Wenn die Eltern nicht erwachsen werden wollen

Björn Kerns Protagonist hadert mit dem erotischen Talent seines Vaters

Von Philipp HammermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Hammermeister

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie so viele Vater-Sohn-Beziehungen ist auch diese hier irgendwann schwierig geworden. Das einst kumpel- und komplizenhafte Verhältnis aus Kinderzeiten ächzt dann, wenn der Sohn die 20 überschritten hat, unter gegenseitigen Vorhaltungen. Es geht um Selbstbetrug und Verantwortungslosigkeit, zu viel Alkohol, zu viele Drogen und vor allem: zu viele Frauen. Neu bei Björn Kern ist allerdings die ironische Verkehrung dieses vertrauten Generationenkonfliktes, denn hier ist es der Sohn, der sich um den unsteten Lebenswandel seines Vaters sorgen muss.

Philip reist jedes Jahr für genau ein langes Wochenende aus Berlin an den Bodensee, um seinen Vater Jakob zu besuchen. Dort lebt der Alt-68er und ehemalige Ökoberater in einer langsam verfallenden Villa, die als einzige noch vom ehemals glücklichen Familienleben zeugt. Iris, die Mutter, hat das gemeinsame Haus vor einigen Jahren verlassen, um sich mit ihrer Kunst und wechselnden Liebhabern noch einmal neu zu erfinden – ohne Erfolg. Anders als Jakob vermutet, vergnügt sie sich nicht mit irgendeinem Kunstklempner zwischen Hamburg und Istanbul, sondern wartet ernüchtert und reumütig in Berlin auf den Bericht des Sohnes vom Liebesleben seines Vaters.

Als Betreuer in einem Heim für psychisch Kranke ist Philip zwar bizarres Verhalten gewöhnt, doch der wenig altersgemäße Lebenswandel seines Vaters stellt auch ihn vor Rätsel. Bei dem Versuch, sich mit der ihm durch den Auszug seiner Frau unfreiwillig ereilten Freiheit zu arrangieren, hat Jakob, der frühere Verfechter gesellschaftlichen Engagements, die Vorzüge eines selbstbezogenen und genussorientierten Singledaseins entdeckt: „Nach vier kämpferischen Jahrzehnten erlaube er sich nun, das Wir durch das Ich zu ersetzen, bevor es das Ich nicht mehr gebe, er habe für ökologische Nachhaltigkeit gekämpft und für soziale Verträglichkeit, jetzt aber kämpfe er nachhaltig für sich selbst“ – und das mit erstaunlichem Erfolg: der vor Lebendigkeit strotzende Mittsechziger kann sich vor Frauen kaum noch retten.

Björn Kern inszeniert seinen Roman als Kammerspiel. Ein einziges Wochenende auf engstem Raum genügt ihm, um seine Figuren samt ihrer so verschiedenen Lebensentwürfe miteinander zu konfrontieren. Die Rollen sind hierbei allerdings grundlegend vertauscht, denn während der Sohn sich zum Bewahrer bürgerlicher Werte wie Familie, Treue und Verantwortung aufschwingt, treibt sein launischer Vater ein spätpubertär anmutendes, widersprüchliches Spiel mit seinem Umfeld. Mal feiert er mit Karen und Alma und genießt ihre Zuneigung, mal setzt er die beiden Frauen ansatzlos vor die Tür und verweigert jeden Kontakt. Ihre Aufdringlichkeit wird ihm schnell zu viel, doch ohne sie kann er auch nicht. Er beklagt das dauernde Interesse an seiner Person und inszeniert sich als Lebemann doch gerade für die Öffentlichkeit. Er widersetzt sich mit allen legalen und illegalen Mitteln dem Alterungsprozess, doch es stört ihn, wenn die Frauen ihn attraktiv finden.

Der vordergründig heitere Tonfall der Erzählung kann und soll über ihre melancholische Grundstimmung nicht hinwegtäuschen. Im Gegenteil sogar. Kerns Figuren schwanken stets auf einem schmalen Grat zwischen Komik und Tragik und es ist seine große Stärke, die Geschichte dauerhaft in dieser fragilen Schwebe zu halten. Seine Sprache ist mal lakonisch, mal bildhaft und sinnlich. Vor allem aber ist sie ungemein präzise und klar. Auch bei der Entwicklung seiner Charaktere und Handlungsstränge zeigt er einen außergewöhnlichen Blick fürs Detail und fürs Subtile. Mit Philip hat er einen ebenso sensiblen Beobachter geschaffen, der an der Widersprüchlichkeit seines Vaters leidet, ihn gleichzeitig aber auch für seine sorglose Unverschämtheit beneidet. Und es ist sein genauer Blick fürs eigentlich Nebensächliche, der dem Leser allmählich die tatsächlichen Verhältnisse in diesem Beziehungstheater entlarvt. Warum hat der Vater noch immer die doch eigentlich verhasste Kunstzeitschrift der Mutter abonniert? Warum macht er mehr Sport denn je, wenn ihn der Erfolg seines jugendlichen Aussehens bei den Frauen so stört? Warum lässt er zwar das Haus verfallen, kümmert sich aber hingebungsvoll um den Erhalt der vielen Metalltiere, die seine Frau ihm hinterlassen hat?

So geht es am Ende des Wochenendes fast ein wenig rührend zu, wenn Kern das Verhältnis der Generationen wieder gerade rückt. Bei einem letzten Ausflug in die Berge zeigt sich Jakob endlich mal nicht launisch und draufgängerisch, sondern empfindlich und verletzlich. Erst jetzt, in diesem Moment der Schwäche, wo ihn Kurzatmigkeit und Höhenangst plagen, wo er seinem Sohn nicht folgen und sein Alter nicht länger verbergen kann, da gesteht er Philip und wohl auch sich selbst ein, dass seine gespielte Jungenhaftigkeit eine einzige Inszenierung für den unwahrscheinlichen Fall ist, dass seine Iris doch noch einmal zu ihm zurückkommt.

Kern präsentiert in „Das erotische Talent meines Vaters“ einen kurzweiligen Generationenroman mit verkehrten Vorzeichen – und noch viel mehr. Es geht um die Fragen, ob sich normales und unnormales Verhalten wirklich voneinander unterscheiden lassen und wie weit man sich von seinen Idealen entfernen kann, ohne sich und seine Beziehungen zu gefährden. Und nicht zuletzt geht es auch um eine Ehe, die beendet scheint, es aber vielleicht doch noch nicht ist. Mehr kann man von 190 Seiten wirklich nicht erwarten.

Titelbild

Björn Kern: Das erotische Talent meines Vaters. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2010.
190 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406598371

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