Eine große Erzählung

René Girard über das Ende und den Anfang der Gewalt

Von Robert ZwargRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Zwarg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das wird uns eine Menge Zeit kosten“, so lautet die Antwort René Girards auf die erste Frage eines Gesprächsmarathons mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort, der seit 2009 in Buchform vorliegt: 520 Seiten stark und neu übersetzt. Ohne Zweifel hat es viel Zeit gekostet – was sowohl für die Teilnehmenden des Gesprächs, ihre späteren Überarbeitungen und nicht zuletzt die Leser und Leserinnen gilt. Denn mit Girard gibt es einen Denker, der sich dem „Ende der großen Erzählungen“ (Lyotard) ganz bewusst verweigert; einer der wenigen, dessen Theorie noch aufs Ganze zielt. Das signalisieren bereits die Großbegriffe, denen er sich in diesem Gespräch und den entsprechenden Büchern jeweils widmet: Gewalt, Religion, Hominisation. Für die Leidenschaft aber auch das Pathos, mit denen Girard immer wieder betont, nichts Anderes als eine umfassende Theorie menschlicher Kultur geliefert zu haben, ließen sich viele Beispiele anbringen. Am bezeichnendsten vielleicht ist jedoch das dem Buch vorangestellte Zitat aus dem Matthäus-Evangelium. Girard geht es um nichts weniger als die Ergründung dessen, „was seit der Grundlegung der Welt verborgen ist“.

Eine Aufzeichnung des Gespräches, das in den Jahren 1975-1977 geführt wurde, erschien 1978 erstmals in Paris. 1983 wurde eine stark gekürzte Fassung auf Deutsch veröffentlicht. Es changiert zwischen langen Passagen Girards und den meist affirmativen Einwürfen oder Fragen von Lefort und Oughourlian. Mögliche Kritiken werden im Modus des „Man könnte einwenden…“ vorgebracht, um dann von Girard umso eindrucksvoller widerlegt zu werden. Wie in jeder großen Erzählung wiederholen sich bestimmte Thesen und Begriffe bis an den Rand des Redundanten, wenngleich der Charakter des Gesprächs dafür sorgt, dass diese Reiterationen nicht so störend sind, wie sie es in einem durchkomponierten Schriftwerk wären. Dem Status eines umfassenden Einblicks in Girards Denken tut dies jedenfalls keinen Abbruch.

Das „Ende der Gewalt“ – unklar ob es der Titel konstatiert, voraussagt oder herbeischwört – kann als das anvisierte Telos seines Denkens bezeichnet werden. „Der definitive Gewaltverzicht ohne Hintergedanken wird sich uns als conditio sine qua non des Überlebens der Menschheit überhaupt und eines jeden von uns aufdrängen.“ Was hier in unerschütterlicher Zuversicht zum Ausdruck gebracht wird, steht durch die Rede vom „Menschheitsverhängnis“ im Untertitel freilich unter skeptischen Vorzeichen. Als das Gespräch geführt wurde, bestimmte vor allem die nukleare Bedrohung im Kontext des Kalten Krieges Girards Überlegungen. Dies wird dort deutlich, wo sich die Gegenwart in den Text hineindrängt und sich Girard von dem kaum zu fassenden Punkt der Menschwerdung aus und aus den Zeiten archaischer Opferpraktiken heraus ins Jetzt begeben muss. Gewalt ist eine der großen Konstanten in Girards Theorie. Sie ist ein anthropologisches Faktum; an keiner Stelle wird Gewalt soziologisiert – wie in Jan Philip Reemtsmas jüngst erschienener Studie „Vertrauen und Gewalt“ – und auch von Historisierung lässt sich nur insofern sprechen, als ihr historischer Ursprung in längst vergangene Zeiten verlegt und sie in eine tendenziell unaufhebbare intersubjektive Konstellation eingebunden wird.

Diese Konstellation firmiert bei Girard unter dem Begriff der Mimesis. Mit ihr sollen sowohl alle Lern- als auch alle Rivalitätsmechanismen zwischen Menschen bezeichnet werden. Der – konzeptionell überraschend ans Ende des Buches gestellte – dritte Teil des Gesprächs gibt über diese Zusammenhänge Auskunft, verbunden mit einer scharfen Kritik konkurrierender Erklärungsmuster, allen voran der Psychoanalyse. Vor allem aus dem Studium französischer Literatur hatte Girard seine Mimesis-Theorie entwickelt. Dieser zufolge richtet sich unser Begehren nicht auf das Objekt selbst, sondern ist in erster Linie durch ein anderes Subjekt und dessen Verhältnis zu eben diesem Objekt vermittelt. Dieser Dritte vermittelt uns die Möglichkeiten uns mit dem Objekt der Begierde ins Verhältnis zu setzen. Genau diese Konstellation ist die Quelle ständig wiederkehrender Rivalitäten und Gewalt – bei Girard heißt das „mimetische Krise“.

Die Zentralität des mimetischen Begehrens wird in mythisch-archaischen Praktiken – den Grundformen des Religiösen – nicht nur offengelegt (hier verweist Girard auf ethnologisches Material), sondern das Religiöse ist auch diejenige Instanz, die durch Verbote die mimetische Rivalität in Schach hält und es mittels des Opfers vermag, die aus der mimetischen Krise resultierende Gewalt zu bannen. Dies geschieht in einem jeder Kultur und allem Religiösen zugrundeliegenden Gründungsmythos, bei dem die Gemeinschaft einen aus ihren Reihen tötet. So wird die Gewalt entdifferenziert, konzentriert und schließlich in rituellen Formen domestiziert. Der Schutz der Gemeinschaft vor dem Chaos, das die Gewalt darstellt: das sind die Girards Theorie zugrundeliegenden normativen Maßstäbe.

Dass gemeinschaftliches Gewaltpotential damit nicht aus der Welt verschwindet, zeigt Girards Analyse der Verfolgungstexte, also jener Zeugnisse, die Aufschluss geben über historische Formen der kollektiven Gewalt gegen Einzelne und Minderheiten. Eindrücklichstes Beispiel ist hier der traditionelle Judenhass, den Girard über alle Schattierungen und Veränderungen des Phänomens hinweg unter den Vorzeichen einer Sündenbocktheorie liest. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass dem Begriff des „Sündenbocks“ eine zentrale Stellung in Girards Denken zukommt. Während die Verfolgungstexte die Gewalt vom Standpunkt des Täterkollektivs einsichtig machen, besteht die christlich-jüdische Tradition darin, aus der Sicht des Opfers zu sprechen und von dieser Warte aus zum absoluten Gewaltverzicht zu mahnen. Um an dieser Hypothese festzuhalten, muss Girard nicht nur die Schrift von kirchlich-institutioneller Praxis trennen, sondern auch eine Großteil des Gesprächs darauf verwenden, in den alt- und neutestamentarischen Texten sowohl die Offenlegung der mimetisch bedingten Gewalt als auch deren Kritik nachzuweisen. Dies soll durch eine „sakrifizielle Lesart“ geschehen, die Girard allen anderen Interpretationen – atheistischen oder theologischen – als unversöhnlich gegenüberstellt. Diese besteht darin, jeweils den Opfermechanismus, das Zusammenrotten gegen einen Einzelnen als Lösung der mimetischen Krise, in den Mittelpunkt zu rücken. Durch die Erwählung des Opfers wird dieses gleichzeitig aus der Masse herausgehoben und – ob gewollt oder ungewollt – mit einer außergewöhnlichen Macht ausgestattet. So kann Girard auch den Bogen von der archaischen Opferpraxis zur mittelalterlichen Königsherrschaft schlagen. Spätesten an dieser Stelle wird deutlich, dass der Opfermechanismus bei Girard Räume und Zeiten derart zusammenzieht, dass Gesellschaft und Kultur tendenziell zu einer ewig gleichen Konstellation verschwimmen; kreisend um einen schwer begründbaren Gewaltkern im menschlichen Wesen.

Natürlich verweist eine solche Theorie auf ähnliche Entwürfe: Rudolf Otto hatte mit seiner Schrift über „Das Heilige“ bereits versucht, als das Wesen der Religion nicht das Gute, sondern vielmehr das Schreckliche nachzuweisen, das mysterium tremendum. Sigmund Freud wiederum wies in „Totem und Tabu“ dem Opfer – inszeniert im Mythos des Vatermordes der Urhorde – und in „Jenseits des Lustprinzips“ der quasi-rituellen Wiederholung eine zentrale Funktion für die Entstehung von Kultur zu. Darüber hinaus steht Girard bei aller evoziert Singularität seiner Theorie in einer an Durkheim orientierten Tradition, deren Zugang zu Mythos und Archaik darin bestand, diese gerade nicht als bloße Phantastik und Irrationalismus abzutun. Doch Girard geht in seiner bescheiden als Fundamentalanthropologie überschriebenen Theorie über all diese Entwürfe hinaus – oder bleibt hinter ihnen zurück. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Haltung des katholischen Denkers René Girard zur Religion. Denn während die meisten der oben genannten Denker – abzüglich Ottos – auf eine Entmythologisierung sowohl archaischer als auch religiöser Praktiken zielen, ist bei Girard die Religion gerade die „unwahrscheinlichste Quelle“ der Entmythologisierung.

Zwar unterscheidet sich eine Lesart von einer traditionell theologischen, doch muss die heilige Schrift trotzdem als das genommen werden, was sie ist und das heißt gerade nicht zu fragen, inwiefern in ihr selbst schon Rationalisierungen am Werk sind. Dies wird zum Beispiel dort deutlich, wo Girard die Überzeugung des Urchristentums von der Unschuld Jesu Christi für bare Münze nimmt, statt in ihr selbst – wie man mit Christoph Türcke argumentieren kann – einen die Geschichte verzerrenden Umgang mit einem traumatischen Ereignis zu sehen. So beeindruckend die schiere Menge von Girards Material auch ist, sein Denken ist an vielen Stellen exegetisch und gerade nicht entmythologisierend oder – wie man es auch nennen könnte – ideologiekritisch. So bleibt schließlich sowohl die Kritik an der Moderne, die in nicht mehr als einer pazifistischen Forderung besteht, als auch ihre Analyse defizitär. Angesichts des islamistischen Terrors drängen sich zwar an Girard anschließende Interpretationen auf – das Selbstmordattentat als sakralisierte Gewalt –, doch viel erklärt ist damit noch nicht. Wenn das der Preis ist, den ein Denken, das sich dem Ende der großen Erzählungen widersetzen möchte, zu zahlen hat, dann ist er zu hoch.

Titelbild

René Girard: Das Ende der Gewalt. Analysen des Menschheitsverhängnisses.
Übersetzt aus dem Französischen von August Berz.
Herder Verlag, Freiburg 2008.
520 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783451293856

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