Von weißen Nächten und dunklen Städten

In seinem Roman „Nachtsaison“ entführt Christoph Meckel den Leser in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir sind aus dem Stoff, aus dem Träume gemacht sind,“ legt William Shakespeare seiner Figur Prospero in „The Tempest“ in den Mund. Das trifft auch auf die Geschichten und Protagonisten in Christoph Meckels „Nachtsaison“ zu. Dass der Leser aber die Buchdeckel nicht mit Wohlgefühl wieder zuklappen kann, liegt daran, dass der Autor sein Material aus Wach-, Wahn- und Fieberträumen schöpft. Und derartige Träume haben es an sich, die Trennlinie zwischen den Welten zu sabotieren, die die meisten Nachtträume doch zulassen. Die Beunruhigung, die Meckels Geschichten auslösen, ist so subtil wie wirkungsvoll, weil eben jene saubere Grenzziehung fehlt.

Da gibt es zum Beispiel die namensgebende Geschichte „Nachtsaison“. Ihr Protagonist ist der etwa neunzehnjährige Toby, der weder sein genaues Geburtsdatum kennt noch die Stadt, in der er lebt. Verwickelt in Guerilla- und Bandenkämpfe ist sein einziger Halt die geliebte Schwester. Folgt man dem Lebensweg der Geschwister, so wird schnell deutlich, wie relativ Realität und Traum tatsächlich sind. Was wirklich geschieht und was die Figuren glauben, was geschehen ist, stimmt nie ganz überein. Falls die Frage überhaupt gestellt wird, falls überhaupt versucht wird, diese Kluft zu schließen. Die einzige Sicherheit ist: Die Stadt existiert, Toby existiert, seine Schwester existiert. Dinge geschehen einfach und den Individuen bleibt als einziges Handlungsmuster die Reaktion.

Nicht viel anders ist es in den übrigen Geschichten. Da wird etwa ein Interview mit einem Untoten geführt, stehen sich Protagonisten mit den sprechenden Namen Dreckiger Jakob und Frierender Franz gegenüber, die in ihrer Absurdität an Samuel Becketts Vladimir und Estragon erinnern, wird ein Reisender in einer fremden Stadt erst entführt, um dann gleichsam verloren zu gehen. Da spalten sich Erzählfiguren in mehrere Personen, lassen sich Figuren vom Tod suchen, statt ihn zu finden. Meckels suggestiv-poetische Sprache nimmt dem Leser dabei Stück für Stück, Seite für Seite die Sicherheit: Hier herrscht die Wirklichkeit, dort regiert der Wahn, hier liegt der sichere Boden der Tatsachen, dort befindet sich der schwankende der Imagination. Was ist die morbide Fantasie, was die banale Realität? Meckel gibt dem Leser keine klare Antwort – nur ein vielschichtiges Buch.

Titelbild

Christoph Meckel: Nachtsaison. Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446230491

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch