Master of Suspense

Über Adrian Weibels Studie zur Spannungserzeugung in den Filmen von Alfred Hitchcock

Von Lars KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lars Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die audiovisuelle Emotionsforschung hat sich in den letzten Jahren zu einem produktiven Zweig der Film- und Fernsehwissenschaft entwickelt. Grundsätzlich sind dabei zwei Forschungsrichtungen zu unterscheiden: Einer tendenziell eher medienpsychologisch beziehungsweise kommunikationswissenschaftlich geprägten Fokussierung auf empirische Untersuchungen über die Rezeption von Medienangeboten steht eine eher medienkulturwissenschaftlich adressierte Forschungsperspektive gegenüber, die nach dem emotionalisierenden Potenzial von Medienangeboten fragt. Diese zweite Form der Medienanalyse unternimmt den Versuch, die kulturellen Codes zu rekonstruieren, mit Hilfe derer in audiovisuellen Medienformaten Emotionen repräsentiert, kommuniziert und reflektiert werden. Insofern als hierbei die Einsicht dominiert, dass narrative Angebote zur Identifikation mit den Figuren eines Films oder einer Fernsehserie bei der Emotionalisierung der Zuschauer von großer Bedeutung sind, bewegt sich die von Adrian Weibel 2008 vorgelegte Dissertation über „Spannung bei Hitchcock“ im Zentrum der aktuellen Forschungslandschaft.

Weibel unternimmt den Versuch, am Beispiel der Filme Alfred Hitchcocks zu zeigen, wie Spannungserzeugung als Ergebnis der auktorialen Differenzierung zwischen Zuschauerwissen und Figurenwissen funktioniert. Suspense, so wusste Hitchcock in seinen berühmten Interviews mit François Truffaut in den 1960er-Jahren zu formulieren, stellt sich dann ein, wenn die Zuschauer die glimmende Lunte des Sprengsatzes sehen, der die nichts ahnenden Teilnehmer einer Frühstücksgesellschaft zu töten droht. Bei dieser rudimentären Einsicht in die Technik der narrativen Spannungserzeugung, die sich als Form eines lustvollen, gleichsam zwischen Gewissheit und Ungewissheit changierenden Aufschubs der Informationsübertragung im Dreieck von auktorialer Bild- und Tonregie, handelnden Figuren und Zuschauer realisiert, bleibt Weibel allerdings nicht stehen. Ziel seiner Arbeit ist es vielmehr, die Lücke zu schließen, die sich zwischen „der Nachfrage nach einer filmpraktischen Nutzung von Hitchcocks Spannungsstrategien und deren kategorialer Erfassung“ auftut. Was damit auf den ersten Blick als eine Handreichung für angehende Tatort-Regisseure missverstanden werden könnte, erweist sich auf den nachfolgenden rund zweihundert Seiten der anregenden Studie als eine solide narratologische Beschäftigung mit den verschiedenen Ausdifferenzierungen der Spannungstechnik im Werk Hitchcocks, die sich sowohl im filmischen Untersuchungsmaterial gut auskennt, wie sie auch die Ergebnisse der Forschungsliteratur zur Frage der dramaturgischen Spannungserzeugung mit ihren Hauptunterscheidungen zwischen Suspense (= der Zuschauer weiß mehr als die Protagonisten), Surprise (der Zuschauer wird ebenso wie die Protagonisten vom Fortgang der Dinge überrascht) und Mystery (im Sinne des „whodunit“ ist die Frage nach dem zugrundeliegenden Akteur der Verwicklungen zentral) analytisch sinnvoll weiter führt. Wer Weibels in der genauen Analyse von filmischen Einzelszenen gewonnen Erkenntnisse über die Gestaltung von Handlungs-, Beziehungs- und Wissensgefügen nachvollzieht, weiß danach zu beschreiben, wie die Fesselung der Zuschaueraufmerksamkeit in Hitchcocks Filmen funktioniert und warum bestimmte Filmpassagen besonders zu fesseln vermögen.

Wenn die Einschätzung Weibels Arbeit trotz dieses Erkenntniszugewinns nicht rundherum positiv ausfällt, dann hat dies vor allem drei Gründe. Zum einen ist die Frage zu stellen, wie weit in der Analyse der Spannungsgenerierung die Engführung von Plot- und Erzählverfahren auf die Inszenierung unterschiedlicher Informationsniveaus wirklich trägt. So ist zu überlegen, ob auch im eingeschlagenen Analyseverfahren des Nachvollzugs der dramaturgischen Prozessierung von Informationen nicht deutlicher zwischen der Zugänglichkeit und Medialität der diegetischen Wissensinhalte zu unterscheiden wäre. Die Beurteilung des Rezensenten tendiert dazu, diesem Aspekt eine sehr viel größere Bedeutung beizumessen, als Weibel dies tut. Zu bedenken wäre dementsprechend, dass der Film als Medium ganz eigene Praktiken der Codierung von Informationen mit sich führt, die auf der Ebene von Bild und Ton andere Register ziehen als nur jenes der diskursiven Wissenskonstellierung zwischen Zuschauer und Filmfiguren. Hier wäre – gerade im Hinblick auf den Aufhänger „Hitchcock“ – ganz entschieden eine audiovisuelle Metaphorologie zu entwickelt, die – so die in vielen Einzelaspekten hilfreiche Studie von Slavoj Zizek zu Hitchcock – auch die Konsultation psychoanalytischer Theorieangebote nicht zu scheuen hätte.

Darüber hinaus – dies als zweiter Kritikpunkt – berücksichtigt Weibel den in Hitchcocks Filmen inkludierten Genre-Diskurs nur in Ansätzen. Versteht man Genres als konventionalisierte Erzählverfahren, die den Plot gemäß wiedererkennbarer Grundpositionen organisieren, dann verlieren die Zuschauer ihren Status als naive Beobachter und rücken in eine Expertenposition, welche den Fortgang der Ereignisse mit manifesten Erwartungen begleitet. In diesem Sinn wäre für eine umfassende Analyse der filmischen Spannungsbögen sicher auch zu berücksichtigen, inwiefern Hitchcocks Filme die Genres „Kriminalfilm“, „Spionagefilm“ und „Film Noir“ um- beziehungsweise weiterschreiben und wie sich dieses Verfahren gegenüber den genrekonventionell geschulten Erwartungshaltungen der Zuschauer verhält.

Ein dritter Kritikpunkt richtet sich eher gegen den Aufbau von Weibels Arbeit, der freilich nicht zuletzt auch dem „Genre“ Dissertation geschuldet ist. Die Flut an Binnendifferenzierungen im Analyse-Setting – alleine das rhizomatisch anmutende Inhaltsverzeichnis nimmt einen Raum von rund sechs Seiten ein – macht es dem Leser sehr schwer, einen Überblick im Dickicht der nachgeordneten kategorialen Unterscheidungen zu behalten. Hier hätte zumindest ein die Einzelergebnisse zusammenführendes Schlusskapitel zur Steigerung der Lesefreundlichkeit beigetragen.

Im Ergebnis stellt sich Adrian Weibels Studie „Spannung bei Hitchcock“ als ein produktiver Beitrag zur filmwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Master of Suspense dar, der allerdings vom Leser ein hohes Maß an „Kategorientoleranz“ und spannungsenthaltsamer Disziplin verlangt. Die medienkulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Aspekt der filmischen Spannungserzeugung kommt damit gleichwohl ebenso wenig an ein Ende wie die nach wie vor anhaltende Re-Lektüre des filmischen Œuvres von Hitchcock.

Titelbild

Adrian Weibel: Spannung bei Hitchcock. Zur Funktionsweise des auktorialen Suspense.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
251 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826036811

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