Ein Herrscher tritt ab

Jean Amilas Abgesang auf einen der Großen der Unterwelt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er trägt seine hierarchische Position im Namen, Lecomte, der Graf, und er ist ein Herrscher in der Pariser Unterwelt, eine Berühmtheit, eine Legende. Immer wieder ist er in kritische Situationen geraten, aber er hat sie nicht nur überlebt, sondern ist aus jeder von ihnen stärker hervorgegangen als zuvor. Sein Körper ist gezeichnet von dieser Karriere. Er trägt seine Narben dabei als Siglen seiner Größe und Unüberwindlichkeit. Lecomte ist unbestritten – zumindest solange es ihn gibt.

Aber in seinem Roman „Die Abreibung“ erzählt Jean Amila die Geschichte vom Untergang Lecomtes. Nach längerer Abwesenheit kehrt dieser nach Paris zurück, um dort für Ordnung zu sorgen und seine Angelegenheiten zu regeln. Dabei will er unter anderem ein paar Geschäftspartner zur Ordnung rufen, die zwar sein Geld genommen haben, aber die Gegenleistung vermissen lassen. So etwas geht nicht, und so etwas kann der Graf nicht mit sich machen lassen. Spricht sich das herum, ist er seine Position schnell los.

Deshalb kümmert er sich höchstpersönlich um die Angelegenheit, lässt sich von seiner Geliebten und seinem Adlatus Roger zu den Geschäftsräumen seiner Partner fahren, um dann aber allein loszugehen. Er ist immer noch Manns genug, es kleinen Gaunern zu zeigen – wie man es eben kleinen Gaunern zeigt in der kriminalen Welt im Paris der 1950er-Jahre.

Die Routinesache läuft aber aus dem Ruder, es kommt zu einer Schießerei, dabei wird einer der kleinen Gauner erschossen, der zweite kann fliehen, Lecomte bleibt angeschossen und vermeintlich tot zurück. Roger, der vor dem Laden gewartet hat, wähnt den Chef tot, und statt sich der Sache gleich vor Ort anzunehmen, gibt er Fersengeld.

Besser nicht gesehen werden am Schauplatz der Schießerei. Besser die Situation gleich nutzen und die eigenen Interessen endlich durchsetzen. Denn mit dem Tod des Grafen ist ein kurzes Intermezzo eingeläutet, solange wenigstens, bis das allgemein bekannt geworden ist. Bis dahin glaubt Roger, im Namen des alten Chefs auftreten und absahnen zu können. Und vielleicht lässt sich mehr aus der Angelegenheit machen.

Er sucht sich einen Partner in der Halbwelt der Clubs, versucht die trauernde Hinterbliebene auf seine Seite zu ziehen und macht sich auf die Suche nach dem Flüchtigen. Denn der könnte seinen Plan einfach dadurch unterbinden, dass er den Tod des Grafen allgemein bekannt macht. Schauplatz aufräumen und Zeugen um die Ecke bringen, danach schnell kassieren und sich in Position bringen – so lautet der Plan.

Aber so wie der Plan des Grafen nicht aufgeht, geht auch der von Roger in die Binsen. Sein Partner liebäugelt mit einem Alleingang, die Ex des Grafen ist misstrauisch, der flüchtige Kleingangster hat Zuflucht bei einer anderen Gruppe gefunden – und Lecomte ist nicht tot.

Der Graf schleppt sich in ein Krankenhaus gegenüber und wird hier einer Notoperation unterzogen. Das Fiasko kann beginnen. Ab jetzt überstürzen sich die Ereignisse.

Bandenkriege und Nachfolgekämpfe entwickeln sich binnen weniger Stunden. Nachdem klar ist, dass der ehemalige Anführer noch lebt, wollen Roger und Kompagnons ihn aus dem Krankenhaus rausholen. Durch einen dummen Zufall aber bekommt die Polizei Wind von der Sache und mischt sich auch noch kräftig ein. Ab da geht alles den Bach runter.

Es kommt zu heftigen Schießereien zwischen den verfeindeten Gangsterbanden, Roger und Lecomte versuchen jeder für sich aus dem mittlerweile von der Polizei umstellten Krankenhaus zu fliehen, und am Ende kommt alles so, wie es kommen muss. Das schlimmste aller Enden tritt ein.

Amila verbindet diese rasant und konsequent erzählte Gangstergeschichte mit den Schicksalen einer Reihe von jungen Schwesternschülerinnen, die gerade in dieser Nacht ihre erste Nachtschicht haben. Intellektuelle Überforderung, ihre jeweilige, meist provinzielle Herkunft, die Lustlosigkeit der diensthabenden Ärzte – das Krankenhaus selbst ist kaum als Hort einer guten Gesinnung zu sehen. In anachronistischen Gebäuden untergebracht, ist es streng hierarisch strukturiert. Die Kleinen sollen klein gehalten werden, wer die Chance zum Aufstieg hat, setzt sich mit Ellbogen so gut wie es geht durch, und jeder ist sich selbst der Nächste.

Die Motivationen der Krankenschwestern sind demnach so unterschiedlich wie möglich: die Chance zum sozialen Aufstieg, keine Lust zu etwas Besserem und das Fehlen einer Alternative. Diese kleine Krankenhausgesellschaft ist kein humanitärer Ort, sondern eine Überlebensschule.

Amilas gelingt es in seinem kleinen Roman also, zweierlei miteinander zu verbinden: Einen straff strukturierten Gangsterroman in bester Tradition der hard-boiled-Krimis amerikanischer Prägung (oder eben doch der französischen série noir) und eine kritische Sozialstudie über das Leben in einem Krankenhaus aus der Perspektive der neueinsteigenden Schwesternschülerinnen. Das wirkt, so beschrieben, befremdlich. Bei der Lektüre jedoch zeigt sich, dass Amilas Roman große Qualitäten aufweist und mit großer Konzentration und Souveränität geschrieben wurde.

Titelbild

Jean Amila: Die Abreibung.
Helm S. Germer.
Conte-Verlag, Saarbrücken 2009.
185 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783936950960

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