Ein großes englisches Gedicht ist wiederzuentdecken

Paul Wühr übersetzt Francis Thompsons „Himmelhund“

Von Manfred PfisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Pfister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Francis Thompson war nicht immer so unbekannt, wie er es heutzutage ist. Nicht einmal die fast fünftausend Seiten starke „Oxford Anthology of English Literature“ weiß mehr von ihm. Als er 1907 mit achtundvierzig Jahren an Tuberkulose starb, und ebenso noch, als 1913 sein Förderer und Protektor Wilfrid Meynell seine Werke in drei Bänden herausgab, galt der Dichter des „Hound of Heaven“ jedoch vielen als einer der größten englischen Dichter des neunzehnten Jahrhunderts, wenn nicht der ganzen englischen Literaturgeschichte.

Vita und Werk rückten ihn für einige in die Nähe der décadents des fin de siècle – ihn, den katholischen Priesterzögling, der tuberkulosekrank und von Opium geschwächt in der Londoner Gosse verendet wäre, hätten ihn nicht schließlich die katholischen Publizisten Alice und Wilfrid Meynell und ihre Freunde geborgen und seiner Dichtung einen öffentlichen Raum verschafft; den poète maudit, geboren im Todesjahr des „Opium-Eaters“ Thomas de Quincey, dessen „Confessions“ ihm die Mutter als letztes Geschenk hinterlassen hatte und in dessen poetischer Nachfolge er sich sah; den rauschhaften Dichter, in dessen Versen sich Unordnung und frühes Leid mit dem Schönheitsglanz liturgischer Sakralisierung verband.

Besonders gefeiert wurde er aber in kirchennahen Kreisen, die in ihm den großen englischen katholischen Dichter sehen wollten, den größten seit dem Barockdichter Richard Crashaw: Für den katholischen Dichter Coventry Patmore war „The Hound of Heaven“ „eine der wenigen großen Oden, deren sich unsere Sprache rühmen kann“, für den Bischof von London „eines der erschütternsten Gedichte, die je geschrieben wurden“, für G. K. Chesterton „das größte religiöse Gedicht moderner und eines der größten aller Zeiten“ und als solches „ein historisches Ereignis“, die Rückkehr einer existentiell bewegten religiösen Dichtung „am Ende eines historischen Prozesses, der eine solche eigentlich unmöglich gemacht haben sollte“. Oder, mit Chestertons Witz andersherum formuliert: „Die knappste Definition des viktorianischen Zeitalters: Francis Thompson blieb ihm außen vor.“ (Dass bei solchen katholischen Kanonisierungen nirgendwo der Name des Jesuiten Gerard Manley Hopkins fällt, liegt daran, dass dessen Gedichte erst 1918 öffentlich zugänglich wurden.)

Auch in Deutschland wirkten Thompsons Gedichte vor allem im katholischen Raum, und sie blieben auch hier nur sporadisch im literarischen Gedächtnis gegenwärtig. Die erste Übersetzung von „Hound of Heaven“ stammt von dem Konvertiten und „Hochland“-Publizisten Theodor Haecker und ist 1925 im Innsbrucker Brenner-Verlag erschienen; auf sie folgte 1937 eine Übersetzung durch den österreichischen Anglisten und Germanisten Leopold Brandl. Eine zweite kleine Renaissance erfuhr Thompson in der Zeit der Suche nach geistigem Rüstzeug für einen moralischen Wiederaufbau unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit Übersetzungen von Elisabeth Kawa im Berliner Morus-Verlag (1946) und des Schweizers Max Geilinger in seiner Anthologie „Englische Dichtung“ (1946). Seitdem ist es still um Thompson geworden: Man konnte, wie der Rezensent, in den sechziger Jahren in München englische Literatur studieren, ohne je seinen Namen auch nur erwähnt zu hören, und die deutsche Anglistik insgesamt hat sich forschend und lehrend kaum mit ihm beschäftigt. Immerhin aber druckte die 2000 im Münchner Beck-Verlag erschienene zweisprachige Anthologie „Englische und amerikanische Dichtung“ in ihrem dritten Band drei Strophen aus dem „Hound of Heaven“ nach und griff dabei auf Geilingers recht biedere Übersetzung zurück.

Hätte doch nur damals schon Paul Wührs Übertragung vorgelegen! Wühr war auf dem Weg zum eigenen Dichtertum früh auf Francis Thompson in Theodor Haeckers übersetzerischer und kritischer Aneignung gestoßen und beschäftigte sich in den letzten zwanzig Jahren in enger Zusammenarbeit mit dem Salzburger Anglisten Holger Klein, der ihm, dem Nicht-Anglisten, dazu die Interlinearversionen lieferte, mit eigenen Übertragungen einer kleinen Auswahl der Gedichte. Hier übersetzt ein Dichter, der „sein ganzes Leben lang“ Verse schreiben wollte wie die des Dichters, den er übersetzt. Der Band, der dabei entstand, ist das Ergebnis einer hartnäckigen Liebesmüh’, und dies zeigt sich sowohl in den engagierten Übertragungen als auch in der durchdachten Textzusammenstellung. Sie bietet neben sieben Übertragungen einen Essay Wührs über Francis Thompson, eine Tagebucheintragung zu seinem Umgang mit ihm, eine biografische Notiz Wilfrid Meynells und Auszüge aus Theodor Haeckers Essay „Über Francis Thompson und Sprachkunst“. Insgesamt ergibt das einen Band, der der trefflichen und findigen „Blue Books“-Reihe des Münchener Lyrik Kabinetts alle Ehre macht.

Die Liebe, um derentwillen sich Wühr hier so viel Mühe macht, ist freilich, wie bei all seinen Liebesmühen, eine Hassliebe – Hass nicht auf den Dichter von „Hound of Heaven“, sondern auf dessen theologische Vereinnahmung und hagiografische Verklärung durch englische und deutsche katholische Interpreten, auf den „Hofpoeten des Vatikans“, zu dem er in bestimmten Kreisen gemacht wurde. Wühr nimmt den Dichter Thompson in Schutz vor dessen eigenem Katholizismus, mehr aber noch vor katholischen Exegeten wie Haecker, die ihn in konfessionelle Rechtgläubigkeit einzusperren versuchen. Thompson sah sich zwar selbst als „Dichter der Rückkehr zu Gott“, dies aber, trotz aller biblischen Bilder und liturgischen Sprechgesten in seinen Versen, nicht in einem dogmatisch verengten Sinn. Und dem katholischen Milieu, in das er als Mensch und Autor eingebunden war, stand er durchaus auch skeptisch gegenüber und geißelte wie etwa in seinem Essay über den von ihm bewunderten atheistischen Dichter Shelley jedes „katholische Philistertum“. Wühr kann sich also mit seiner Scheidung von Dichtung und Rechtgläubigkeit durchaus auf Thompson selbst berufen, und er hat recht mit seinem abschließenden Urteil: „Francis Thompson ist kein römisch-katholischer, sondern ein englischer, und als solcher ein großer Dichter.“

Rückendeckung dafür hätte er sich schon beim anonymen Rezensenten der ersten Gesamtausgabe in der „Times“ vom 12. Juni 1913 holen können. Hier hieß es schon, freilich ohne Wührs gelegentlich kulturkämpferisch schrille Polemik, über Thompson und seine besten Gedichte: „Sie sind jenseits jeden Dogmas; sie fordern sogar, jedes auf seine Weise, das Dogma heraus. […] Einige haben ihn als Dichter eines kleinen Zirkels geschmäht, andere ihn als ‚religiösen Dichter‘ sehen wollen, das heißt als jemanden zwischen einem wirklichen Dichter und einem Verfasser von Liedern für den Gottesdienst. Er gehörte jedoch einer hehreren Schar an und bewegte sich auf den weiten Bahnen der großen Dichter.“

Wührs radikal revisionistischer Ansatz zeigt sich schon in der Übersetzung des Titels, indem er dessen ganz unorthodoxe theologische Radikalität wieder herstellt. „The Hound of Heaven“ hat ja wenig mit christlichen Vorstellungen eines gütigen Gottes zu tun, der dem glaubensschwachen Menschen auf dessen Abwegen das Geschenk seiner Liebe und Gnade anbietet; die Titelmetapher suggeriert vielmehr einen gierigen göttlichen Bluthund, der den Ungläubigen verfolgt und zur Strecke bringt. Alle früheren deutschen Übersetzungen hatten diese bestürzende Radikalität zurückgenommen und ins theologisch leichter Verdauliche abgeschwächt: „Der Jagdhund des Himmels“ (Haecker, Kawa), „Der Spürhund des Himmels“ (Brandl) oder „Die Hetzjagd vom Himmel“ (Geilinger). Bei Wühr/Klein heißt es dagegen mit skandalös lapidarer Wucht: „Der Himmelhund“. Man erschrickt und meint, das Erschrecken Wührs ob dieser Kühnheit schier physisch zu spüren. Ein Tagebucheintrag des Übersetzers bestätigt dies: „Ich war einmal versucht und habe nicht standgehalten, Gott Hund zu nennen. Einmal, dachte ich, sollte es gut sein. Ich will nicht nur meine Wut ausdrücken, sondern diese Wut auch in Francis Thompsons Gedicht vermuten dürfen.“

Für Wühr ist Francis Thompson nicht der Dichter der „Rückkehr zu Gott“; er ist ihm groß vor allem dort, wo er sich als der Dichter der Revolte gegen fromm christliche Gottesvorstellungen zeigt, bei dem „sich heidnische (klassische) Gedankengänge überall dort anmelden, wo eigentlich die Frömmigkeit das Sagen hat.“ Was in Wührs Übertragung dominiert, ist die Wut auf diesen Himmelshund, und diese Wut nimmt Thompsons berückenden Rhythmen, Reimen und Bildern ihren poetischen Glanz und übersetzt sie in enragierte drastische Sprachgesten:

Nigh and nigh draws the chase,

With unperturbèd pace,

Deliberate speed, majestic instancy;

And past those noisèd Feet

A voice comes yet more fleet –

“Lo! Naught contents thee, who content’st not Me.”

Daraus wird:

Die Jagd, wie nie,

so hart, naht mir, kommt immer näher, verlöre

er doch nur einmal seinen soldatischen Gleichschritt,

der Hund mit seiner Ungerührtheit, seiner herrschaftlichen. Vorbei

an seinen lärmenden Füßen, gemeint sind alle viere,

wieder sie, seine Stimme:

„Siehe, nichts befriedigt dich, der mich nicht

befriedigt – nie.“

Das ist länger als das Original – die Wut braucht eben mehr Raum als die Furcht und sie sprengt auch Thompsons regelmäßige Metren und Reime und zieht dessen oft preziöse und archaisierende poetische Diktion immer wieder herunter ins umgangssprachlich, ja mundartlich Prosaische. Auf seine eigene Art ist das aber auch großartig, und das letzte, zusätzliche, „nie“, das sich hier jedes Einlenken in zukünftige Tröstungen verbittet, geht unter die Haut.

Paul Wührs Übersetzung ist ein starkes Stück. Provoziert durch Theodor Haeckers meisterliche Eindeutschung, deren suggestive Schönheit ihn früh schon für Francis Thompsons „Hound of Heaven“ gewann, wird seine Version zum Anti-Haecker. Einige Verse daraus waren dem jungen deutschen Dichter in Haeckers Eindeutschung zum Mantra geworden, das er sich immer wieder vorsagte. Hier sind sie, zunächst im Original:

Let me twine with you caresses,

Wantoning

With our Lady-Mother’s vagrant tresses,

Banqueting

With her in her wind-walled palace

Bei Haecker klingt das noch suggestiver und bekommt einen fast Rilke-haften Klang:

Ausgelassen fast

Mit unsrer Mutter wirren Flechten spielend Kind,

Ihrer Feste Gast

In ihrem Schlosse, dessen Wände Winde sind

Und was wird daraus bei Wühr?

Laßt mich euch lieben und kosen.

Mit Zöpfen spielen wir,

siehe: mit den Flechten unserer Mutter, den losen,

tafelnd mit ihr,

geschützt von ihrem Palast, seinen Mauern aus Wind

Was hier der vom Himmelhund Gejagte und in der Natur sein Heil Suchende ihren Kindern zuflüstert, zitiert in seiner Gespreiztheit nur noch von Ferne den Zauberglanz des Poetischen. Darin aber liegt die Pointe, die Spitze dieser neuen, emphatisch eigenwilligen Übertragung: Sie jagt nicht der Chimäre maximaler inhaltlicher und formaler Äquivalenz zwischen Original und Übersetzung hinterher, sondern schafft etwas Neues im Dazwischen. So wie von Hölderlins Übersetzungen gesagt wurde, ihre Sprache sei nicht mehr griechisch und noch nicht deutsch, so sind auch diese Himmelhund-Gedichte nicht mehr ganz die Francis Thompsons und noch nicht ganz die Wührs. Gerade aber als solche könnten sie hierzulande und heute neuen Sinn machen und für diesen verstörten und verstörenden major minor poet des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts neues Interesse wecken.

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Francis Thompson: Der Himmelhund und andere Gedichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Paul Wühr.
Lyrik Kabinett, München 2009.
91 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776216

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