Kein stiller Sämann

Günter Brakelmann berichtet über das ungewöhnliche und mutige Leben des Helmuth James von Moltke

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Krieges klang es wie eine ferne politische Vision. Zwar würde Deutschland schließlich unterliegen, jedoch Teil eines vereinigten Europas werden, in dem das eigene Übergewicht und das des Nachbarn Frankreichs aufgehoben sein würden. Noch ehe Hitlers Armeen in den Weiten Russlands entschwunden waren, entwarf der junge Völkerrechtler und Kriegsverwaltungsrat in der Abteilung „Abwehr“ des OKW, Helmuth James von Moltke, im April 1941 ein für seine Zeit ungewöhnliches Szenario. Darin sollte nach der Vorstellung des engagierten Regimegegners ein militärisch demobilisiertes Europa zu einer großen Gemeinwirtschaftsorganisation umgestaltet werden, die von einer „intereuropäischen Wirtschaftsbürokratie“ geleitet und in kleinere Selbstverwaltungskörper unterteilt sein würde.

Seine Überlegungen zu einer Neuordnung Deutschlands und Europas bildeten schließlich die geistige Grundlage zu weiteren erstaunlich präzise ausgearbeiteten Thesen, die der unmilitärische Urgroßneffe des älteren Moltke in den folgenden zwei Jahren zusammen mit einem Dutzend enger Freunde und politischer Weggefährten auf seinem schlesischen Gut in Kreisau entwickelte.

Ebenso wie sein wohl bester Freund Peter York von Wartenburg oder Adam von Trott zu Solz war der am 11. März 1907 geborene Moltke gewiss kein typischer Vertreter des preußischen Landadels. Dies lag offenbar in seiner immer schon die engen Landesgrenzen überschreitenden Familie, denn auch der siegreiche Feldherr der Einigungskriege, der selbst eine junge Engländerin heiratete und dessen Vater wiederum als Offizier lebenslang in dänischen Diensten gestanden hatte, war ja nur eine „preußische Akquisition“ aus dem benachbarten Mecklenburg. Diesem Beispiel folgte auch sein Großneffe, Namensvetter und Erbe des bescheidenen Kreisauer Gutes. Im Jahre 1905 ehelichte Moltke im südafrikanischen Pretoria Dorothy Rose Innes, die Tochter eines hohen britischen Juristen. Dessen Gattin war eine engagierte Vorkämpferin für die Rechte der Frauen. Bis zu ihrem frühen Tod in Jahre 1935 sollte Dorothy von Moltke die prägende Persönlichkeit für ihren Sohn Helmuth James sein, während sein eher verstiegener Vater sich in den letzten Dekaden seines Lebens als Missionar und Heilpraktiker der Christian Science betätigte und in dieser Funktion oft lange Reisen unternahm.

In seiner zum 100. Geburtstag Moltkes erschienen Biografie geht der Bochumer Historiker und Theologe Günter Brakelmann ausführlich auf diese ersten prägenden Dekaden im Leben seines Protagonisten ein und zeichnet ein facettenreiches Bild des geistigen und politischen Klimas der späten Weimarer Republik. Dabei erstaunt, dass schon der junge Jurastudent nicht nur beachtliche Kontakte zu den politischen Größen der untergehenden Weimarer Republik aufbauen konnte, sondern bald auch enge Beziehungen zur britischen Politik knüpfte, wobei seine dringenden Warnungen vor einer verhängnisvollen Appeacement-Politik gegenüber Nazideutschland meist ungehört verhallten.

Brakelmann skizziert im ersten Teil seines Buches das Bild eines ungewöhnlich weit blickenden jungen Mannes, den man am besten als geborenen homo politicus bezeichnen könnte. Trotz seines anfänglichen Entsetzens, dass sich die Weimarer Ordnung nach Hitlers Machtergreifung innerhalb kürzester Zeit auflöste und sich die Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit begeistert dem neuen totalitären Staat unterwarfen, entschloss sich Moltke im Lande zu bleiben. Ob dieser Entschluss einem besonderen Verantwortungsgefühl gegenüber seinen Landsleuten entsprang, denen er doch als halber Brite und Kosmopolit so fremd war, oder eher aus seiner weitsichtigen Einschätzung zukünftiger Rassenkonflikte in seinem Zielland Südafrika entsprang, kann auch Brakelmann nicht schlüssig beantworten. Moltkes Weg in den Widerstand vollzog sich schließlich parallel zur zunehmenden Radikalisierung eines Krieges, den Hitler und seine Offiziere von Anfang an als rasseideologischen Vernichtungskrieg geplant hatten. Als Völkerrechtler in der Abwehrabteilung des Admirals Wilhelm Canaris besaß Moltke einen realistischen Eindruck von der steten Verschärfung der faschistischen Kriegführung und versuchte auf seinen zahlreichen Reisen zu Wehrmachtsbefehlshabern in Skandinavien oder im besetzten Westeuropa willkürliche Geiselerschießungen zu verhindern. Allein dieser Aspekt im Leben Moltkes, auf den Brakelmann auch immer wieder zurückkommt, hätte eine eigene Studie verdient.

Ausführlich widmet sich der Autor dann der Kreisauer Zeit, in Moltke und sein politischer Freundeskreis versuchten, eine schlüssige Antwort auf die Frage zu geben, was nach der sich immer deutlicher abzeichnenden Niederlage des „Dritten Reiches“ aus Deutschland werden würde. Gerade in diesem entscheidenden Abschnitt seiner Biografie, der die eigentliche politische Größe seines Protagonisten herausarbeiten soll, verliert Brakelmanns Darstellung deutlich an Qualität. Seitenweise zitiert er die verschiedenen Positionspapiere, die Moltke und seine politischen Vertrauten im Laufe der drei geheimen Tagungen in Kreisau entwickelten. Als Leser wundert man sich mehr und mehr, dass dieser fast seminarhafte Betrieb unter den Augen einer misstrauischen Gestapo in einem sich totalisierenden Krieg überhaupt solange ungestört ablaufen konnte. Vor dem Hintergrund eines in Schutt und Asche sinkenden Europas und der gleichwohl unerschütterten Macht der Nationalsozialisten haben die akademischen Überlegungen des Kreisauer Kreises und vor allem Moltkes langer Attentismus in der Frage eines politischen Attentats auf Hitler etwas unwirklich Biotopisches. So fragt man sich wiederholt, ob es sich der politische Widerstand angesichts eines sich rasch schließenden Zeitfensters wirklich noch leisten konnte, wie im tiefsten Frieden mit den Vertretern der katholischen Kirche etwa über die Gestaltung eines konfessionsübergreifenden Religionsunterrichtes in einem zukünftigen Deutschland zu debattieren. Auf seinen vielen und ausgedehnten Reisen gelang es Moltke zwar, so gegensätzliche Weltsichten wie die der Gewerkschaften und Kirchen in einem auf den ersten Blick stimmigen Konzept zu amalgieren, doch angesichts der trostlosen Kriegslage und der konstanten Zurückhaltung der Alliierten wirken Moltkes Bemühungen letztlich wie ein Kampf gegen Windmühlen.

Dient es wirklich dem Anliegen einer kritischen Biografie, wenn Brakelmann sich weitgehend darauf beschränkt, die entscheidenden Positionen und ihre geistige Genese zu referieren? Gerade in diesem Punkt vermisst man eine kritische Einschätzung des Autors, ob die angestrebte Neuordnung Europas in einem dezidiert christlichen Geist tatsächlich jemals hätte umgesetzt werden können. War nicht die Epoche der Massenkultur längst über derartig retrospektive Vorstellungen uneinholbar hinweg geschritten?

Auch wäre von einem kritischen Biographen zu fragen gewesen, ob Moltke überhaupt das moralische Recht hatte, seine eigene junge Familie ins Unglück zu stürzen, nur um ein verstocktes Volk zu retten, das sich in seiner nationalistischen Verblendung auch nicht helfen lassen wollte. Verfing sich Moltke damit nicht selbst in dem alten Paradigma des von ihm und seinen Getreuen so vehement bekämpften Machtstaates, indem er die Politik einmal mehr über das Private stellte? Zur vollständigen Beurteilung von Moltkes Persönlichkeit hätte seine politisch verbrämte Neigung zu Selbstsucht und Selbstdarstellung unbedingt hinterfragt werden müssen. So zitiert Brakelmann reichlich aus Moltkes nachdenklichen und gefühlvollen Briefen an seine Frau, übersieht aber ihren gänzlich verlogenen Tenor, denn tatsächlich bedeuteten ihm Frau und Kinder nichts. Die Wahrheit steckt stets im Handeln, nicht in Worten.

Zum Schluss aber gerät Brakelmanns Darstellung vollends zur Hagiografie, wenn er seinen Helden vor den Schranken des Volksgerichtshofes wie einen christlichen Märtyrer erscheinen lässt, der ungebeugt und mit gefestigtem Glauben dem Satan die Stirn bietet. Aus der Todeszelle schrieb Moltke kurz vor seiner Ermordung nicht ohne einen Anklang von Stolz an seine Frau: „Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der Einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss.“

Er sei wie ein „stiller Sämann“ über das Feld gegangen, hatte er noch selbstgewiss im Oktober 1944 geschrieben, nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler und der Verhaftung der meisten seiner politisch Vertrauten „Der Samen aber, den ich gesät habe, wird nicht umkommen, sondern wird eines Tages seine Frucht bringen, ohne dass irgendjemand wissen wird, woher dieser Same kommt und wer ihn gesät hat.“ Was ist also das Bleibende dieses fraglos bemerkenswerten Lebens?

Brakelmann hat sich einer Antwort, die seiner Biografie überhaupt erst einen Abschluss gegeben hätte, von vorne herein verweigert. Sein Text bricht unmittelbar nach der Beschreibung von Moltkes Tod in Plötzensee am 23. Januar 1945 ab. Auch ein kurzer Epilog über das publizistische Wirken der Amerikanerin Dorothy Thompson kann dieses Manko nicht ausgleichen, ebenso wenig wie der angehängte Brief aus der Gestapo-Haft an sein Kinder, die ihren Vater nie wieder sehen sollten.

Von dem Sämann Moltke ist jedoch außer einem reichlichen Nachlass nichts geblieben, ebenso wenig wie von den anderen Sämännern, die gemäß dem von Freya von Moltke überlieferten Diktum Heinrich Müllers, dem Stellvertreter Himmlers, auf keinen Fall überleben durften. Die fast vollständige Vernichtung einer ganzen Klasse von Politikern und Regimegegnern war das tatsächliche und dauernde Vermächtnis des Nationalsozialismus. Man ist daher wenigstens versucht, sich einmal die Geschichte Nachkriegsdeutschlands unter maßgeblicher Mitwirkung dieser Männer und Frauen vorzustellen.

Titelbild

Günter Brakelmann: Helmuth James von Moltke. 1907-1945. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
432 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406554957

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch