korrespondierenden Mitglied der Societät der Wissenschaften zu Göttingen gewählt, doch blieben seine Aufzeichnungen und Sammlungen im Besitz des Staates, der ihn unterhielt, und kamen nur zum geringen Teil an die Öffentlichkeit.

Der Adressatenbezug prägt weite Teile von Mercks Notizen, die unter schwierigen Bedingungen angefertigt wurden und die nun ediert zu haben allein schon ein Verdienst der Herausgeber darstellt. Die Kommunikation mit den Ureinwohnern erscheint fast durchgehend als konfliktlos – kein Wort davon, dass zum Beispiel wenige Jahre zuvor auf der Alaska vorgelagerten Insel Kodiak blutige Kämpfe stattgefunden hatten. Auch sind die Mühen der Reise kaum je erahnbar. Der heutige Leser muss deshalb seine Fantasie sehr bemühen, um hinter den sachlichen Einträgen die Anstrengung zu erahnen, die sie kosteten.

Mercks Spektrum ist weit. Neben Informationen über das Wetter, die jedem künftigen Eroberer das Leben retten konnten, notierte er, was er an Gesteinen, Pflanzen und Tieren vorfand. Ebenfalls ist er an den Sprachen der Ureinwohner interessiert. Manche dieser Erkenntnisse mochten wirtschaftlich nützlich sein, aber viele waren es nicht. Eine wissenschaftliche Entdeckerfreude und der mögliche Nutzen für eine imperiale Entfaltung stehen hier zwar zuweilen nicht gegeneinander, doch immerhin nebeneinander.

Dem heutigen Leser wird in dieser Ausgabe manches vorenthalten: Allzu ausführliche Beschreibungen neugefundener Tier- und Pflanzenarten sind gekürzt. Andere hingegen, die ebenfalls nur Fachgeschichtler der Botanik oder der Zoologie interessieren, sind breit wiedergegeben. Hier herrscht eine befremdliche editorische Inkonsequenz.

Kulturgeschichtlich am interessantesten sind ohnehin Mercks ethnologische Beobachtungen. Er weiß, dass er eine Welt im Übergang bereist und sich unter dem Einfluss russischer Händler bereits manches geändert hat. Selten lässt er sich zu Klagen hinreißen: „Schwer genug blieb es uns, diese sechs Monate durch unter einem Schwarm von Wilden zu leben, die auch nicht der Schein von Gesetzen beschränkt, wo selbst der Vattermörder nie fremden Vorwurf zu erwarten hat“.

Diese Passage entstammt einem Bericht an die Auftraggeber, den Merck noch aus Sibirien absandte – offensichtlich hat sie zur Funktion, die eigene Leistung hervorzuheben. Sonst ist fast immer sachlich berichtet. Merck notiert nicht nur Bauweise der Hütten und Boote, Bekleidung, Tänze, medizinische Kenntnisse und Geburts- und Todesriten. Er berichtet ebenfalls recht unaufgeregt über Nacktheit und über Polygamie sogar der Frauen.

Das ist nützlich für die wenigen Spezialisten, die sich der Geschichte der aleutischen Bevölkerung widmen. Die zahlreicheren Interessenten an einer Mentalitätsgeschichte der Aufklärung werden hingegen nach den wenigen Stellen fragen, an denen Merck doch Wertungen erkennen lässt.

Es stimmt Merck milde traurig, dass den „Wilden“ jeder Sinn für Religion fehlt: „Von einer Gottheit, einem Wesen, dem so alles sein Dasein dankt, felt ihnen jede Vorstellung. Jeder Umschweif ihnen einen Begrif davon zu erwecken, diente zu nichts.“ Aus Mercks Sicht fehlt Zuverlässigkeit: „Was diese Wilden anlangt, so sind sie jähzornig. Ihre Zuneigung kann man leicht wol gewinnen, aber noch leichter und schneller verlieren.“ Doch hat er dies wohl kaum anders erwartet, und mehr empört ihn, im selben Absatz, ein fehlender Begriff von Eigentum: „Um Eisengeräthe zu entwenden ist ihnen ein besonderes Hurtigsein eigen. Ertappte man auch den Dieb, so gab er das Gestolene noch ungern zurück.“

Es kommt Merck nicht in den Sinn, dass das Problem sein eigener Begriff von Eigentum sein könnte. Wenn in anderen Situationen die in Not geratenen Reisenden von Ortansässigen großzügig versorgt werden, so nimmt er dies als selbstverständlich hin. Doch könnte ja die Regel sein, dass von dem genommen wird, der gerade genug hat; und dass deshalb die „Diebe“ gar kein schlechtes Gewissen haben.

Eine Form des Eigentums allerdings empört Merck: Sklaven, „geraubte, währlose, dürftige Waisen“, die sogar noch als Grabbeigabe für gestorbene Besitzer getötet werden. Offensichtlich geht es Merck um die Freiheit des besitzenden, souveränen Subjekts; und die Freiheit ist überschritten, wenn sie einem anderen Subjekt die Freiheit – jedenfalls die rechtliche Freiheit – raubt. Es ist dies ein fortschrittlicher Freiheitsbegriff, misst man ihn an der statischen Feudalordnung.

Freiheit gründet auf Berechnung; ein Fortschritt gegenüber dem dumpf Geglaubten der Tradition. Merck nimmt das Kalkül durchaus zur Kenntnis: „Doch erwiedern diese Wilden Geschenke nur dem Zusatz, daß ihre Gegengabe dem Empfangenen, wie man bei ihrem Tausch merkt, gegen die Halfte nachsteht. Also wol wahr, daß man beim Nehmen immer weiterkommt als beim Geben.“

Dieser geschickte Tausch – den die „Wilden“ vielleicht während einiger Jahrzehnte westlichen Händlern abgelernt haben – irritiert Merck, dem eine Idylle lieber und auch nützlicher gewesen wäre. Er notiert abfällig als Fremdes, was doch seine eigene Kultur bis heute kennzeichnet: einen möglichst günstigen Tausch zustande zu bringen.

Einerseits belegen solche Verschiebungen die fortdauernde Aktualität des Reiseberichts; andererseits überragt Merck dadurch die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, dass solche verräterischen Wertungen, aufs Ganze des Textes gesehen, außerordentlich selten sind.

Die Edition ist verdienstvoll, auch indem sie die Schreibweisen Mercks bewahrt. Die Einleitung ist informativ, der Anhang zumindest im Rezensionsexemplar dadurch beeinträchtigt, dass im Literaturverzeichnis sechzehn Seiten fehlen. Das ist schade, sollte aber dem Reisebericht nicht die Beachtung kosten, die er verdient.

Titelbild

Carl Heinrich Merck: Das sibirisch-amerikanische Tagebuch aus den Jahren 1788-1791.
Herausgegeben von Dittmar Dahlmann, Anna Friesen, Diana Ordubadi.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
413 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305458

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