Doppelte Böden und magische Momente

Ali Smith spielt in ihrem Erzählband „Die erste Person“ mit den Vorgaben des Genres

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eudora Weltly sagt, Kurzgeschichten problematisieren oft, was ihre ureigensten Anliegen sind, und genau das macht sie interessant.“ Dies ist eins von über einem Dutzend Schriftstellerzitaten zum Thema Kurzgeschichte, die Ali Smith in der ersten Geschichte ihres Erzählbandes „Die erste Person“ über knapp zwei Seiten aneinanderreiht. Sinnigerweise heißt diese Geschichte „Wahre Kurzgeschichte“ und sie ist nicht die einzige, die Metatext in Reinform enthält („Kurzgeschichten wollen lang sein“, lautet zum Beispiel der erste Satz von „Die dritte Person“), aber hier macht sie die Theorie quasi zum Hauptthema: Die Protagonistin sitzt in einem Café und am Nebentisch unterhalten sich zwei Männer über den Unterschied zwischen Roman und Kurzgeschichte, eine Debatte, die die Ich-Erzählerin und ihre kranke Freundin am Telefon weiterführen.

Interessant ist dies durchaus – zum Beispiel, wenn Smith den Mythos um die Nymphe Echo als „eine der frühesten literarischen Manifestationen dessen“ bezeichnet, „was wir heute Anorexie nennen“ – aber es ist nicht unbedingt das, was man in einer Erzählung erwartet. Erwartungen zu unterlaufen ist jedoch ein Markenzeichen dieser Autorin, in deren Geschichten oft das Mysteriöse, ja Gespenstische in die Realität einbricht, aber Gespenstergeschichten (oder mystery novels) sind es nicht.

So findet eine Frau beim Einkaufen ein Kleinkind in ihrem Einkaufswagen, das sie notgedrungen mitnimmt, weil niemand ihr glauben will, dass es nicht ihr Kind ist. Das Kind (Engelsgesicht, glockenhelles Stimmchen) stößt in makellosem Standardenglisch chauvinistische Floskeln aus (vorzugsweise sexistische Witze) und die Protagonistin bleibt nichts anderes übrig, als es selbst wiederum in einen Einkaufswagen (aus)zusetzten.

Eine Frau verschwindet im Kino hinter der Tür eines „ungesetzlichen“ Notausgangs – zwischen Brandschutztür und der Tür nach draußen, die beide von diesem verbotenen Zwischenraum aus nicht zu öffnen sind. Oder: Ein Paket ohne Absender (und eigentlich auch ohne richtige Adresse) bricht in den Alltag zweier Frauen ein, seine Herkunft bleibt so rätselhaft und bedrohlich wie sein schmuddeliger, übelriechender Inhalt, den die Frauen kaum wieder loswerden.

Eine Qualität dieser Erzählungen macht aus, dass es Smith gelingt, ganz beiläufig, oft gerade in Nebensträngen, Personen oder Ereignisse heranzuzoomen und in wenigen Sätzen einen ganz alltäglichen und doch schicksalhaften Moment zu beleuchten. „Die dritte Person“ versammelt mehrere dieser Sequenzen – der Mann, der begreift, dass seine Beziehung zu Ende geht und der glaubt, es liegt an seiner Art, Gemüse zu schneiden, oder der Mann, der eine Katze verscheucht und sich dann grämt, weil er glaubt, ein Kind halte ihn für grausam. Dass diesen Sequenzen quasi als „Motto“ der Satz „Kurzgeschichten müssen lang sein“ vorangestellt ist, verweist auch auf den augenzwinkernden Humor der Autorin und ihren Gefallen daran, mit Vorgaben zu spielen. Oder wie es in „Fidelio und Bess“ heißt (als Antwort auf den Vorwurf: „Du kannst die Sachen nicht einfach umschreiben, weil dir das Spaß macht oder sonst was“ in einem Gespräch über Kultur/Kunst): „Genau genommen kann ich alles machen, was mir gefällt, sage ich.“

Die Geschichten von Smith irritieren oder sperren sich sogar gegen Lese-Erwartungen, aber sie belohnen die LeserInnen mit doppelten Böden (beziehungsweise Wänden), mit einer Vielschichtigkeit, die den Alltag aufbrechen lässt und den Blick schärft für ganz alltägliche magische Momente. Für Kostbarkeiten wie die Freundschaft zwischen der Protagonistin der „wahren Kurzgeschichte“ und ihrer schwer kranken Freundin. Und nicht nur für diese Erzählung gilt, was Alice Munro (die ebenfalls von Ali Smith zitiert wird) sagt: Jede Kurzgeschichte besteht im Grunde aus zwei Kurzgeschichten.

Titelbild

Ali Smith: Die erste Person.
Übersetzt aus dem Englischen von Silvia Morawetz.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009.
171 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630873107

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch