Gefallen!

Die zeitlose Wirklichkeit des Krieges kam zurück nach Deutschland

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Vorbemerkung

Dieser Beitrag entwickelte sich ungewollt – und wahrlich ungewünscht – zu einem tagebuchartigen Text. Die erste Fassung hatte ich am Dienstag, den 13. April fertiggestellt. Nach dem 16. April erzwangen die Geschehnisse laufende Ergänzungen, die ich durch einen Querstrich voneinander trenne.

Manhattan und Selsingen (Text vom 13. April 2010)

Tyler Hawkins wartet auf seinen Vater in dessen Büro in Downtown Manhattan. Nachdenklich schaut er aus dem Fenster. Zur gleichen Zeit bringt sein Vater die kleine Schwester Caroline zur Schule. Die Lehrerin schreibt an die Tafel das Tagesdatum: September 11, 2001. Langsam löst sich die Kamera vom Gesicht Tylers und fährt immer weiter zurück. Zunehmend deutlicher wird die Gebäudestruktur des Hauses; die Längsstreifen der Verkleidung kommen dem Zuschauer irgendwie bekannt vor. Als die Kamera weit genug weg ist, erkennt man, dass der junge Mann aus dem Fenster in einer der oberen Etagen des World Trade Center blickt.

Als der Abspann zu „Remember me“ – diesem sehenswerten Film von Allen Coulter – lief, fragte das etwa 15-jährige Mädchen hinter uns seine vermutlich gleichaltrige Nachbarin: „Und, was passiert jetzt?“ Nach einer kurzen Pause kam die Antwort der Freundin: „Keine Ahnung, ich weiß nicht, ich glaub, da fliegt gleich ein Flugzeug rein.“

Wenn das historische Wissen fehlt, hilft selbst eine einigermaßen schlichte Anspielung nichts: Wer an einem welthistorischen Ereignis noch nicht einmal seinen sechsten Geburtstag gefeiert hat – und ganz offensichtlich niemals später damit bewusst in Berührung kam – weiß nicht, was an jenem Dienstag vor nunmehr knapp neun Jahren geschah.

Nils Bruns war 26 Jahre alt, Martin Augustyniak war 19 Jahre alt, und Robert Hartert hatte seinen 16. Geburtstag noch nicht erlebt, als sich die historischen Dramen im weitentfernten Manhattan abspielten. Ob der spätere Stabsgefreite Hartert des Fallschirmjägerbataillons 373 aus Seedorf in Niedersachsen wohl damals die Bilder der zusammenbrechenden Türme im Fernsehen gesehen hat? Ob sie den Teenager damals interessiert haben? Unter keinen Umständen konnte er ahnen, dass er am 2. April 2010 an den Spätfolgen dieses terroristischen Massenmordes in New York City einen gewaltsamen Tod im afghanischen Distrikt Chahar Darreh, sechs Kilometer westlich von Kunduz sterben würde.

Am 16. November 2001 hatte der Deutsche Bundestag – der Bitte der USA folgend – seine Zustimmung zum „Anti-Terror-Einsatz“ der Bundeswehr beschlossen, der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte das Votum über den Militäreinsatz mit der Vertrauensfrage verknüpft. Am 20. Dezember 2001 beschloss der Sicherheitsrat der UNO mit der Zustimmung Deutschlands die Einsetzung der International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. 2006 übernahm die Bundesrepublik Deutschland das ISAF-Kommando im Norden Afghanistans. Zum Zeitpunkt dieses Beitrags sind 39 deutsche Soldaten beim Einsatz in Afghanistan gestorben.

Als ich die Bilder im Fernsehen von der Trauerfeier in der St. Lamberti-Kirche in Selsingen sah, den Reden des Militärdekans, der Bundeskanzlerin und des Bundesverteidigungsministers zuhörte, überkam mich ein eigenartig vertrautes, unheimliches Gefühl. Als Sohn einer Kriegerwitwe kenne ich seit frühesten Kindheitserinnerungen die Worte „Heldengedenktag“ und „Gefallen für Volk und Vaterland“. Ich wusste schon früh den Unterschied zu bezeichnen zwischen „gestorben“ und „gefallen“: Nur der im Kampf getötete Soldat ist „gefallen“, derjenige, der im Krankenhaus oder auf dem Transport dahin gestorben ist, ist „nur“ gestorben. Die Soldaten, die „nur“ verunglückt sind, aber auch diejenigen, die „nur“ vermisst werden, sind nicht „gefallen“.

Die Erklärung dieses eigenartigen Wortes für den kleinen Jungen, der mit seiner Mutter an fast jedem „Volkstrauertag“ am Grabmal des Unbekannten Soldaten vor dem (ehemaligen) Bayerischen Armeemuseum – der heutigen Bayerischen Staatskanzlei – frierend stand, war einfach: „Gefallen“ ist der Soldat, der stürmend auf den Feind zuläuft, dabei erschossen wird und darum zu Boden fällt. Das versteht ein Bub, der auch schon oft (hin)gefallen war, und erfreulicherweise immer wieder aufstehen konnte.

Nicht nur dieses Wort, auch die Reden waren dem Fernsehzuschauer des Jahres 2010 überaus vertraut: Die gefallenen drei Soldaten waren „echte Patrioten“, vor denen sich eine Kanzlerin – und mit ihr „Deutschland“– „mit Dank und Hochachtung“ verneigt. Es war wie ein Echo aus jenen fröstelnden November-Erinnerungen, als ich den Herrn Minister sagen hörte: „Sie waren tapfere, treue Soldaten, sie sind für unser Land gefallen.“ Ich kenne das Wort, von dem nun – endlich und überfällig (siehe literaturkritik.de 8/2009) – so viel, wenn auch immer noch ein wenig verhalten, die Rede ist: KRIEG.

Und ich kenne die Melodie und den Text des Liedes, das angestimmt wurde: „Ich hatt einen Kameraden“. Dieser Text, den der Dichter und Abgeordnete der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, Ludwig Uhland, verfasst hat. Dieses Lied, das seit dem verlustreichen Krieg gegen Frankreich von 1871 immer häufiger bei offiziellen Trauerfeiern gespielt wurde, das seit dem mindestens ebenso so verlustreichen Ersten Weltkrieg Bestandteil des militärischen „Abschiedszeremoniells“ gewesen war und das die Bundeswehr übernommen hat. Man wird es nun wohl noch öfter hören, in Deutschland, diesem Land im Krieg:

„Ich hatt einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
Im gleichen Schritt und Tritt.

Eine Kugel kam geflogen:
Gilt sie mir oder gilt sie dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen
Als wär’s ein Stück von mir.

Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad‘.
„Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew‘gen Leben
Mein guter Kamerad!“

Die Bundeskanzlerin, aber auch Verteidigungsminister und Generalinspekteur werden sich schon bald überlegen müssen, wie oft sie persönlich noch an solchen Veranstaltungen teilnehmen können. Und wie sie es demnächst erklären wollen, wenn sie nicht mehr bei jeder bevorstehenden Trauerfeier für deutsche Gefallene kommen können. Die Abteilungen Protokoll im Bundeskanzleramt und im Verteidigungsministerium werden auch das zu regeln haben. Zwischenzeitlich wurde ein genauer Maßnahmenkatalog erarbeitet: Wann benachrichtigt wer wie wen? Mit den Angehörigen werden Ort, Zeitpunkt und Ablauf der Trauerfeier besprochen: Totenwache, militärisches Geleit („Trauerkondukt“), Begleitmusik.

Der Referatsleiter im Bundesverteidigungsministerium, Oberst Heinz Krieb (Besoldungsgruppe B3, Grundgehalt Stufe 1, EUR 6.635), wird zitiert mit den Sätzen: „Wir entwickeln in unserer Gesellschaft erst noch eine Kultur der Trauer um unsere Gefallenen. Das ist ein laufender Prozess, der sich gewiss von der Kultur anderer Nationen, die bereits seit Jahrzehnten mit solch tragischen Ereignissen konfrontiert sind, unterscheidet. Uns kommt es neben der engen Betreuung der Angehörigen auch auf eine angemessene und würdevolle Trauerfeier für unsere Gefallenen an.“

„Mein Vater ist im Krieg gefallen“ werden die Kinder der in Selsingen so aufwändig betrauerten Soldaten sagen, wenn sie älter geworden sind. Momentan ist Remo Augustyniak, der Sohn des Hauptgefreiten Martin Kadir Augustyniak (Besoldungsgruppe A4, Grundgehalt Stufe 1, EUR 1.773) erst drei Jahre alt. Sein Vater, der 1981 geborene Bielefelder, absolvierte die Hauptschule als Jahrgangsbester, wechselte aufs Gymnasium und beendete die Schulzeit im Jahr 2002 mit dem Abiturzeugnis. Der leidenschaftliche Tänzer und Fitness-Trainer entschied sich zunächst gegen die Bundeswehr, absolvierte den Zivildienst und studierte danach Pädagogik. Im Jahr 2008 verpflichtete sich Martin Augustyniak als Zeitsoldat bei den Fallschirmjägern. Er war erst seit drei Monaten in Afghanistan, als seine Einheit in den tödlichen Hinterhalt geriet. „Er wollte wirklich den Menschen helfen“, sagte der Herr Verteidigungsminister in Selsingen.

Martin Augustyniak hinterlässt seine Ehefrau, die aus Georgien stammt, und seinen Sohn Remo. Nach der Ferienordnung des Landes Nordrhein-Westfalen wird am 14. November 2010 der diesjährige „Volkstrauertag“ begangen. Wir werden sehen, wann er wieder „Gesetzlicher Feiertag“ im deutschen Kalender wird. Für Remo Augustyniak und seine Mutter stehen noch viele solche Tage bevor.

Baghlan und San Francisco (Text vom 16. April 2010)

Ob die Bundeskanzlerin wohl regelmäßig einen schwarzen Hosenanzug einpacken lässt, wenn sie verreist? Das fragte ich mich, als ich am Abend des 15. April die Sondersendung „Brennpunkt: Wieder tote Soldaten in Afghanistan“ in der ARD verfolgte, in der die Bundeskanzlerin aus dem kalifornischen San Francisco den Angehörigen der vier gefallenen Soldaten ihr Mitgefühl und den fünf schwer verletzten Soldaten ihr „tiefes Beileid“ bekundete. Eine Bundeswehrpatrouille war in der Region Baghlan angegriffen worden, als sie mit schwedischen, belgischen und kroatischen Soldaten im Rahmen eines Operational Mentor and Liaison Team (OMLT) unterwegs waren. Rund 150 „Ausbilder“ und Schutzkräfte begleiteten etwa tausend afghanische Soldaten der Afghan National Army, es ging – so wird uns Fernsehkonsumenten vermittelt – um eine Ausbildungsaktion in Sachen Gefechtstaktik. Es soll um die „Verdrängung“ der Taliban gehen. Deutschland, also wir, stellen keine Kämpfer, wir schicken Lehrer!

Es sieht nicht so aus, als ob das sonderlich erfolgreich verläuft, vor allem nicht für die Ausbilder. Der ferngezündete Sprengsatz an der Dutch Bridge wurde exakt erst in dem Moment gezündet, als der deutsche Eagle IV zum Stehen kam, die lange Kolonne mit den afghanischen Kräften war unbehelligt vorbeigefahren. Am Tag nach dem Angriff wird gemeldet, dass diesmal auch ältere Soldaten und höhere Dienstränge bei den Gefallenen vertreten sind: ein Oberstabsarzt aus Ulm (33 Jahre), ein Major aus Weiden (38), ein Hauptfeldwebel aus Ingolstadt (32) und ein Stabsunteroffizier aus Ingolstadt (24).

Die fünf Verletzten, darunter ein Oberstleutnant von der Offiziersschule des Heeres, sollen mit der Maschine des Bundesverteidigungsministers nach Deutschland gebracht werden. Ihn sah der Fernsehzuschauer im grauen Rollkragenpulli und heller Sommerhose. Noch führt er wohl keinen schwarzen Anzug dauerhaft im Reisegepäck mit sich. Er sagte: „Es scheint sich um einen tragischen Fall zu handeln.“

Die Zahl der toten deutschen Soldaten in Afghanistan erhöht sich damit auf 43 Tote. Die Reporterin Sabine Rau schloss ihren Beitrag mit den Worten „Der Krieg ist noch nicht vorbei.“

Die „Große Geburtstags-Show“ für 60 Jahre ARD am 15. April 2010 verschob sich wegen des „Brennpunkts“ um zehn Minuten. Reinhold Beckmann, Günther Jauch, Thomas Gottschalk, Florian Silbereisen, Frank Elstner, Barbara Schöneberger, Boris Becker, Joachim Fuchsberger, Iris Berben, Karl Moik, Anne Will, Karl Dall, Fritz Wepper, Kurt Krömer, Tim Mälzer, Paola und Kurt Felix, Friedrich Nowottny, Simone Thomalla, Ulrich Wickert, Tom Buhrow, Jens Riewa, Dieter Hallervorden, Jan Fedder und viele andere waren augenscheinlich (sehr) guter Dinge bei der „Show der 100.000 Höhepunkte“. Einige Familien in Ulm, Weiden und Ingolstadt werden sie nicht gesehen haben.

Mazar-i-Sharif und Berlin (Text vom 19. April 2010)

Die Medienmacher können einem leidtun, dieser Tage. Was ist nun das gültige Aufmacher-Thema: Afghanistan – Missbrauch – Vulkanwolke? Der „Spiegel“ löst es auf seine Weise: Titelbild „IM KRIEG. Deutsche Soldaten über das Töten und Sterben in Afghanistan.“, quer darüber der Balken: „Islands unheimliche Vulkane“.

Die Kirchen und Erziehungseinrichtungen dürften ein wenig erleichtert sein über diesen aktuellen Themenstreit in vielen Redaktionen. Die Aschewolken überdecken allmählich alle anderen Themen, selbst den Krieg im fernen Afghanistan. Die „Spiegel“-Frage „Warum sterben Kameraden?“ kann allein die Politikerkaste beantworten, und drei ihrer Vertreter saßen am Sonntagabend (18. April 2010) im ARD-Fernsehstudio bei Anne Will. Ihre Anmoderation brachte es auf den Punkt: „Sieben tote deutsche Soldaten innerhalb von nur knapp zwei Wochen. Dieser Einsatz wird immer gefährlicher. Ist er überhaupt noch zu verantworten?“

Diese entscheidende Frage beantwortete der Bundesentwicklungsminister („und Reserveoffizier“) Dirk Niebel mit Ja, der Fraktionschef der „Linken“ Gregor Gysi mit Nein, die Außenpolitikerin Kerstin Müller von den „Grünen“ mit Ja, der „Unterstützer zahlreicher dortiger Hilfsprojekte“ Roger Willemsen mit Nein, der „Professor für Neuere Geschichte an der Bundesuniversität (!) in München“ Michael Wolffsohn mit Ja. Die Vorstellungsrunde hätte gereicht, jeder wiederholte während der insgesamt 59 Minuten und 28 Sekunden seine ins Studio mitgebrachte und vorher bereits medial bekannte Meinung, ein Austausch fand nicht statt, man wurde zwischendurch persönlich. In Erinnerung wird mir bleiben, dass Roger Willemsen sagte, dass ihm „die mantra-artige Wiederholung“ des Arguments, dass unsere Freiheit in Afghanistan verteidigt werde, „fast dadaistisch“ vorkomme. Die Gesichter seiner Mitdiskutanten blieben steinern: ob sie mit „dadaistisch“ überhaupt etwas anfangen konnten?

Jedenfalls brachte auch diese Runde keine sonderliche Vermehrung der Kenntnisse des Zuschauers. Auch die unmittelbar anschließende Nachrichtensendung in der ARD begann mit den Aschewolken und den gestrandeten Flugpassagieren. 70 Prozent der (befragten) Deutschen sind gegen den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, die Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages ist dafür, die Kanzlerin „bleibt eisern“, sagte Anne Will. Es wird noch lange weitergestorben und -gefallen werden.

Am Donnerstag (22. April 2010) wird die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung in Sachen Afghanistan-Einsatz abgeben, sie wolle noch einmal begründen, warum Deutschland mit dem vom Bundestag beschlossenen Mandat die Verpflichtungen für und in Afghanistan „auf eine sehr gute Weise“ erfülle, so Vize-Regierungssprecher Steegmans.

Für Freitag (23. April 2010) ist die Trauerfeier für die zuletzt Gefallenen angesetzt, der Bundesverteidigungsminister hat seine Teilnahme angekündigt. Bis dahin werden die vier Särge wohl den Behinderungen durch die isländische Aschewolke entkommen und in Deutschland eingetroffen sein. Wegen des geschlossenen Luftraums konnten sie bislang nicht vom Stützpunkt Termes in Usbekistan nach Deutschland geflogen werden.

Bei der Trauerfeier in Mazar-i-Sharif wurden auf die mit Deutschlandfahnen und Helmen bedeckten Särge die posthum verliehenen „Einsatzmedaillen“ gelegt: für den Major in Silber (mehr als 180 Tage Einsatz), für die restlichen drei Gefallenen in Bronze (länger als 30 Tage Einsatz). Generalinspekteur Wieker sagte, dass die Tapferkeit der Gefallenen außer Frage stehe – wer hatte sie in Frage gestellt? – und dass er „froh und auch ein wenig stolz“ sei, „zu ihnen zu gehören“. Es scheint allmählich Konjunktur zu bekommen, das Wort „Stolz“, auch der Bundesverteidigungsminister sprach in Selsingen davon. Eine seiner kleinen Töchter habe ihn gefragt, ob die drei Gefallenen „tapfere Helden unseres Landes“ gewesen seien, und ob sie „stolz“ auf sie sein dürfe. Und er habe auf diese beiden Fragen „nicht politisch“, sondern „einfach mit Ja“ geantwortet. – Zu Guttenbergs Töchter sind acht und neun Jahre alt: Fragen Kinder in diesem Alter so etwas wirklich?

Manche in unserem Land sind also wieder stolz auf tapfere Helden. Meine Mutter hatte in der Todesanzeige drucken lassen: „In stolzer Trauer“. Das Echo der Vergangenheit hallt immer lauter.

Kunduz und Karlsruhe (Text vom 20. April 2010)

„Bundeswehr feiert Oberst Kleins Entlastung“ überschreibt „Spiegel Online“ die einschlägige Meldung von Ulrike Demmer aus dem usbekischen Termez über die Entscheidung der Generalbundesanwaltschaft, die Ermittlungen gegen Oberst Klein wegen Vergehen gegen das Völkerstrafgesetzbuch einzustellen. Auch die Regierung „atme auf“ und für „Guttenberg und Co.“ sähe es nun im Kunduz-Untersuchungsausschuss auch viel besser aus.

„Super“, lobt ein Unteroffizier, „jetzt haben wir endlich wieder Handlungssicherheit, und damit steht und fällt hier alles“. Das „Oberst-Klein-Syndrom“, die Angst vor einer Fehlentscheidung, habe den Soldaten in Afghanistan oft im Weg gestanden, sagen sie. Die Soldaten dürften nun Dinge tun, die im Frieden untersagt wären. Die Hürden für die Strafbarkeit seien deutlich angehoben. „Ich freue mich, dass die Bundesanwaltschaft die Einschätzung der Bundesregierung teilt und den Einsatz in Afghanistan für einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt hält“, sagt Generalinspekteur Volker Wieker dem „Spiegel“, der wegen der Aschewolke ebenfalls noch im usbekischen Termez festsitzt und auf die Möglichkeit wartet, mit den vier am vergangenen Donnerstag gefallenen Soldaten nach Deutschland zurückzukehren.

Ich hinwiederum warte auf die Regierungserklärung und die Trauerfeier, dann wird dieser Text abgeschickt.

Hindukusch und Berlin (Text vom 23. April 2010)

Ich hatte, ganz ehrlich gesagt, Peter Struck (SPD) schon vollkommen vergessen – selbst die Tatsache, dass er es gewesen war, der als Bundesminister der Verteidigung am 4. Dezember 2002 am Beispiel des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr geoffenbart hatte: „Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.“

Es war Struck gewesen, der der Bundeswehr im Mai 2003 die neuen „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ (VPR) beschert hatte und der politisch dafür verantwortlich ist, dass am Ende seiner Amtszeit im Jahr 2004 in großem Umfang brisante Daten zu Auslandseinsätzen aus der Zeit der SPD-Regierung der Jahre 1999 bis 2003 gelöscht wurden, – „ein Versehen“, wie aus dem damaligen Kanzleramt vermeldet wurde.

Es war nicht ungeschickt von der Frau Bundeskanzlerin, diesen legendären Struck‘schen Satz zu zitieren und zu betonen, dass niemand die Lage „treffender und klarer“ beschrieben habe als er. Und ebenso geschickt war es, den Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) gleich zu Eingang in ihrer Regierungserklärung zum Afghanistan-Einsatz zu zitieren: „Ihr habt das große Glück, einer heute friedfertigen Nation zu dienen. Ihr könnt euch darauf verlassen, dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.“ Genauso sei es, sagte die Kanzlerin in die Runde des Parlaments. Weder zum hervorgehobenen Zitat eines ehemaligen SPD-Ministers noch eines ehemaligen SPD-Kanzlers aus dem Mund einer CDU-Kanzlerin brauste Beifall bei den Genossen auf, ganz im Gegenteil, regungslos saßen sie da.

Deutschland muss also den „Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort begegnen, wo sie entstehen“, sagte die Kanzlerin, und darum sei dieser Einsatz „alternativlos“.

Da ist sie wieder, die gute alte „Tina“, die uns begegnet, wohin wir schauen. „There Is No Alternative“ wird uns über Vieles gesagt, ob es nun unser Wirtschaftssystem des „modernen, rationalen Betriebskapitalismus“ – Max Weber, dessen 146. Geburtstag diese Woche auf den Dienstag fiel – ist, oder der „nicht-nationale bewaffnete Konflikt“ in Afghanistan. „Mit Bestürzung“ berichtete Parlamentspräsident Norbert Lammert den versammelten Abgeordneten von 43 „Gefallenen“ und verknüpfte seine Eröffnung mit einem sehr persönlichen Statement, mit dem er den Auftrag der Bundeswehr in Afghanistan vehement verteidigte.

Als ich die Live-Übertragung ab 9 Uhr auf „Phoenix“ verfolgte, wunderte ich mich darüber. Darf ein Parlamentspräsident das? Der Bundestag „verneigt sich“ vor den Toten, sagte er. Das sah der Fernsehzuschauer nicht so recht, die meisten lasen Zeitung, telefonierten, plauderten mit ihren Nachbarn, während sich die Debattenredner ablösten. Was mag es bedeutet haben, dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger im roten Kostüm und Herr zu Guttenberg im hellgrauen Anzug neben all den schwarzen Anzügen saßen? „Mut“ forderte die Kanzlerin von den Abgeordneten, „Mut zum Bekenntnis dessen, was beschlossen wurde!“ Als sie Struck zitierte, hörte man höhnisches Gelächter, die Kamera zeigte nicht, woher es kam.

Man müsste dem Kollegen Ulrich Oevermann und seiner „Objektiven Hermeneutik“ diese Reden zur Analyse geben: Die durchgehende Beschwörung, dass es unsere Sicherheit sei, die in Kunduz und anderswo in Afghanistan tapfer und mutig verteidigt werde, markierte zu durchsichtig, wo der Pferdefuß der ganzen Rhetorik liegt. Es geht also nicht mehr um das Bauen von Brunnen, nicht um die Mädchen in den Schulen und den Straßenbau, es geht schon lange nicht mehr um das Technische Hilfswerk in Uniformen, es geht um die soldatische Verteidigung unserer Sicherheit und Freiheit. Die „Übergabe in Verantwortung“ an das afghanische Volk dient allein unseren Interessen. Deswegen müssen wir zu den deutschen Soldaten „stehen“, deswegen müssen wir von ihnen „Abschied nehmen“.

Es tut mir leid, ich folge dieser Logik nicht. Der ISAF-Kommandeur, der amerikanische Heeresgeneral Stanley McCrystal besuchte am Tag zuvor die führenden deutschen Militärs und den Minister. Die Meldung, dass er „ein dramatisches, aber nicht hoffnungsloses Bild der Lage in Afghanistan“ gezeichnet habe, und dass es nun auf eine „konsequente und effiziente Bekämpfung der Aufständischen“ ankomme – eine counter insurgency – beunruhigt mich eher, was die Sicherheit und Freiheit unseres Landes angeht. War es denn schon bisher in unserem Sicherheitsinteresse, dass Mädchen dort in die Schule gehen dürfen?

Ingolstadt (Text vom 26. April 2010)

Ich konnte die Trauerfeier für die vier Gefallenen im Münster zu Ingolstadt am Samstag nicht unmittelbar verfolgen. Am Sonntag versuchte ich mir – für diese Glosse – ein Bild davon zu machen. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ brachte – im Kasten „Meldungen“ – nur die knappe Agenturmeldung von dpa und ddp. „BILD am Sonntag“ unter der Überschrift „Deutschland trauert mit den jungen Soldatenwitwen“ druckte drei Fotos auf der ersten Seite und „Alles über die Trauerfeier“ auf den Seiten vier und fünf. Michael Backhaus, stellvertretender Chefredakteur, nimmt das bereits bekannte Leitmotiv auf, auf das man sich nun anscheinend seit der Rede der Bundeskanzlerin einstellen muss, die Gefallenen gaben ihre Leben „für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger“, das sei „das radikal Neue am Soldatsein in Deutschland“.

Das mag für einen 53-jährigen Journalisten und ehemaligen Chefredakteur der „Passauer Neuen Presse“ neu sein, sogar „radikal neu“, für mich ist es das nicht. Die großformatige „Reportage“ des Michel Friedman, unter der Balkenüberschrift „Die Kanzlerin sieht den Witwen in die Augen“ kann man nur noch pathetisch nennen, hart an der Grenze zur kitschigen Parodie: „Totenstille. Sie ist greifbar in dieser Kirche in Ingolstadt, die Hilflosigkeit der Menschen. […] Totenstille. Und da hört man es plötzlich, das Weinen und Wehleiden der Eltern, der Geschwister, der Freunde. Diese Tränen sagen mehr aus als 1.000 Worte.“

Schon der knappe Auszug aus der Ingolstädter Rede des Verteidigungsministers erschien mir wie das verblüffende Echo auf meine eigenen Nach-Denklichkeiten. Er sagte: „Ich bin Teil einer Generation, die den Satz ‚Mein Vater ist im Krieg gefallen‘ dankbar und glücklich nicht mehr aussprechen musste. Nun gibt es unter völlig anderen Vorzeichen seit einigen Jahren wieder Gefallene und Verwundete. Auch Kriege, gewiss gänzlich anderer Dimension. Und es gibt Kinder, die sich nicht mehr an das Bild, die Augen, die Umarmung ihres Vaters erinnern können und vielleicht nicht einmal kannten oder kennenlernen sollten. Dies zu beschreiben ist nicht Pathos, sondern erkannte Realität und Notwendigkeit. Wie sonst sollte man jene stützen, die uns anvertraut sind und die des Haltes einer dankbaren Gesellschaft bedürfen.“

Und dann bat er die Trauernden vor sich „um Verzeihung“. Das Foto über dem Text zeigt ihn mit geschlossenen Augen, wie im Gebet. Spricht er tatsächlich für eine „dankbare Gesellschaft“? Sollen, können „wir“ „dankbar“ sein, dem Oberstabsarzt Dr. Thomas Broer aus Wiesbaden, dem Major Jörn Radloff aus Sachsen-Anhalt, dem Hauptfeldwebel Marius Dubnicki aus Oberschlesien, dem Stabsunteroffizier Josef Kronawitter aus Passau? „Dankbar“ – wofür? Was maßt sich der Herr Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) an, eine Hinterbliebene tröstend in den Arm zu nehmen? Wer tröstet hier wen, wer sucht hier Halt bei wem? Starben diese vier Männer wirklich, um „unsere Freiheit, das Leben unserer geborenen wie ungeborenen Kinder, unserer Familien zu schützen“, wie der 38-jährige zu Guttenberg formulierte? Ich zähle mich zu jenen, die er ganz direkt ansprach: “Es mögen im 21. Jahrhundert immer noch viele nicht hören, aber es stimmt: Dass in Afghanistan für unser Land, für dessen Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und gestorben wird.“

Nachbemerkung

Ich unterliege der Wehrüberwachung. Ich habe am 15. September 1977 das Leistungsabzeichen im Truppendienst in Silber verliehen bekommen. Ich wurde am 8. August 1980 zum Oberleutnant der Reserve befördert. Auch ich habe ein Gelöbnis nach § 9 des Soldatengesetzes abgelegt: „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“

In den Jahren 1973 bis 1980 sagte man uns nicht, dass das heißen würde, von einer Explosion in der nordafghanischen Provinz Baghlan zerfetzt zu werden. Damals nahmen wir den Artikel 87a des Grundgesetzes wörtlich: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. […] Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“

Seit dem Satz des Peter Struck scheint das nicht mehr zu gelten. Die „vaterlose Gesellschaft“(Alexander Mitscherlich) im „Land ohne Väter“ (Manfred Görtemaker) ist für einige deutsche Kinder zurückgekommen.