Walter Benjamin im Kontext des Wiener Judentums

Zum Konferenzband „Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938“, herausgegeben von Sascha Kirchner, Vivian Liska, Karl Solibakke, Bernd Witte

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vorliegende Buch ist kein typischer Konferenzband. Integriert in die Reihe der „Benjamin-Blätter“ präsentiert diese Publikation neun Beiträge der Sektion „Walter Benjamins Geschichtsverständnis und die Wiener jüdische Erfahrung“ im Rahmen der Internationalen Konferenz „Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938“ im März 2007 in Wien. Der Titel mag die Betonung auf den ersten Teil, auf Walter Benjamin, suggerieren und somit die Frage aufwerfen, was noch eine relativ schmale Publikation zu einer so umfangreichen Walter-Benjamin-Forschung leisten vermag? Die Stärke dieses Bandes besteht darin, dass hier vor dem Hintergrund des Wiener Judentums eine panoramaähnliche Studie mit der Fokussierung auf Benjamin vorliegt. Schicht für Schicht werden Kontexte aufgezeigt, in denen er sich bewegte, von denen er beeinflusst worden war und die später von seinem Werk geprägt wurden.

Die Beiträge „Feuilletonismus Benjamin, Kraus, Heine“ (Bernd Witte) und „Textuelle Begegnung mit Wien – Benjamin und Freud“ (Anja Lemke) veranschaulichen die textuellen Verbindungen Benjamins auf dem Gebiet des Feuilletonismus und der Erinnerungskonzeption. Im ersten Beitrag erwartet den Leser eine fulminante Analyse der Essays „Karl Kraus“ von Benjamin, „Die chinesische Mauer“ von Karl Kraus und dessen Verrisses „Heine und die Folgen“. Ferner wird auch der Text „Beim Bau der chinesischen Mauer“ von Franz Kafka herangezogen. Die komplexe, anspruchsvolle Analyse, gegliedert in sechs thematische Stationen – „Das Schweigen“, „Die Frau“, „Die Apokalypse“, „Das Zitat“, „Das Feuilleton“, „Die Sprache“ – zeigt vielfältige textuelle Bezugnahmen Benjamins und interpretiert seinen Essay über Kraus vor dem Hintergrund dieser Verbindungen. Ein ähnliches Verfahren entwickelt auch Lemke, indem sie Benjamins Auseinandersetzung mit den Schriften Sigmund Freuds analysiert und eine Topografie der Schrift, die an die Stelle der Topografie der Stadt getreten war, entwirft. In der Erinnerungspoetik der „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ Benjamins konstatiert die Autorin den Einfluss der Freud´schen Erinnerungstheorie. Weiterhin demonstriert sie, dass „Benjamin sich der psychoanalytischen Erkenntnis über die Wirkungsweise der Symptome und Träume als Erinnerungssymbole bedient, um sie auf den architektonischen Stadtraum zu übertragen.“ Die Übertragung der Bildkraft in die Sprache, wie sie in „Berliner Kindheit“ beobachtet wird, stünde im Zusammenhang mit dem affektiven Aspekt der antiken Mnemotechnik und Freuds Konzeption des Erinnerungssymbols.

In den beiden Beiträgen „Zu Gustav Mahler, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno: Kunst, Politik und kulturelles Gedächtnis“ (Karl Ivan Solibakke) und „,Der Auserwählte‘ Zur Genese eines zentralen Begriffs der ästhetischen Theologie Arnold Schönbergs“ (Florian Trabert) werden die ästhetischen Konzepte dieser bahnbrechenden Komponisten im Hinblick auf den Messianismus Benjamins analysiert. Solibakke zeichnet nach, wie Gustav Mahler „den epochalen Bruch im Klanggeschehen des ausgehenden 19. Jahrhunderts herbeigeführt und diesen mit dem Erlösungswunsch eines schon dem Tode geweihten, mortifizierten Selbstbewusstseins vereinigt“ hat. Ausgehend von der These, dass Mahler, Benjamin und Adorno sich gleichermaßen des „Material[s] aus dem Archiv der Erinnerungskultur“ bedient hätten, zeigt Solibakke Parallelen in der Bearbeitung dieses Materials in der jeweiligen Schmiede, wobei dem Komponisten Mahler die Hauptaufmerksamkeit des Autors gilt. Auch Trabert widmet sich den ästhetischen Konzepten und untersucht in seinem gut strukturierten Artikel, inwiefern die ästhetische Theologie Schönbergs durch jüdische Vorstellungen geprägt wurde. „Im Zentrum der Analyse steht dabei der Gedanke der Auserwähltheit, der in Schönbergs textgebundenen Kompositionen eine zunehmende Bedeutung erfährt.“ Die Überzeugung Schönbergs, ein Auserwählter zu sein, wird in Zusammenhang mit seinen bahnbrechenden Experimenten in der Kompositionstechnik gesetzt.

Dem kulturgeschichtlichen Kontext wendet sich Anne-Kathrin Reulecke in ihrem Beitrag „Korrespondenz und Kenotaph. Vom Umgang mit den Toten in Walter Benjamins Theorie der Kulturgeschichte“ zu. Dem Beitrag ist ein Exkurs über die Erzählung des jugoslawischen Schriftstellers Danilo Kiš „Enzyklopädie der Toten“ vorangestellt, um auf die Ähnlichkeiten mit Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ zu verweisen. Es wird versucht zu zeigen, „wie Benjamin selbst die Programmatik der Geschichtsthesen in seiner konkreten literatur- und kulturhistorischen Praxis vorweggenommen hat“. Anhand der von Benjamin zusammengestellten und kommentierten Briefsammlung „Deutsche Menschen“ erörtert Reulecke seine kulturhistorische Perspektive gegenüber dem Tod. Die Analyse des autobiografischen Projekts Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ zeigt, wie die Prozesse der Ökonomisierung und Säkularisierung die Sichtbarkeit des Todes und des Sterbens verdrängt haben. Im Hinblick auf die jüdische Herkunft Benjamins wäre die Frage, inwiefern er von dem in der jüdischen Tradition zentralen Gebot des Erinnerns, des Gedenkens geprägt wurde, ein empfehlenswerter Aspekt in diesem spannenden Beitrag.

Der geschichtspolitische und -philosophische Kontext wird in den Beiträgen „,Der Traum vom Erwachen‘ – Zum Verhältnis von Jugendbewegung, Körperkult und Zionismus bei Walter Benjamin“ (Karin Stögner) und „Walter Benjamin: Geschichte als Last und Erlösung“ (Volker Barth) thematisiert. Die Wiener Soziologin Stögner zieht eine Vielzahl Schriften Benjamins heran und analysiert die Bedeutung der Jugendkultur hinsichtlich der Frauen- und Judenemanzipation. Die Autorin entwirft ein ganzes Panorama vielfältiger Zusammenhänge und lässt die Jugendbewegung in einem komplexen gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext erscheinen. Die eindrucksvolle Argumentation, die auf den aktuellen Forschungsstand Bezug nimmt, veranschaulicht, wie sehr die von Benjamin beschworene Hoheit des Geistes eine ganze Epoche geprägt und ihre Entwicklungen in verschiedensten Bereichen bestimmt hatte. Barth setzt sich dagegen mit Benjamins Kritik an der historistischen Geschichtsauffassung auseinander. Diese verortet er in der urbanen Massenkultur der Moderne, deren „prinzipielle[s] Charakteristikum“ er im Verlust von Erfahrungen sieht. Barth erläutert das Benjamin‘sche Verständnis der Geschichte „ als eine Abfolge sich akkumulierender Grausamkeiten“ und exponiert die von jenem ausgearbeitete Aufgabe der Geschichtsschreibung. In diesem Kontext werden die Auflösung der linearen Zeit und die Maxime des Glücks analysiert. Im letzten Teil des Beitrages werden die Theologie und das Messianistische angesprochen.

Zwei Beiträge, der biografische Abriss „Statt eines Vorworts: der Zionist Leon Kellner“ (Bernd Witte) und „Der ‚Anschluss‘ als Ausschluss. Die Zerstörung der philosophischen Schule des Wiener Kreises (1922 bis 1936)“ (Peter Weibel) bilden einen eindrucksvollen Rahmen dieses Bandes und akzentuieren das Thema des Untertitels „das Wiener Judentum“. Wenn Witte den Intellektuellen, Anglisten und Czernowitzer Politiker Leon Kellner als hilfsbereiten und ermutigenden Schwiegervater von Benjamin würdigt, so veranschaulicht Weibel „die Zerstörung und Vertreibung der Vernunft“ aus Österreich und erinnert an die Philosophen und Wissenschaftstheoretiker dieser glanzvollen Denkerschmiede.

Da das Format dieser Publikation auf einen fachwissenschaftlichen Leserkreis zugeschnitten ist, wird der Nicht-Benjamin-Forscher einige einführende Bemerkungen zum Rahmenthema, zur Besonderheit der Fragestellung der Beiträge und zu ihrer Einbindung in den aktuellen Forschungsstand vermissen. Angesichts der Komplexität der behandelten Themen hätte der Leser auch Bemerkungen zur Vorgehensweise im jeweiligen Beitrag begrüßt. Abgesehen davon ist dieser Band eine wertvolle Studie zum Geschichtsverständnis Walter Benjamins und zum Wiener Judentum.

Titelbild

Sascha Kirchner / Vivian Liska / Karl Solibakke / Bernd Witte (Hg.): Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2009.
156 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783826042461

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