Die Alltäglichkeit des Bösen

Über Paulus Hochgatterers Roman „Das Matratzenhaus“

Von Christina LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Lange

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Matratzenhaus“, der jüngste Roman von Paulus Hochgatterer, ist wie schon sein Vorgänger „Die Süße des Lebens“ kein Kriminalroman im klassischen Sinne. Vielmehr ist es ein Roman über Eltern und ihre Kinder. Über Eltern, die ihre Kinder schlagen oder missbrauchen, sie verkaufen, demütigen oder – oft auf unbeholfene Weise – lieben. Es ist auch ein Roman über Kinder, die auf solche Eltern reagieren – mit Gewalt gegen sich selbst oder andere, mit Ausflüchten in fremde Welten und Geschichten oder mit der Flucht aus dem Elternhaus. Das Schockierende daran ist die Alltäglichkeit, die in vielen dieser Geschichten mitschwingt und hinter der zuletzt das große, das unfassbare Verbrechen an der Menschlichkeit lauert.

Es ist Frühling in Furth am See und eigentlich würde es Raffael Horn, Psychiater im ansässigen Krankenhaus, vollkommen ausfüllen seinen Garten umzugestalten. Doch leider lassen ihn seine Eifersuchtsfantasien, die Sorge um den pubertierenden Sohn und die Arbeit mit sich selbst verstümmelnden Jugendlichen nicht zur Ruhe kommen. Als wäre das nicht schon genug, tritt die Polizei mit einem seltsamen Fall an ihn heran: der siebenjährige Sohn eines ungarischen Emigranten wurde von einem Unbekannten während der Schulzeit geschlagen. Der Junge begegnet Horns Nachforschungen mit Stillschweigen als es zu weiteren ähnlichen Vorfällen kommt. Ein anderes Opfer des unheimlichen Täters schließlich gibt weitere Rätsel auf als es gesteht, es sei von der „schwarzen Glocke“ geschlagen worden.

Paulus Hochgatterer schildert die Ereignisse aus den Perspektiven verschiedener Figuren, natürlich aus der seiner Hauptfiguren Kovacs und Raffael Horn sowie aus der einer Grundschullehrerin der misshandelten Kinder. Eine andere Erzählstimme ist die einer Dreizehnjährigen, die von ihrer indischen Mutter verkauft und in das titelgebende „Matratzenhaus“ verschleppt wurde. Was sie und ihre kleine Adoptivschwester hier erleiden, wird aus der Sicht der Ich-Erzählerin geschildert. Diese Kapitel sind, neben einer Art Prolog, die intensivsten Passagen des Romans. Der Autor findet für diese Figur eine sensible und glaubwürdige Stimme, die ein wenig an Dacia Marainis meisterhafte Schilderungen von Kinderschicksalen in „Kinder der Dunkelheit“ erinnert.

Zudem erzeugt Hochgatterer durch bewusste Aussparung einzelner Geschehnisse und Details Bilder in der Fantasie des Lesers, die einen größeren Schrecken erzeugen als es explizite Beschreibungen vermocht hätten. Dank dieser großartigen Erzählpassagen vergibt man dem Autor gerne, dass er an anderen Stellen dann doch zum Schwelgen in scheinbaren Nebensächlichkeiten neigt. Zwar tragen Beschreibungen von Kovacs Angeltriumphen und Erzählungen über Horns Zerstreutheit zur Charakterisierung der Hauptfiguren bei, doch manchmal bremsen sie die Handlung des Romans auch nachhaltig aus.

Insgesamt erwartet den Leser in erster Linie keine aufregende Verbrecherhatz. Vielmehr ist der Roman eine Studie über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit und zuletzt auch ein Zugeständnis. Das Zugeständnis an die besondere Verletzlichkeit jedes einzelnen Menschen nämlich, der innerhalb eines familiären Verbandes lebt, egal ob als Elternteil oder als Kind.

Titelbild

Paulus Hochgatterer: Das Matratzenhaus. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010.
293 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552061125

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