Zweite Testreihe

Der Tagungsband „Wir sind Experimente: Wollen wir auch sein!“ erforscht die Bezüge zwischen schöner Literatur und Experiment zwischen 1790 und 1890

Von Urs BüttnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Urs Büttner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In drei Bänden geht Michael Gamper, SNF-Förderprofessor an der ETH Zürich, mit seinen Mitarbeitern Martina Wernli und Jörg Zimmer chronologisch den Bezügen zwischen schöner Literatur und Experimentalkultur nach. Nachdem 2009 der erste Band (siehe literaturkritik.de 11-2009) vorgelegt wurde, führt der zweite nun die Untersuchungen im 19. Jahrhundert von der Romantik bis zum Naturalismus fort.

Die Einteilung der Bände folgt dabei den sich verändernden epistemischen Bedingungen der wissenschaftlichen Experimentalkulturen und koevolutiv auch des Literatursystems. Bewegten sich im 17. Jahrhundert Experimentalkulturen in einem Indifferenzbereich zwischen an Buchgelehrsamkeit orientierten Disziplinen und logisch-mathematischen Wissenschaften, die sie um empirische Kenntnisse ergänzten, veränderte sich die Situation im Laufe des 18. Jahrhunderts mit der Selbstreferenzialisierung und Autonomisierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Von nun an beansprucht die Wissenschaft den Alleinvertretungsanspruch für Wahrheitsfragen und dem gegenüber wird die Epistemologie literarischen Wissens unklar. In diesem Sinne darf man den Band als Sondierung der Spielarten literarischen Wissens am Leitfaden ihrer experimentellen Erzeugung verstehen.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts drei mögliche Wechselverhältnisse zwischen Wissenschaft und Kunst. Wie bereits in der frühen Neuzeit gibt es immer wieder Wissensbereiche, die sich unterhalb der epistemischen Standards wissenschaftlichen Wissens bewegen. Dies kann unterschiedliche Gründe haben: Sei es, dass es sich um Erfahrungswissen oder ein Gedankenexperiment handelt, das unterhalb der Verwissenschaftlichungsschwelle bleibt, neue Proto-Disziplinen in der Entwicklung begriffen sind oder es sich um parawissenschaftliches Wissen handelt, das seinen akademischen Kredit verspielt hat. In diesem Bereich gehen sowohl literarische als auch wissenschaftliche Erkenntnisprozesse und Schreibweisen enge Austauschverhältnisse ein. Daneben greift die schöne Literatur wissenschaftlich anerkannte Erkenntnisse auf und reflektiert sie. Zuletzt sind eigenständige künstlerische Anverwandlungen wissenschaftlicher Methodiken, Denkfiguren und Medialisierungsformen zu finden. Diese systematisierenden Überlegungen schickt Gamper dem Band in seinem Einleitungsessay voraus.

Der Eröffnungsaufsatz von Mario Grizelj führt Gampers Überlegungen fort und begründet die Attraktivität des Experimentbegriffs als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Literatur nach 1790. Grizelj geht von einer Kontingenzsteigerung durch die Umstellung auf funktionale Differenzierung aus. Während die (Natur-)Wissenschaft darauf so reagiert, dass sie versucht, Kontingenz methodisch auszuschalten oder zu kontrollieren, strebt die schöne Literatur in die Gegenrichtung, die sich um Kontingenzsteigerung bemüht, und will die gesellschaftliche Kontingenz auszustellen. Für die Wissenschaft bedeutet „Experiment“ in diesem Sinne ein Beobachtungsverfahren erster Ordnung, für die Kunst hingegen eine Beobachtung zweiter Ordnung, die die Beobachtungen erster Ordnungen kontigent setzt. Der Experimentbegriff kann von da aus auf zwei Ebenen fungieren: entweder als Verschleifung, welche die Unterscheidung der Beobachtungsordnungen vernachlässigt und an der Wortoberfläche bleibend zum Umschlagort für verschiedene Wissensordnungen werden kann oder als Umschrift des Wissensbegriffs im Sinne einer Differenz von Einheit und Differenz möglicher Beobachtungsperspektiven. Folgt man Grizeljs Argumentation, dann lässt sich der konventionelle wissenschaftliche „Experiment“- und „Wissens“-Begriff für einen bestimmten Zeitabschnitt leicht systematisch auf den Punkt bringen. Anders hingegen verhält es sich in der Literatur, die auf Pluralisierung und Reflexion dieser Konzepte aus ist. Von daher kommt eine Sondierung des Feldes künstlerischer Experimentalpraktiken gar nicht umhin, Einzelfallstudien anzulegen. Die Auswahl der 19 Beiträge des Bandes ist dabei klug gewählt, insofern sie auf ein möglichst breites Spektrum an verschiedenen literarischen Entwürfen zielt. Exemplarisch sollen hier einige der vorgestellten Spielarten referiert werden: Britta Herrmann zeigt, wie Klassik und Romantik als verschiedene Antworten auf die Pathologien der Empfindsamkeit verstanden werden können. Sie veranschaulicht, wie die Wirkungspoetiken nach 1800 als Therapeutikum verstanden wurden, das unmittelbar die Nerven in spezifischer Weise durch die Literatur stimulieren sollte. Die Erprobung dichterischer Verfahren erscheint in diesem Zusammenhang als „Experimentalphysik des Geistes“ (Novalis).

Roland Borgards zeichnet in seinem Beitrag nach, über welche Diskurszusammenhänge der Proband Woyzeck von der historischen Figur über Psychiatrie- und Rechtsdiskurs vertextet und schließlich zum Dramentext transformiert wird und wie dabei auf jeder Stufe andere Erprobungsverfahren und Erkenntnisinteressen eingesetzt werden.

Jutta Müller-Tamms Beitrag liest die Vorrede zur Johann Wilhelm Ritters „Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers“ als Versuch, die Verfahren des galvanischen Experimentierens am eigenen Körper, von denen die „Fragmente“ berichten, analog als poetisches Textverfahren in der Vorrede als „Autofiktonalisierung“ zu vollziehen.

Martina Wernli liest Jules Vernes „Le Tour du Monde en quatre-vingts jours“ als Technikprüfverfahren. Es geht am Beispiel von Verkehrstechnologien um die Frage, ob der technische Fortschritt in der Praxis wirklich hält, was er verspricht und sich die Erde tatsächlich so schnell umrunden lässt. Interessant ist hierbei die Beobachtung, dass dieser literarische Versuchsaufbau als Herausforderung gesehen wurde und in der Wirklichkeit eine ganze Reihe Herausforderer Phileas Foggs hervorgebracht hat. Die Richtung des Wissenstransfers läuft hier somit anders als üblich ausgehend von der Kunst.

Michael Gamper untersucht in seinem Beitrag Charles Darwins „On the Origin of Species“ und dessen Fortschreibungen in der schönen Literatur. Zunächst zeigt Gamper, wie es Darwin gelingt, fehlende oder unmögliche Evidenz und sein Ungenügen an zeitgenössischen Standards empirisch verfahrender naturwissenschaftlicher Forschung durch rhetorische Strategien und Repräsentationsverfahren auszugleichen. Wenn die Naturwissenschaft ihr Nichtwissen nun durch Fiktionen ersetzt, dann kann dieser Bereich auch ausdrücklich von der schönen Literatur beansprucht werden – und wird dies auch in Formen des Weiterschreibens der Evolutionstheorie, wie Gamper an Raabe einleuchtend nachzeichnen kann.

Nicolas Pethes nimmt August Strindbergs „Vivisektionen“ genauer in den Blick. Er zeichnet nach, wie die Metapher des Experiments im Naturalismus explizit aufgegriffen wird, um die schöne Literatur gegenüber den Naturwissenschaften epistemisch aufzuwerten.

Gampers Einleitung gipfelt in einer überraschenden Pointe: Er wendet die Einsicht in die Autonomie aller Funktionssysteme zurück auf die Literaturwissenschaft. Er zieht daraus die Konsequenz, dass sie selbst zur Experimentalpraxis werden muss, will sie sich auf die individuellen Versuchsanordnungen in der Literatur mit ihren eigenen Vorstellungen einstellen. Die Herangehensweise muss notwendig erst einmal ergebnisoffen sein. Dies hat zur Folge, dass die untersuchte Literatur nach der Analyse nicht mehr dieselbe ist wie vorher. In diesem Sinne präsentiert sich der Band als eine gelungene Versuchsanordnung. Er fördert gleichsam eine Fülle systematischer Überlegungen zu „Experiment“-Begriffen zu Tage, wie er auch die Vielfalt literarischer Wissenskonzeptionen vorführt. Darüber hinaus verändert er aber auch die Sichtweise auf die interpretierten Einzeltexte, mit denen in anregenden neuen Lesarten experimentiert wird.

Titelbild

Michael Gamper / Martina Wernli / Jörg Zimmer (Hg.): Wir sind Experimente: Wollen wir auch sein! Experiment und Literatur II 1790-1890.
Wallstein Verlag, Göttingen 2010.
442 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835305632

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