Architectura Berliniensis

Der Fotograf Gerrit Engel legt einen Band mit Fotografien zur Geschichte der Berliner Architektur vor

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schaut auf diese Stadt“, forderte der Berliner Bürgermeister Ernst Reuter am 9. September 1948 die Völker der Welt auf, seine Stadt während der kommunistischen Blockadepolitik nicht preis- und die freiheitliche Grundordnung nicht aufzugeben. Der 1965 in Essen geborene Fotograf Gerrit Engel hat diese Aufforderung wörtlich genommen und abermals auf Berlin geschaut: Mit seiner Kamera ist er losgezogen und hat über die Stadt eine historische Landkarte gelegt. Anhand der städtebaulichen Architektur hat er die abwechslungsreiche Geschichte der Stadt ergründet und durchschritten und sie in seinen sachlichen, kühlen, ja fast distanzierten Fotos eingefangen und festgehalten.

Das Konzept hatte Engel bereits einmal erprobt. In seinem Bildband „Manhattan NEW YORK“ ging er bereits nach dem gleichen taxonomischen Prinzip vor. Er fotografierte Manhattans besondere Bauten von Dauer und ordnete Sie chronologisch, angefangen beim Ältesten, der Gegenwart entgegenstrebend. Der langjährige Chefkurator für Architektur am Museum of Modern Art Terence Riley schrieb in seinem Vorwort zum Manhattan-Band, dass Engels „quasiwissenschaftlicher“ Ansatz die Systematisierung der „Spezies architectura manhattaniensis“ möglich gemacht habe.

Dieses Konzept hat Engel nun auf Berlin übertragen. Auf insgesamt 234 Tafeln repräsentiert Engel Bauwerke aus den unterschiedlichen Epochen der turbulenten und abwechslungsreichen Berliner Geschichte, die selbst wiederum Teil der Europäischen Historie und der Weltgeschichte ist. Im Vergleich zum Manhattan-Band war die neue Aufgabe leichter und schwerer zugleich. Leichter war die Aufnahme der Gebäude, denn in Berlin stehen Gebäude weniger gedrängt, oftmals sogar frei im Raum. Das erleichtert ihre herausgehobene Ablichtung. Zugleich reicht die Berliner Geschichte im Vergleich zu der Manhattans aber nicht nur weiter zurück, sondern ist in ihrem Verlauf auch deutlich turbulenter. Die zahlreichen Brüche haben dazu geführt, dass es keinen einheitlichen Berlin-Mythos gibt, auf den man sich annähernd einigen könnte und nach dem eine Auswahl der städtebaulichen und stadtbildenden Bauwerke erfolgen könnte. Manhattan gab diesen Mythos annähernd vor und selbst bei Engels Bildband über Berlin-Marzahn lag die Ikonizität der Trabantenstadtarchitektur auf der Hand. Für den ambitionierten Berlin-Band musste Engel einen zugrunde liegenden Mythos erst selbst schaffen.

Um es vorab zu sagen, es ist ihm gelungen. Engels Parforceritt durch die Berliner Stadtbaugeschichte nimmt seinen Ausgang in der Ansicht des ältesten Bauwerks Berlins, der im 13. Jahrhundert erbauten Nikolaikirche, die inzwischen, von sozialistischen Zweckbauten umrahmt, nahezu verschlungen wird. Die Reise geht weiter über die Marienkirche (14. Jahrhundert) neben dem Berliner Fernsehturm und dem Jagdschloss Grunewald im Südwesten der Stadt (16. Jahrhundert). Es folgen die bedeutendste Barockanlage der Stadt, das Schloss Charlottenburg, und die beiden barocken Erweiterungen der Friedrichstadt, der Deutsche und der Französische Dom am Berliner Gendarmenmarkt (Anfang 18. Jahrhundert).

In der Folge spürt man die steigende politische und gesellschaftliche Relevanz im Zentrum Europas. Die ländliche Garnisonsstadt „am Rande Potsdams“ entwickelt sich langsam selbst zur preußischen Residenz. Das kulturelle und politische Zentrum Europas verschiebt sich zunehmend von Paris über Potsdam nach Berlin. Das wachsende Selbstbewusstsein und die sich steigernde Importanz Berlins lassen sich architektonisch am besten an der entstehenden Parademeile Unter den Linden nachvollziehen, wo nach und nach Prachtbauten wie das Zeughaus, der Kronprinzenpalais und der Prinzessinnenpalais oder die Humboldt-Universität gebaut worden sind. Außerdem entstand das Forum Fridericianum mit Staatsoper, Hedwigs-Kathedrale und der Alten Staatsbibliothek. Den Schlusspunkt der Prachtmeile setzte das 1790 von Carl Gotthard Langhans erbaute Brandenburger Tor.

Allein in der vielfachen und unterschiedlichen symbolischen Verwendung des Brandenburger Tores müsste man ihm eine herausragende Rolle zugestehen, doch Engel geht hier nahezu demokratisch gerecht vor. Jedem Bauwerk ist nur eine Aufnahme gewidmet – schlicht, sachlich und von jeder Symbolik befreit. Auch darin liegt die Stärke dieser Dokumentation Berliner Bauwerke. Sie hebt kaum bekannte Bauten durch die Aufnahme in den Architekturkanon heraus und verankert die bereits berühmten Gemäuer „im Stammbaum der Stadt“, wie der Berliner Architekt Matthias Sauerbruch (unter anderem Museum Brandhorst München, GSW-Hochhaus Berlin) in seinem lesenswerten Vorwort schreibt.

In Berlins weiterem Zentrum setzt sich zumindest architektonisch der Aufstieg Preußens fort, auch wenn der politische Einfluss des preußischen Staates am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts angesichts der napoleonischen Macht über Europa marginal war. Engel führt hier die prächtigen Schinkel-Bauten an, die Berlins Stadtbild bis heute eindrucksvoll prägen, darunter die Neue Wache Unter den Linden, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, die Friedrichwerdersche Kirche, das Alte Museum und die Elisabethkirche. Ähnlich das Stadtbild beeinflusst hat August Friedrich Stüler mit seinen zahlreichen architektonischen Hinterlassenschaften, wie etwa das frisch sanierte und von David Chipperfield wieder aufgebaute Neue Museum, die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße oder die Alte Nationalgalerie. Auf der Zeitleiste nähert sich Engel nach Schinkel und Stüler nun wieder den politisch erfolgreichen Zeiten Berlins an. Die Stadt blüht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, expandiert nicht nur räumlich, sondern auch kulturell, was sich an den zahlreichen Baustilen zeigt, für die die abgelichteten Bauwerke prototypisch stehen. Wir sehen hier alte Bekannte wie den Martin-Gropius-Bau, den Reichstag oder die Oberbaumbrücke, aber auch eher unauffällige Bauten, wie den Wasserturm in der Knaackstraße, das Postfuhramt in der Oranienburger Straße (inzwischen Heimat der erfolgreichen C/O-Galerie) oder die Villa Grisebach in Berlin-Charlottenburg.

Die Ruhe vor dem Sturm, so könnte man die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nennen, in denen das Bodemuseum und der Berliner Dom entstanden sind. Auch die Hackeschen Höfe wurden vor dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs gebaut. Immer stärker tritt auch die Industriearchitektur in den Vordergrund. Beste Beispiele sind die AEG-Apparatefabrik in der Berliner Ackerstraße oder die Turbinenhalle des AEG-Konzerns in Berlin-Moabit.

Nach dem Ersten Weltkrieg tritt vor allem die sozialreformerische Bauweise und mit ihr die Bauhaus-Architektur, geprägt von Schlichtheit und Beschränkung, in den Vordergrund. Architekten wie die Brüder Max & Bruno Taut sowie Erich Mendelsohn (teils zusammen mit dem österreichischen Stararchitekten Richard Neutra) prägten mit ihren kubistischen Bauwerken das Stadtbild. Es ist Gerrit Engel kaum mit Dank zu vergelten, dass er hier auch die zahlreichen bekannten und weniger bekannten Objekte des Neuen Bauens in Berlin erinnert, z.B. die Wohnhäuser in der Schorlemerallee in Dahlem, den Wohnblock in der Ollenhauerstraße oder die sechs Siedlungen der Berliner Moderne, die in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen worden sind. Keiner der großen Bauhausarchitekten hat sich nicht in Berlin verewigt.

Die Zahl der in den 1920er- und 1930er-Jahren entstandenen Bauten ist schier unendlich – und sie nehmen auch einen beachtlichen Teil in Gerrit Engels Kanon der architectua berliniensis ein. Dazwischen sind immer wieder Kleinode, bei deren Entdeckung man ebenso erfreut wie erstaunt ist, dass sie dem Fotografen nicht doch zufällig entgangen sind. Der kleine aber letzte in Berlin ausgeführte Bau Mies van der Rohes, das Wohnhaus Karl Lemke am Oberen See in Berlin-Hohenschönhausen, ist ein solches, ebenso die Universitäts-Frauenklinik von Walter Wolff, die, obwohl zwischen Bode-Museum und Neuer Synagoge prächtig gelegen, von Berlinern und Berlin-Besuchern kaum wahrgenommen wird.

Unerlässlich sind wohl auch die Gebäude, deren Entstehung im „Dritten Reich“ nicht nur ideologisch und propagandistisch begleitet wurde, sondern die selbst auch repräsentative Großmachtsphantasien bestätigen sollten. Das ehemalige Reichsluftfahrtministerium in der Leipziger Straße (heute Finanzministerium), das Olympiastadion, die Messe Berlin und der Flughafen Tempelhof sollen hier nur exemplarisch genannt werden. Der zweite und schwerwiegendere Zivilisationsbruch, der des „Dritten Reiches“, wird nur in der Aufnahme des „hohlen Zahns“ der Gedächtniskirche auf dem Berliner Breitscheidplatz sichtbar.

Die Fatalität des Zweiten Weltkriegs zeigt sich aber an den Aufnahmen der später entstandenen Objekte. Allein ihre Existenz, egal ob auf der Ost- oder der Westseite der Stadt kann wie ein Zeichen der vorhergehenden Zerstörung der städtischen Architektur gelesen werden. Im Westteil stand vor allem die Notwendigkeit der Wohnraumbeschaffung im Vordergrund – die für die 1957 in Berlin abgehaltene internationale Bauausstellung fertig gestellten Objekte von Oscar Niemeyer, Le Corbusier, Walter Gropius und Paul G.R. Baumgarten machen dies auf eindrucksvolle Weise deutlich. Im Ostteil der Stadt prägte vor allem die sinnlose und Wohnraum verschwendende Prunkarchitektur der Stalin-Bauten rund um die jetzige Frankfurter Allee den Raum der Innenstadt. In den 1960er-Jahren aber wurden in die verbleibenden Lücken zunehmend Zweckbauten zur kulturellen Unterhaltung und administrativen Repräsentanz gesetzt. Gerrit Engel vollzieht zwischen den Tafeln 136 und 195 einen Dialog der modernen Großstadtarchitektur in Ost und West, der den Mythos der großen Differenz nahezu bis zur Unkenntlichkeit auflöst. Denn in beiden Stadtteilen hatte der Zweck die Ästhetik besiegt. Übrig blieben nur triste Zeugen der Elementearchitektur in Ost und West.

Was bleibt, ist die Besichtigung der Architektur des wiedervereinigten Berlins. Hier scheinen oftmals die Eigenschaften groß und pompös ausgereicht zu haben, um als Engel’sches Objekt ausgewählt zu werden. Architektonische Kostbarkeiten wie das Photonikzentrum auf dem Humboldt-Campus Adlershof, der Pei-Anbau am Deutschen Historischen Museum oder die niederländische Botschaft von Rem Koolhaas haben hier Seltenheitswert. Stattdessen stehen hier die Konsumtempel, Konzernrepräsentanzen und die Neubauten im Regierungsviertel und am Potsdamer Platz im Vordergrund. Es spricht aber für die geschichtsübergreifende Qualität von Engels Typologie Berliner Bauten, dass er mit dem Galeriehaus Hinter dem Gießhaus des Stararchitekten David Chipperfield ein kleines Objekt an das Ende dieses opulenten Architektur-Typologie-Prachtbands gesetzt hat. Denn um Historisches zu transportieren, braucht es mehr als einfach nur raumgreifende Gebäude. Mögen diese vielleicht die großen Linien halten, so erzählen gerade die kleinen, unauffälligen und versteckten Gebäude von den Details, die Geschichte so spannend machen.

Titelbild

Gerrit Engel: Berlin. Architektur 1230 bis heute.
Schirmer/Mosel Verlag, München 2009.
278 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783829603782

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