Durch die Schlafzimmer Europas

Johannes Willms Biografie über den Schöpfer der „Karthause von Parma“ ist solide, aber kein Standardwerk

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was den aus Grenoble stammenden Verwaltungsbeamten in der Armee Napoleons, Henri Beyle, dazu brachte, sich später als Dichter nach einer verschlafenen Provinzstadt im Altmärkischen „Stendhal“ zu nennen, vermag auch sein neuester Biograf, Johannes Willms, nicht schlüssig zu beantworten. Vermutlich war der Anlass eine jener unzähligen und nicht immer erfolgreichen Affären, mit denen der 1783 geborene Franzose, glaubt man seinen Tagebuchaufzeichnungen, den größten Teil seiner Zeit zubrachte, während die Soldaten der Grande Armee durch Europa marschierten und Napoleons Adler bis nach Moskau trugen. Erst der Zusammenbruch der Herrschaft des Korsen scheint bei dem haltlosen und promiskuitiven jungen Mann, der später an Syphilis im Alter von nur 59 Jahren verstarb, ein Umdenken bewirkt zu haben.

Der Verfasser, Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung in Paris und als Biograf Napoleons wie auch Honore de Balzacs ein ausgewiesener Kenner der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, folgt in seiner neuesten Lebensbeschreibung für manchen Geschmack gewiss zu akribisch den amourösen Spuren seines Protagonisten. Nur allzu häufig erlag er dabei offenbar den Versuchungen, das sehr detaillierte und zuweilen in deftiger Sprache ausgeführte Tagebuch aus der Feder Stendhals als Primärquelle heranzuziehen. Da sich Gegenpositionen zu dessen unverblümten Selbstbeschreibungen erst für sein späteres Leben finden und Willms auch nicht den Versuch unternommen hat, für die Frühzeit aus anderen Quellen ein Gegenbild zu entwerfen, wirken seine Beschreibungen letztlich linear und monoton. Es fehlt seiner Biografie vor allem ein breit angelegtes Panorama der Epoche, das als Referenzrahmen seines Lebensbildes hätte dienen können. So folgt der Leser beinahe hilflos dem von seinen romantischen und libidinösen Fantasien umgetriebenen Mann, der schon als Sechsjähriger, glaubt man dessen retrospektiver Darstellung, seiner früh verstorbenen Mutter auf den Busen küssen wollte, von einem Schlafzimmer quer durch Europa in das nächste und findet sich dabei sogar wiederholt mit eindeutigen Begriffen einer Fäkalsprache konfrontiert, die, wenn auch in Anführungszeichen gesetzt, eigentlich nicht in eine seriöse Biografie gehören. Als Leser fragt man sich ohnehin, ob Stendhals bewegtes Liebesleben bei den offenkundig vorliegenden Mängeln seines Erscheinungsbildes, – er neigte zur Fettleibigkeit und litt schon früh unter einer Halbglatze – mehr noch aber wegen seines bedenklichen Charakters, nicht bereits als romanhafte Vorwegnahmen seiner späteren Klassiker gewertet werden muss. Hat dies alles, womit der Verfasser seine Leser zumindest in der ersten Hälfte seiner Biografie zu beschäftigen versucht, tatsächlich auch stattgefunden?

Sympathie für seinen Protagonisten vermag Willms ohnehin nicht zu wecken. Dass Stendhal als Lebemann und angehender Dichter regelmäßig über seine Verhältnisse lebte, stellt gewiss keine Besonderheit dar, wohl aber, dass er seinen im Grunde wohlmeinenden Vater regelmäßig als „Bastard“ diffamierte und auch an anderen seiner Förderer, wie den französischen Kriegsminister Pierre Daru, kein gutes Haar ließ. Seine in den 1820er-Jahren veröffentlichten ersten Werke erwiesen sich bald als plagiathafte Kompilationen und zu Frauen fand er offenbar nie ein normales Verhältnis. Jedenfalls gelang ihm nie der Aufbau einer dauerhaften Beziehung. Stendhal als Familienvater, so der abschließende Kommentar des Autors, „wäre auch eine allzu seltsame Vorstellung.“ Das Außenseitertum dieses von seiner sexuellen Gier Getriebenen gelingt Willms indes sehr gut herauszuarbeiten – ob dazu auch die Erwähnung wirklich jedes Bordellbesuches erforderlich gewesen wäre, ist eine andere Frage. Der Leser bleibt somit nicht von jenem „Ennui“ verschont, der offenbar auch Stendhal Zeit seines Lebens gequält zu haben scheint und ihn von einer leidenschaftlichen Affäre in die nächste taumeln ließ. Erst sein spätes literarisches Schaffen und vielleicht auch das Alter wirkten hier therapeutisch und halbwegs beruhigend. Tatsächlich scheint allein die literarische Sublimation seines außergewöhnlichen Sexualtriebes Stendhal eine Art von Befreiung gebracht zu haben. Was aber das Großartige seiner beiden noch zu Lebzeiten veröffentlichten Romane „Rot und Schwarz“ sowie die in nur sechs Wochen niedergeschriebene „Karthause von Parma“ ausmacht und welche Position beide Hauptwerke in der damaligen Literaturgeschichte einnehmen, teilt Willms seinen Lesern nur in kurzen Andeutungen mit. Gleiches gilt für die politischen Anschauungen seines Protagonisten, der doch gerade wegen seiner frühen italienischen Reisebeschreibungen bei den habsburgischen Behörden der Lombardei als persona non grata galt. Über den Inhalt seiner in Wien offenbar so anstößigen Bemerkungen schweigt sich Willms leider aus.

Es bleibt somit insgesamt der Eindruck einer recht einseitigen auf das Libidinöse beschränkten Lebensbeschreibung, dessen Kernthese von der therapeutischen Wirkung literarischen Schaffens zwar plausibel erscheint, die jedoch insgesamt zu sehr auf die Person Stendhals fixiert ist und seine Epoche und ihre prägenden Besonderheiten fast ausblendet. Die Kenntnis der wichtigsten Werke Stendhals wird dabei vorausgesetzt. Synopsen fehlen fast völlig. Eine einleitende Diskussion des Forschungsstandes und ihrer wichtigsten Tendenzen vermisst man ebenso wie eine Erörterung der posthumen Wirkungsgeschichte seines stendhalschen Œvres. Auf der unerfüllten Wunschliste des Rezensenten stehen auch ein Literaturverzeichnis und ein Bildteil. So bleibt der Eindruck einer etwas zu rasch und zu lieblos gestalteten Publikation, die kaum den Rang eines Standardwerkes beanspruchen kann.

Titelbild

Johannes Willms: Stendhal. Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
330 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234192

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch