Der verschollene Lachartist

Zwanzig Jahre Primäres von und Sekundäres über Hermann Burger

Von Franz LoquaiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Loquai

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwanzig Jahre nach Hermann Burgers wohl unausweichlichem Freitod erschien aus dem Nachlass in einer feinen, kleinen Edition die in den letzten Lebensmonaten entstandene Erzählung „Der Lachartist“. In dieser erscheinen Burgers Verzweiflungsartistik und Verbalvirtuosität noch einmal von outre-tombe zu schwebendem Gleichklang verdichtet. Die Grundkonstellation der Erzählung ist Burger-Lesern vertraut: Ein „Verschollenheitsinspektor“ berichtet zunächst über den Lachphilosophen Riderius Gelan (kontaminiert aus Angel, Galen und Celan?), bevor sich dieser selbst zu Wort meldet und eine fulminante Suada über seine Leiden an „multipler Matrose“ abliefert, bis er sich schließlich, was der Zweck des ganzen Wortzaubers ist, selbst in die Verschollenheit eskamotiert oder, mit einem Burgerschen Kern: bis er die „Eigendisparition“ furiosfinal vorexerziert hat.

Der Kenner fühlt sich da natürlich an „Die künstliche Mutter“ erinnert und insbesondere an den Erstlingsroman Schilten, der endlich wieder in einer Neuausgabe vorliegt, in der von Peter von Matt betreuten Reihe „Kollektion“ bei Nagel & Kimche. Leider handelt es sich nicht um eine kritisch kommentierte Ausgabe, sondern um einen Nachdruck der Erstausgabe von 1976, immerhin aber um ein Nachwort von Thomas Strässle erweitert, der die wichtigsten Themenkomplexe und Textstrategien auf rund zwanzig Seiten skizziert. Zu Recht betont Strässle für diesen Roman die „Geburt des Stoffes aus dem Abergeist des Schauplatzes“ und verweist dabei auf die sehr ähnlichen Konstellationen in Otto F. Walters „Herr Tourel“ (1962) und in E. Y. Meyers „In Trubschachen“ (1973), die sich ebenfalls zu einem sehr bewusst lokalisierten Regionalismus bekannten – ganz in Gegenposition zu Paul Nizons Forderung (in dem Essay „Diskurs in der Engevon 1970) nach einem welthaltigeren Kosmopolitismus. Wie welthaltig aber gerade die genannten Romane über diverse Schweizer Jammertäler tatsächlich sind, davon kann sich jeder Leser ein Bild verschaffen, etwa bei einer erneuten Lektüre von Schilten, dessen nur scheinbare „Verkopftheit“ mit den raffinierten spiraligen Verdrehungen vom Realen über „das Irreale und Surreale zum Hyperrealen“ (Strässle) nichts Geringeres als einen eigenen Kosmos generiert: eine Weltabdankung gerade aus der provinziellen Einsargungsenge heraus. Man kann Strässles Charakteristik des Romans nur zustimmen: „Schilten“ ist der „monströse Monolog eines auf Aberwissen spezialisierten Polyhistors“.

Auch in der Burger-Forschung hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten einiges getan. Der von Markus Bundi und Klaus Isele besorgte, liebevoll ausgestattete Erinnerungsband „Salü, Hermann“ bildet gleichsam die Vermittlungsstelle zwischen Primärem und Sekundärem, weil hier Künstlerkollegen und Freunde Burgers zu Wort kommen. Im Vergleich zur Erstausgabe (1991) erreicht der Band den doppelten Umfang, mit neuen Beiträgen von Autorinnen und Autoren wie Christian Haller, Zsuzsanna Gahse, Urs Bugmann, Markus Bundi, Ernst Halter, Michael Mettler, Iso Camartin oder Peter Weber, die allesamt – auch für Germanisten professioneller Provenienz – in höchstem Maße lesenswert sind. Mettler zum Beispiel begreift „Schilten“ als „monologische Vendetta“; Halter zeigt, wie Burger sich zuletzt mit Kopf und Kragen als „Ausbeutungsobjekt einer Literaturproduktionsmaschine“ verkauft hat; von Weber erfährt man, wie sich Burger beim Rapperswiler Großmeister und Orgelbauer Gerold Späth gegen ein Stumpenhonorar in Sachen Harmonium kundig gemacht hat – und Weber schlägt zuletzt auch ein Wort vor, mit dem sich der „Burgersound“ charakterisieren ließe: „brausend“. Stimmt, so klingt er.

Die ersten Monografien zu Hermann Burger waren stark biografisch orientiert. Claudia Storz konzentrierte sich in „Burgers Kindheiten“ (1996) auf biografische Entschlüsselungen, ähnlich wie zuvor schon Monika Großpietsch in „Zwischen Arena und Totenacker“ (1994), die Burgers Werk zwar akribisch, aber doch ein wenig aus der Schüssellochperspektive als chiffrierte Krankengeschichte auslegte. Mit Marie-Luise Wünsches Studie „BriefCollagen und Dekonstruktionen“ (2000) lag dann eine Untersuchung zu den artistischen Schreibtechniken Burgers vor, die erstmals poetologische und produktionsästhetische Verfahren im Burgerschen Erzählen erschloß und dafür mit der tabakistischen Bezeichnung „Grus“ (Gebrösel, Abfallkrümel) eine im Sinne dekonstruktivistischer Lektüre vorläufig gültige Formel für die zigarristische Prosa fand.

Hier setzt thematisch wie methodisch Erika Hammers Dissertation „Das Schweigen zum Klingen bringen“ (2007) an, die völlig zu Recht biografistische Deutungen außen vor lässt, und sich vielmehr auf die Poetologie Burgers, speziell in Schilten, konzentriert. Sie eröffnet sich somit die Möglichkeit, die Konstruktionsprinzipien und die selbstreflexiven Fundamente von Burgers Texten systematisch zu erschließen. So wird Burger im Kontext des vor allem in der österreichischen Literatur virulenten Bewusstseins der Sprachkrise angesiedelt. Insofern ließe sich in Erweiterung von Hammers Deutung behaupten, dass Hermann Burger wohl der „österreichischste“ Autor in der Schweizer Gegenwartsliteratur ist (man denke auch an seine Beziehung zu Thomas Bernhard und lese dazu seinen beredt-schweigsamen Bericht in „Ein Mann aus Wörtern“). Burgers Prosa gilt einer Entmystifizierung des mimetischen Sprachgebrauchs, laviert zwischen Sprachskepsis und Sprachmagie, verdankt sich somit einer Poetik des Verhüllens wie des Offenbarens und erreicht mit den Mitteln der Ironie und der Paradoxie eine ebenso hochartistische wie eminent metanarrative Qualität, für die das permanente Oszillieren zwischen Schweigen und Klingen charakteristisch ist. Während sich die biografischen Deutungen mit dem Hinweis auf Burgers Zauberleidenschaft begnügen, zeigt Hammer, wie sich das Spielerische und das Metanarrative, das Visuelle und das Akustische, das sprachkritische wie das sprachverliebte Experimentieren mit Ausdrucksmöglichkeiten zu dem unverwechselbaren Burgerschen Parlando verbinden. Hierin liegt die Funktion all der für Burger typischen Metaphern, Etymologien, Neologismen, Komposita, Idiome, Archaismen, Phrasen, Dialekte, Fachsprachen und Kunstsprachen sowie Formen des uneigentlichen Redens, die allesamt, in potenzierter Anwendung, Wirklichkeit und Fantasie bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschwimmen lassen. Am eindrücklichsten geschieht das wohl in den vollkommen erfundenen konjunktivierten Substantiva – als Sprachspiele getarnte sprachskeptische Fallen.

Burgers Texte reagieren auf die Dissoziation des Subjekts und die Krise des Erzählens, indem die Aporien des Erzählens ins Zentrum des Erzählens selbst gerückt werden. In „Schilten“ spielen somit die traditionellen Sinnmuster des Romans nur noch ex negativo eine Rolle, nämlich im Rahmen eines metanarrativen Intertextualitäts-Konzeptes. Dass der „Schilten“-Roman am Ende, bezogen auf die Erzählergestalt, sich in den Metaphern des Scheintodes und des Wahnsinns auflöst, ist nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite ist die Möglichkeit der unendlichen Perpetuierung bis hin zum Rezeptionsvorgang – womit Zeit und Raum als Ordnungsschemata ebenfalls ausgehebelt sind. Aus dieser Perspektive erschließen sich die labyrinthischen und ornamentalen Erzählstrukturen bei Burger. Digression und Redundanz, Fragment und Arabeske sowie der mancherorts monierte Eklektizismus Burgers erhalten so ihre poetologische Berechtigung. Die Ausdrucksmodi Burgers formen den Erzähltext zur Partitur, die immer wieder neu gespielt werden und über Text, Autor sowie dessen Tod hinaus in ein unendliches Rezipieren als ‚Re-Zitieren‘ überführt werden kann. Die Rezeption wird damit Teil eines infiniten circensischen Rituals.

Dass Hermann Burger im zigarristischen Zuge solcher unabschließbaren Lese- und Dechiffrierrituale Sprache über den Tod hinaus gefunden hat (gemäß seiner Definition des Schriftstellers), bedarf keines Beweises mehr. Dafür aber sollte endlich eine Gesamtausgabe seiner Werke (inklusive seiner in Archiven eingeschläferten Feuilletons im Weiland „Aargauer Tagblatt“) vorgelegt werden. Was die Österreicher für Thomas Bernhard erreichen können, müsste doch auch in der Schweiz für Burger möglich sein. Notfalls könnte man dies ja mit verschollenen deutschen Steuermillionen finanzieren.

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Monika Großpietsch: Zwischen Arena und Totenacker. Kunst und Selbstverlust im Leben und Werk Hermann Burgers.
Königshausen & Neumann, Würzburg 1994.
325 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-10: 3884798790
ISBN-13: 9783884798799

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Claudia Storz: Burgers Kindheiten. Eine Annäherung an Hermann Burger.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 1996.
384 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3312002168
ISBN-13: 9783312002160

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Marie-Luise Wünsche: BriefCollagen und Dekonstruktionen. "Grus" - Das artistische Schreibverfahren Hermann Burgers.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
490 Seiten, 50,00 EUR.
ISBN-10: 3895282669
ISBN-13: 9783895282669

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Erika Hammer: "Das Schweigen zum Klingen bringen". Sprachkrise und poetologische Reflexionen bei Hermann Burger.
Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2007.
296 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783830030430

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Hermann Burger: Der Lachartist.
Aus dem Nachlass herausgegeben von Magnus Wieland und Simon Zumsteg.
Springer Verlag Berlin, Wien 2009.
41 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783211959831

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Markus Bundi / Klaus Isele (Hg.): Salü, Hermann. In memoriam Hermann Burger.
Edition Klaus Isele, Eggingen 2009.
130 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783861424598

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Hermann Burger: Schilten. Schulbericht zuhanden der Inspektorenkonferenz. Roman.
Mit einem Nachwort von Thomas Strässle.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2009.
410 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004263

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