Furcht und Elend der freien Marktwirtschaft

Zu Einar Már Gudmundssons Streitschrift über Islands Ruin

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerade haben in einem Referendum über 90 Prozent der wahlberechtigten Isländer ein Gesetz abgelehnt, das Briten und Niederländern Ersatzzahlungen für erlittene Verluste bei ICESAVE zugestehen sollte. Icesave ist die bankrotte Tochterbank der bankrotten Landsbankinn auf Island. Diese Bank sammelte in den Niederlanden und in Großbritannien Geld von Anlegern ein, weil sie ihnen Zinsen versprach, die ansonsten keine Bank der Welt mehr geboten hat. Das mit dem Geldeinsammeln klappte, das mit den Zinsen klappte nicht. Nun steht Island vor dem Bankrott und kann nur deshalb noch als Staat funktionieren, weil sich die Insel im Nordatlantik dem Diktat des Internationalen Währungsfonds (IWF) unterwerfen musste. Den brutalen Ausverkauf eines modernen und souveränen Staats prangert der renommierte, auch im deutschsprachigen Raum durch die Romane „Die Ritter der runden Treppe“ (1988) und „Engel des Universums“ (1998) bekannte isländische Autor Einar Már Gudmundsson an. Mit großem moralischem Furor kritisiert er die Auswirkungen des Neoliberalismus, der Island ausgeplündert hat: „Das ist natürlich nichts anderes als Landesverrat, sollte das Wort noch irgendeine Bedeutung haben, und daher stellen wir die unabdingbare Forderung, wir, die wir nichts anderes haben als uns selbst und unsere Kinder und unsere Enkel, das Eigentum der auf unsere Kosten reich Gewordenen unverzüglich einzufrieren und sie zur Verantwortung zu ziehen.“

Die Privatisierung der Banken sieht Einar Már als das Grundübel eines Verbrechens, das „bei vollem Bewusstsein der Politiker stattfand, jener, die die Banken privatisierten, sie genau genommen ihren politischen Busenfreunden überreichten, ja, in die Hände von Glücksrittern legten, die uns bis weit in die Zukunft zu Bürgen ihrer Schulden machen und zu Bittstellern vor dem Internationalen Währungsfonds und anderen Geldinstituten.“

Er beklagt den Rausch, in den sich Politiker und Finanzleute gesteigert hätten, die rücksichtslos alles, was in Island nur aus der Ferne von Wert sein könnte, für ihre Spekulationen drangegeben hätten. „Deswegen haben wir genug von all dem Gequatsche. Unter diesen Umständen genießt die Regierung kein Vertrauen mehr, es sei denn, sie krempelt die Ärmel hoch und greift dort zu, wo etwas zu holen ist. Ja, ganz richtig. Wir haben nicht vor, die Schulden der Finanzchaoten zu begleichen, auch wenn wir das Schnurren und die Verneinung der Regierungsvertreter vernehmen, die unsere Ohren mit langweiligen Ausreden strapazieren.“

Der Schriftsteller ist mitten in den Auseinandersetzungen um die Zukunft Islands, er ist mitten drin in den Demonstrationen, die zur Ablösung der liberal-konservativen Regierung geführt haben. Er zieht Beispiele aus der Literatur heran, Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reichs“ mutiert bei ihm zu „Furcht und Elend der freien Marktwirtschaft“, Halldór Laxness, den Übervater der isländischen Literatur zitiert er als einen scharfen antikapitalistischen Seher und immer wieder vergleicht er Poesie und Literatur mit dem finanzkapitalistischen Gebaren seiner Landsleute. Gerade dann, wenn er mit eigenen Versen seine Gefühlslage beschreibt, wird die Verzweiflung greifbar, die Menschen wie Einar Már ergriffen hat. Für den Autor ist der faktische Zusammenbruch Islands eine Folge nicht nur der Gier, sondern des kapitalistischen Geistes, der alle Lebensbereiche der Kapitalverwertung unterwirft, auch die Kultur, die Literatur und das Denken. Jetzt, mitten in der Krise möchte er seine Landsleute wachrütteln.

Und damit bin ich beim Problem der deutschen Ausgabe. Vieles, was Einar Már darstellt, ist verallgemeinerbar und auch für den deutschen Leser nachzuvollziehen. Vieles ist es aber nicht, wenn man sich nicht laufend detailliert über die Verhältnisse auf Island informiert hat. Da wäre es, wenn der deutsche Verlag denn schon nicht kürzen wollte, sehr sinnvoll gewesen, Erläuterungen zu geben. Wer kann alle Namen, die der Autor nennt, einordnen? Wer weiß im deutschsprachigen Raum, was es mit dem „Laugavegur“ auf sich hat? Wer ist über Fischfangquoten und ihre Bedeutung für Island informiert? Kann man die Namen der Banken, die in der Krise über Kopf gegangen sind, im deutschsprachigen Raum als bekannt voraussetzen? Und schließlich: warum konnten sich die Übersetzerin und der Verlag nicht darauf verstehen, die Parteien so zu nennen, wie sie in der deutschsprachigen Presse genannt werden? Überhaupt scheint mir die Übersetzerin Gudrun M. H. Kloes nicht sehr vertraut mit den politischen und ökonomischen Gegebenheiten und vor allem den richtigen deutschen Bezeichnungen zu sein, denn was etwa ist „ein stellvertretender Parlamentarier“? Ein Nachrücker? Oder gibt es in Island das System von Stellvertretern im Parlament? Wenn ja, dann müsste das erklärt werden, da es das in den deutschsprachigen Ländern nicht gibt. In einem „Sachbuch“ wie dieser Anklageschrift fehlen schlicht die Erläuterungen für den deutschsprachigen Leser, dem die „friedliche Revolution“ in Island in ihrer Chronologie und mit ihren Beteiligten nicht geläufig sein dürfte.

Das Buch ist eine Streitschrift zu den aktuellen Auseinandersetzungen in Island – furios, zornig und mit hohem moralischem Anspruch. Sie sollte wohl schnell auch den deutschsprachigen Lesern vorgestellt werden. Die müssen jedoch enttäuscht sein, weil ihnen die Bezüge und Anspielungen auf die Realien des politischen Alltags in Island schlicht vorenthalten werden.

Titelbild

Einar Már Gudmundsson: Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin.
Übersetzt aus dem Isländischen von Gudrun M. H. Kloes.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
206 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235106

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