Sternerhellung

Über die Werkausgabe von Nelly Sachs

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises an die jüdische Dichterin Nelly Sachs im Jahr 1966 ist ihr vor allem lyrisches Werk nie ganz aus den Buchhandlungen verschwunden. Vor allem der Sammelband „Fahrt ins Staublose“, der 1961 zuerst bei Suhrkamp gedruckt wurde, ist Ende 2005 in inzwischen sechster Auflage erschienen. Doch wer bislang daran interessiert war, sich mit dem Gesamtwerk der Dichterin zu beschäftigen, musste sich mit der mühsamen Zusammenstellung etlicher Einzelausgaben behelfen.

Schon Mitte der 1990er-Jahre hatte Günter Holtz den erfolglosen Versuch unternommen, eine Nelly-Sachs-Werkausgabe auf den Weg zu bringen, was am damaligen Widerstand der Nachlassverwalter gescheitert war. Gut fünfzehn Jahre später hat sich die Situation grundlegend gewandelt: Da sich am 12. Mai 2010 der Todestag von Nelly Sachs zum 40. Mal jährt, erscheint nicht nur eine in ausdauernder Vorarbeit hergestellte Werkausgabe, sondern wird die Dichterin auch mit einer großen Wanderausstellung geehrt, die am 25. März 2010 in Berlin eröffnet worden ist. Die von Aris Fioretos herausgegebene Begleitmonografie „Flucht und Verwandlung“ kann zugleich als umfassende biografische Ergänzung des neu präsentierten literarischen Œuvres gelesen werden.

Die Werkausgabe wird insgesamt vier Bände umfassen, von denen die ersten zwei Bände mit dem lyrischen Werk von Nelly Sachs erschienen sind. Während der erste Band die Gedichte der Jahre von 1940 bis 1950 enthält, bietet der zweite Band die Gedichte der Jahre von 1951 bis 1970. Bereits hier stellt sich die Frage, wo das lyrische Jugendwerk zu finden ist, eine Frage, die der Hauptherausgeber Aris Fioretos im „Nachwort“ des ersten Bandes erläutert. Als maßgeblich müsse in diesem Punkt der Wunsch der Dichterin gelten, die verfügt habe, wie Walter A. Berendsohn schon in der zweiten Sachs-Festschrift (1966) ausführte, dass „ihr ganzes Werk fortgelassen [werden solle], das vor 1940 in Deutschland entstanden ist.“ Fioretos ergänzt diesen Wunsch im „Nachwort“ sogar noch, indem er anführt, Nelly Sachs habe überdies bekundet, dass dieses vor 1940 entstandene Werk nicht einmal bibliografisch nachgewiesen werden möge.

Dass sich Fioretos zumindest an den zweiten Teil dieser Vorgabe nicht gehalten hat, ist insofern erfreulich, als die Werkausgabe eine Übersicht über Nelly Sachs’ „Veröffentlichungen vor Mai 1940“ präsentiert. Aber auch wenn die Charakterisierung der Gedichte als „verträumte[s] Frühwerk“ beziehungsweise als Dokumente ihrer „epigonale[n] Schaffensperiode“ gerechtfertigt sein mag, ist es bedauerlich, dass der Leser vor allem keinen Einblick in die Zyklen „Biblische Lieder“ (1934) und „Lieder vom Abschied“ (1937) erhält, da es doch, wie es an späterer Stelle im „Nachwort“ heißt, „deutliche thematische und motivische Kontinuitäten zwischen Früh-, Haupt- und Spätwerk gibt“.

Ungeachtet dieses Einwands ist es zunächst sehr zu begrüßen, dass die Werkausgabe viele ‚neue‘ Gedichte von Nelly Sachs abdruckt. Neben den Texten aus den zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtbänden findet sich eine große Zahl bisher unveröffentlichter Gedichte, die ihrerseits bestimmten Zeiträumen zugeordnet oder zu Zyklen gruppiert sind. Dabei wird beispielsweise ersichtlich, dass den bisher bekannten Texten aus der Sammlung „In den Wohnungen des Todes“ (1947) eine Reihe von Zyklen vorausgehen, die Anfang der 1940er-Jahre in Schweden entstanden sind.

Die kommentierte Ausgabe liefert dem Leser nicht nur ein neues, umfangreicheres Bild des lyrischen Œuvres von Nelly Sachs, sondern stattet ihn zusätzlich mit differenzierten Sachinformationen aus. In Ergänzung zu dem übergreifenden Nachwort ist jeder größeren Gedichteinheit eine eigene Einführung vorangestellt, die den Entstehungskontext erläutert. Darüber hinaus verzeichnet der Kommentar summarisch die Archive, in denen Gedichte der jeweiligen Einheit lagern. Die vielfältigen und hilfreichen Stellenkommentare zeugen sichtbar von dem Bemühen, die oftmals erläuterungsbedürftigen Gedichte zumindest in Teilen ‚aufzuschließen‘.

Ob es allerdings eine glückliche Entscheidung gewesen ist, die „Texte […] getreu der letzten, von der Dichterin genehmigten Fassung“ abzudrucken, mag dahingestellt sein. Gewiss lassen sich für dieses editorische Verfahren gute Gründe finden, nur hat es den Anschein, als habe das die unausgesprochene Konsequenz gehabt, alle Gedichte, die bis 1959 in eigenständigen Sammlungen veröffentlicht wurden, getreu der Textgestalt des umfassenden Sammelbandes „Fahrt ins Staublose“ (1961) zu edieren. Auch für diese Entscheidung ließen sich wiederum gute Gründe finden, nur bleibt darauf hinzuweisen, dass im Impressum von „Fahrt ins Staublose“ zu lesen ist: „Wo der hier gebotene Text von dem der Erstausgaben abweicht, handelt es sich um Änderungen, welche die Dichterin selbst vorgenommen hat.“

Nun wird mit der Neuausgabe das Ziel verfolgt, jeweils auch die Varianten in „anderen Manu- beziehungsweise Typoskripten“ sowie „in früheren Druckfassungen“ zu verzeichnen. Sofern zu einem Gedicht beispielsweise Separatdrucke in Zeitschriften vorliegen, wird dieser Nachweis an entsprechender Stelle geboten, auch wenn die oftmals wiederholte Auskunft, es lassen sich „Abweichungen in der Interpunktion und im Versumbruch“ feststellen, wenig aussagekräftig bleibt. Freilich ist einzuräumen, dass variante Textstellen durchaus vermerkt werden und dass die Neuausgabe nicht an den Maßstäben einer Historisch-kritischen Ausgabe gemessen werden darf.

Dennoch bleibt ein Problem im Raum, das mit der Entscheidung für die Fassung letzter Hand zusammenhängt: Die Unterschiede in der Textgestalt, die zwischen den Gedichten der eigenständigen Sammlungen bis 1959 – gemeint sind: „In den Wohnungen des Todes“ (1947), „Sternverdunkelung“ (1949), „Und niemand weiß weiter“ (1957) und „Flucht und Verwandlung“ (1959) – und den dazu teilweise varianten Gedichten der Sammlung „Fahrt ins Staublose“ bestehen, werden nirgends dokumentiert. Zweifellos ließe sich mit dieser Differenz leben, würde in den jeweiligen Einführungen zu den vier Sammlungen nicht der Eindruck erweckt, die präsentierte Textgestalt entspräche der originalen Textgestalt dieser Sammlungen. Dass dem keineswegs so ist, soll ein Beispiel verdeutlichen.

Die vierte Strophe des Gedichts „Auch der Greise“, das sich im ersten Zyklus der Sammlung „In den Wohnungen des Todes“ findet, steht in der Erstausgabe von 1947 in Anführungsstrichen. In der Sammlung „Fahrt ins Staublose“ von 1961 fehlen diese Anführungsstriche, und ebenso fehlen sie bei der Wiedergabe des Gedichts im ersten Band der vorliegenden Neuausgabe. Diese offensichtliche Differenz wird im Kommentar schlicht übergangen: Weder gibt es einen Hinweis auf die Druckvorlage noch auf den Unterschied, der gegenüber dem Erstdruck besteht. Vielmehr suggeriert die Einordnung der abgedruckten Fassung letzter Hand in die Rubrik „Veröffentlichte Gedichte 1947-1949“, als würde hier die Textgestalt der Erstveröffentlichung präsentiert, was schlichtweg nicht der Fall ist.

Wird darüber hinaus stichprobenartig das berühmte Gedicht „In der Flucht“ aus der vierten Sammlung „Flucht und Verwandlung“ (1959) zur weiteren Prüfung herangezogen, behauptet der Kommentar zunächst, die Variante, die 1950 im „Merkur“ erschienen ist, biete „keine Leerzeile nach v. 2“. Doch weder die „Merkur“-Variante noch die Fassung aus „Fahrt ins Staublose“, die in diesem Fall mit der Textgestalt in „Flucht und Verwandlung“ identisch ist und die im Rahmen der Neuausgabe präsentiert wird, bieten eine Leerzeile nach dem zweiten Vers. Dennoch gibt es eine variante Textgestalt von „In der Flucht“, die nach dem zweiten Vers eine Leerzeile besitzt: Es ist eine Reinschrift des Gedichts von Nelly Sachs, die Paul Kersten in seiner kommentierten Nelly-Sachs-Bibliografie (1969) als Faksimile abgedruckt hat. Diese Variante wird jedoch im Kommentar nicht erwähnt.

Außerdem stimmen die ebenda zitierten zwei Auszüge aus Briefen von Nelly Sachs an Hilde Domin nicht mit der angegebenen Quelle überein. Im Gegensatz zu der Vorlage, der von Birgit Lermen und Michael Braun herausgegebenen Monografie „Nelly Sachs. ‚an letzter Atemspitze des Lebens’“ (1998), werden die Briefe konsequent ohne Kommata wiedergegeben. Und schließlich bleibt der Hinweis unberücksichtigt, den Hilde Domin im Rahmen ihrer „Doppelinterpretationen“ (1966) anlässlich des dort aufgenommenen Gedichts „In der Flucht“ gegeben hat. Sie erwähnt in einer Anmerkung Nelly Sachs‘ Brief vom 27. Januar 1966, der bei Lermen und Braun nicht abgedruckt ist, der aber weitere Erläuterungen dieses Gedichts enthält. Diese liefert der Kommentar nicht.

Um nicht missverstanden zu werden: Dass nun endlich die literarischen Werke von Nelly Sachs in einer Ausgabe vorliegen beziehungsweise bald vorliegen werden, ist äußerst begrüßenswert. Dass diese Ausgabe zudem als kommentierte Ausgabe angelegt wurde, ist angesichts der über etliche Archive verstreuten unveröffentlichten Arbeiten von Nelly Sachs sehr verdienstvoll. Daher gebührt den Herausgebern schon aus diesen Gründen doppeltes Lob. Gleichwohl lassen sich editorische Grundsatzentscheidungen – wie insbesondere die textliche Darbietung der Fassung letzter Hand – durchaus diskutieren. Unschön sind freilich die daraus resultierenden Konsequenzen, da die vorgelegte Sachs-Werkausgabe auf lange Sicht die letzte Sachs-Werkausgabe bleiben wird. Wer die originale Textgestalt der vor 1961 veröffentlichten Gedichtsammlungen kennenlernen will, ist nach wie vor auf die Lektüre der Erstausgaben verwiesen.

Titelbild

Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Gedichte 1940-1950.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
344 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783518421567

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Nelly Sachs: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Gedichte 1951-1970.
Herausgegeben von Ariane Huml und Matthias Weichelt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
426 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783518421574

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