Terra Incognita

Die Herausgeber Erika Glassen und Turgay Fisekci versammeln in ihrem Band 42 türkische „Kultgedichte“

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abgesehen von Orhan Velis Gedicht „Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen“, das seit seiner Aufnahme in deutsche Schulbücher auch hierzulande einem größeren Lesepublikum bekannt ist, dürfte die Türkei poetisch für die meisten Leserinnen und Leser in Deutschland wohl noch immer weitgehend eine terra incognita sein. Dabei liegt dieser Zustand nicht zuletzt auch darin begründet, dass deutsche Übersetzungen moderner türkischer Literatur, insbesondere aber moderner türkischer Lyrik, vergleichsweise schwer greifbar sind.

Abhilfe soll da die mittlerweile komplett in 20 Bänden erschienene „Türkische Bibliothek“ des Züricher Unionsverlags schaffen: Gefördert von der Robert Bosch Stiftung und unter der editorischen Ägide der beiden Islamwissenschaftler Erika Glassen und Jens Peter Laut herausgegeben, werden hierbei „Meilensteine der türkischen Literatur von 1900 bis in die unmittelbare Gegenwart“ aus diversen literarischen Genres verfügbar gemacht, wobei man gerade jenen Autoren und Autorinnen besonderes Augenmerk schenkte, die „trotz ihrer Bedeutung der deutschsprachigen Leserschaft noch nie zugänglich gemacht wurden.“

Die Bedeutung der Lyrikerinnen und Lyriker einzuschätzen, deren Gedichte im Band „Kultgedichte“ versammelt wurden, überließen die Herausgeber Erika Glassen und Turgay Fisekci, seines Zeichens selbst Lyriker, allerdings anderen: So wurden 42 in der Türkei prominente Künstler und Kritiker gebeten, jeweils ein Gedicht zu benennen, das ihrer Meinung nach als herausragendes Beispiel türkischer Lyrik bezeichnet werden kann, und darüber hinaus in einem kurzen Essay ihre Auswahl zu begründen. Das Resultat ist somit weniger ein offizieller Kanon türkischer Poesie als vielmehr eine hochgradig subjektiv-eklektische Zusammenstellung von Gedichten, deren Bandbreite von Yunus Emres „Wir scheiden nun aus dieser Welt“ aus dem 14. Jahrhundert bis zu Kücük Iskenders 2003 erschienenem „Trennung wegen nichts“ reicht. Das Gros der abgedruckten Gedichte stammt allerdings aus den 1950er- bis 1990er-Jahren.

Obgleich die Herausgeberin das solcherart entstandene Resultat als „originelle Anthologie“ feiert, mögen einen jedoch Zweifel bezüglich dieses Auswahlverfahrens beschleichen, da ihm ein gewisser Grad an Beliebigkeit innezuwohnen scheint. So verweist Glassen in ihrem – zunächst etwas zu pittoresk-beschaulich beginnendem „Vorwort“ („Wenn man Glück hat, kann man sie heute noch erleben in der Türkei, geselligen Stunden in einem gastlichen Haus der älteren Generation, in dem – eher zufällig – ein Kreis von Freunden zusammentrifft, dazu stößt ein junger Saz-Spieler mit angenehmer Stimme.“) – auf die immense, nicht zuletzt auch politische Bedeutung von Lyrikern wie Namık Kemal, Ziya Pasa und Tevfik Fikret – Autoren, deren Werke sie als Beispiele für „echte ‚Kultgedichte‘“ bezeichnet, die man, wie auch andere explizit politische Gedichte, in der Sammlung aber vergebens suchen wird.

Auch Glassens Resümee, dass „[d]as Lebensgefühl der Türken zu Anfang des 21. Jahrhunderts […] von der Melancholie (Hüzün) bestimmt [wird], unsere Anthologie bestätigt das“, erscheint vor dem Hintergrund der präsentierten Gedichtauswahl fraglich, stammt doch – streng genommen – nur Iskenders bereits erwähntes Gedicht aus dem neuen Jahrtausend. Dennoch ermöglichen, bei aller Arbitrarität der Auswahl, die in „Kultgedichte“ zweisprachig dargebotenen Gedichte diverse, zum Teil überraschend neue poetische Sichtweisen auf die Welt, so dass der Band allen Lyrikliebhabern ans Herz gelegt sei.

Titelbild

Erika Glassen / Turgay Fisekci (Hg.): Kultgedichte.
Unionsverlag, Zürich 2008.
350 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783293100145

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