Die Kunst, die Liebe und die Dunkelheit

Martin Beyer über die Geschwister Trakl und das Werden von Künstlern

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mutmaßungen, Spekulationen und mehr oder weniger seriöse Theorien über die Beziehung zwischen dem Dichter Georg Trakl und seiner Schwester Grete gibt es zuhauf. Von Obsession ist da gerne die Rede, von Fixierung und einem inzestuösen Verhältnis. Vielerlei wird da herausgelesen aus den Dichtungen und Briefen des großen Bruders, der seiner kleinen Schwester nicht nur geschwisterlich verbunden gewesen sein soll. Wie ist es denn nun wirklich gewesen, mögen sich der interessierte Leser, der Biograf und der Literaturwissenschaftler gleichermaßen fragen. Um es kurz zu machen: Martin Beyers Roman „Alle Wasser laufen ins Meer“ beantwortet diese oft gestellte Frage nicht – in jedem Fall nicht definitiv.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ja, im Zentrum des Romans stehen das dichterische Werden von Georg und seine Beziehung zu Grete, der hübschen, klugen, eigenwilligen, ebenso künstlerisch veranlagten Schwester. Aber diese Beziehung wird auch immer von der Gegenseite und von außen betrachtet, wird gebrochen durch den (fremden) Blick von Eltern, Freunden wie Erhard Buschbeck oder Förderern wie Ludwig von Ficker.

Den Rahmen des Romans bildet ein Brief Gretes aus dem Jahr 1917, den sie aus Berlin an den mittlerweile verstorbenen Bruder richtet. Dazwischen wird in Episoden das Leben der beiden Geschwister von Sommer 1906 bis Winter 1914 erzählt, in dem Trakl seinen frühen, selbstgewählten Tod in Galizien findet. Die ersten künstlerischen Gehversuche der Geschwister kommen zur Sprache: Georg versucht sich als Dichter, Grete als Klavierspielerin. Ahnungen werden wach, wie es um ihre Beziehung zueinander wirklich bestellt ist – Ahnungen, auf die Grete impulsiver reagiert als Georg, der vor dem Körperlichen in jeder Hinsicht flieht.Beyer zeichnet ein eindringliches Bild davon, wie die beiden nach Entfaltung des eigenen Potentials streben, immer im Kampf mit den inneren Dämonen, die entweder die künstlerische Vollendung oder den Sturz in den Abgrund verheißen. Die nur vollständige Hingabe, Resignation oder Untergang des Individuums erlauben.

All das vermittelt Beyer in einer schlichten und doch eindringlichen Sprache, für die er sich seine Hauptfigur selbst zum Vorbild genommen zu haben scheint. Wie Trakl darum kämpft, seine Gedankenwelt auf die notwendigsten, treffendsten Worte zu reduzieren, die suggestivsten Bilder für den lyrischen Ausdruck zu finden, wird durch die Wortwahl des Autors erfahrbar. Die Gefühlswelt von Georg und Grete, ihre Exaltationen und resignativen Zustände, ihre Exstasen und melancholischen Stimmungen durchdringen den Text subtil und gerade darum sehr überzeugend.

Beyer betritt mit seinem Roman über die Geschwister Trakl ein schwieriges Terrain. Doch der Autor macht seine Sache gut, und das hat nicht allein damit zu tun, dass er sich gleichsam juristisch absichert. Auch wenn der Roman auf historischen Personen und authentischen Dokumenten beruht, heißt es vorweg, ist er doch ein fiktives Werk, getreu der Maxime, dass Literatur fast alles dürfe. Neben dieser Absicherung besteht der eigentliche Kunstgriff Beyers aber darin, viele Stimmen sprechen und Lücken bestehen zu lassen, doch zugleich nie allzu offensichtlich den schwankenden Boden der Spekulation zu betreten. So wie das gelebte Leben nie der geschriebenen Biografie entspricht – jede Biografie ist Auswahl, Verdichtung, eine Erzeugung von manchmal irreführender Kohärenz – so verfällt Beyer nie dem Bedürfnis zu sagen: So war es. Seine Haltung ist mehr das überzeugende „Vielleicht“.

In diesem Sinn ist „Alle Wasser laufen ins Meer“ gleichermaßen ein künstlerischer Roman wie ein beeindruckender Künstlerroman, der sowohl als Abhandlung über Trakl als auch als eigenständiges Werk überzeugt. Anders gesagt muss man weder die Biografie des Dichters noch die seiner Vertrauten kennen, um sich von Beyers Roman einfangen zu lassen. Und im besten Fall will man nach der letzten Seite das eine große Gedicht, das Trakls gesammeltes lyrisches Werk letztendlich ist, dann (noch) genauer kennenlernen.

Titelbild

Martin Beyer: Alle Wasser laufen ins Meer. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009.
239 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783608936094

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