„Sag nicht, es ist fürs Vaterland“

Lebendige Menschen statt Denkmäler: Barbara Beuys akribisch recherchierte Sophie Scholl-Biografie

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sophie Scholl war keine 22, als sie am 22. Februar 1943, verurteilt wegen Hochverrats, unter dem Fallbeil der Nazis starb. Wer danach fragt, was die junge Frau in den Widerstand führte, findet zwei Antworten: Die eine ist ein unbändiges Freiheitsbedürfnis. Freiheit der Rede und des Denkens ist ein dominierendes Motiv in den Flugblättern der „Weißen Rose“, die ab Juni 1942 tausendfach in deutschen Briefkästen landeten, „Freiheit“ stand im Februar 1943 als Parole an zahlreichen Gebäuden Münchens. Und „Freiheit“ war es auch, was die Studentin mit zitternder Hand, aber in Großbuchstaben in der Gestapo-Zelle heimlich auf die Rückseite ihrer Anklageschrift schrieb, eine letzte, erst Jahrzehnte später entdeckte Botschaft an die Nachwelt.

Die zweite Antwort erfährt man aus der bislang umfassendsten Scholl-Biografie, die Barbara Beuys jetzt vorgelegt hat. Sie lautet Schuld. Es war die Einsicht, sich wie alle anderen mitschuldig zu machen, sieht man den Verbrechen der Nazis tatenlos zu oder macht dem Regime auch nur das kleinste Zugeständnis, die Sophie Scholl spätestens ab 1938/39 umtrieb. „Die Masse“, schrieb sie etwa im Mai 1940 ihrem Freund Fritz Hartnagel, „ist so überwältigend, und man muss schon schlecht sein, um überhaupt am Leben zu bleiben.“

Um sich in einer – in ihren Augen – durch und durch bösen Welt zu schützen, betrieb sie ein Programm zur Abhärtung und Vergeistigung. Sie vertraue dem Denken, nicht dem Gefühl, ließ sie Fritz wissen, wolle Härte und Klarheit erlangen. Sie verschlang Augustinus, Thomas von Aquin und Søren Kierkegaard. Duschte nur noch kalt, als sie Monate inmitten naiv begeisterter Mädchen beim Reichsarbeitsdienst verbringen musste. Und misstraute einer Liebe, die sich selbst genug sein will, statt auf Gott zu setzen: „Man sollte das Leben eines Mönches führen, ehe man sich hineinstürzt, wohin Gefühl und Begehren wollen“, schrieb sie, die vier Jahre jüngere, ihrem Freund. Ihre Unnachgiebigkeit und bohrenden Fragen ließen den Berufsoffizier zum Kriegsgegner werden und an der Front seinen Glauben wiederfinden. „Sag nicht, es ist fürs Vaterland“, mahnte sie ihn im September 1939, als Hartnagel sich noch auf das „Knallen“ freute.

„Sophie Scholl hat viele Gesichter“, schreibt Beuys in ihrem akribisch recherchierten und vorzüglich lesbaren Porträt: Sie war eine moderne junge Frau, selbstbewusst und mutig, die rauchte, Kunst, Literatur und das Skifahren liebte. Sie lehnte den Krieg von Beginn an ab und sah sogar allein in einer deutschen Niederlage eine Hoffnung für Europa. Aber sie freute sich doch, so bedenkenlos wie Millionen Deutsche in diesen Jahren, über die Warensendungen, die Fritz und ihr Bruder Hans aus dem eroberten Europa schickten – etwa über Strümpfe und Pralinen aus den besetzten Niederlanden oder Kaffee aus Paris. Gegenüber dieser Versuchung in Hitlers „Gefälligkeitsdiktatur“ (Götz Aly) sei die sonst so scharfsichtige Sophie offenbar blind gewesen, stellt die Biografin überrascht fest, deren Darstellung nicht nur an dieser Stelle vom aktuellen Stand der NS-Forschung profitiert.

Mit Werken etwa über Annette von Droste-Hülshoff oder Paula Modersohn-Becker hat Beuys sich einen Ruf als gründliche Biografin erworben. Behutsam und überzeugend relativiert und korrigiert sie die Mythen, die sich um die zu Ikonen des Widerstands verklärten Geschwister ranken, schärft vor allem den Blick für Widersprüche und unbeantwortbare Fragen. Warum etwa besuchte Scholl noch bis zum März 1941, als sie ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin beendete, freiwillig die wöchentlichen BDM-Abende? „Es gibt in jeder Biografie Fragen, wo weiteres Insistieren oder ausschweifende Überlegungen der Klärung um keinen Deut näher kommen“, heißt es einmal in Beuys’ Biografie entwaffnend ehrlich.

Neue Antworten liefert Beuys jedenfalls mehr als genug. Was sie, auf der Grundlage bislang unbekannter Dokumente aus dem Nachlass von Sophies Schwester Inge Aicher-Scholl, darunter Inges Tagebuch aus den Jahren nach 1933 oder Briefe Sophies an ihre Freundin Lisa Remppis, erzählt, ist keine ganz andere Geschichte – aber eine glaubwürdigere. Beuys nimmt den Lesern die Denkmäler und gibt ihnen dafür lebendige Menschen mit ihren Stärken und Schwächen.

Ein Beispiel: Dass sich die Scholl-Geschwister, nach 1933 zunächst für den Nationalsozialismus begeisterten, ist bekannt, ebenso, dass sie in der Ulmer Hitlerjugend Führungspositionen innehatten. Aber wann genau begann ihre Ablösung vom NS-Regime, wann kam es zum erkenntnisstiftenden Bruch? Geschah es tatsächlich Ende 1937, als Hans wegen „bündischer Umtriebe“ in seiner Jungvolkgruppe vorübergehend verhaftet wurde?

Bisherige Darstellungen folgten meist der stilisierenden Darstellung in Aicher-Scholls Klassiker „Die Weiße Rose“ von 1952. Für Sophies ältere Schwester war ihre Zeit beim BDM rückblickend eine „dumme, eigentlich unerhebliche Zwischenstufe“ in ihrem Leben. Beuys macht dagegen deutlich: Die Ablösung der Geschwister von der NS-Ideologie war ein vielschichtiger, langwieriger Prozess, in dem die feinen, sich langsam vergrößernden Risse wichtiger waren als Einzelereignisse. Denn: „Was in den Geschichtsbüchern zum Wendepunkt stilisiert wird, hatte zum aktuellen Zeitpunkt eine andere Gewichtung“, so die Biografin. Bei den so oft angeführten „bündischen Umtrieben“ etwa sei es eher um eine Frage der „Deutungshoheit“ in Sachen der NS-Jugendarbeit gegangen, als bereits um einen definitiven Bruch mit der braunen Ideologie.

Sophies Schuldgefühle nach dem Kriegsausbruch – hatten sie etwas zu tun mit ihrem eigenen Engagement für das Regime, ihrer Zeit als BDM-Führerin, als sie 14-, 15-jährig mit den ihr anvertrauten Jungmädels Hitlerlieder singend durch Ulm zog und Eltern, deren Töchter im Laden helfen mussten, statt zum BDM zu dürfen, die Polizei vorbeischickte? In Sophies Briefen und Tagebüchern findet sich über diese Phase ihres Lebens kein Wort: „Kann es sein, dass Sophie Scholl, die so kritisch gegenüber sich selber ist, diese Zeit verdrängt hat?“, fragt Beuys.

Titelbild

Barbara Beuys: Sophie Scholl. Biographie.
Carl Hanser Verlag, München 2010.
493 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235052

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